ORPHEUS
© copyright Renate Klein, 1999

Erik, der anders Lebende, war gegangen, genau nach zwanzig Jahren hatte er sich mit samt Gefolge klamm und heimlich, ohne Vorwarnung, aus dem Staube gemacht. Nur der graugetigerte Kater kam nach fast drei Jahren für einen kurzen Moment zurück. Als Christina eines Abends, es war schon dunkel, aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, stolzierte er vor ihr her, mit steil nach oben gerichteten Schwanz in Richtung Terrassentür. Sie konnte nur die Umrisse erkennen, alles andere war durchsichtig. Sie hörte dann noch das Klappern der Katzenklappe, dann war der Spuk verschwunden.

Zuerst fühlte sich Christina wie befreit, der ständige Druck, der die ganze Zeit auf ihr lastete, war plötzlich verschwunden. Doch nach einiger Zeit kam die Sehnsucht, sie vermisste ihn. Nie mehr würde er morgens unverhofft in ihr Bett plumpsen, um sich an sie zu klammern. Nie mehr müsste sie seine Attacken über sich ergehen lassen, wenn ihm irgend etwas an ihrem Tun nicht passte. Letzteres hielt sie dann auch davon ab um nachzufragen, ob dieser, sein Entschluss nun endgültig sei. Trotzdem verspürt sie oft eine unendliche Traurigkeit, schließlich sind zwanzig Jahre eine lange Zeit, die sie niemals missen möchte. Ihr war in diesem Moment klar, dass sie ihn niemals wiedersehen würde, es war ein Abschied für immer. Sie waren von nun an getrennt durch Zeit und Raum, doch die Liebe, die sie beide verbindet, bleibt, für immer.


Es begann an einem ganz normalen Sommermorgen im August, genauer gesagt, am 8. August 1976 morgens halb acht, als Christin von einem Geräusch geweckt wurde. Es hörte sich an, als würde jemand versuchen die Tür zu ihrem Schlafzimmer zu öffnen. Das konnte aber kaum möglich sein, da sie sich alleine in ihrer Wohnung befand. Bevor sie aber noch weiter zum Nachdenken kam, spürte sie, wie jemand ihre Bettdecke berührte. Das war ihr nun doch zu mysteriös und sie setzte sich ruckartig auf und öffnete die Augen, aber da war niemand. So blieb sie noch ein Weilchen liegen und döste vor sich hin, bevor sie sich dann doch aufraffte und aufstand. Es war Sonntag und eigentlich hätte sie ausschlafen können, wenn da nicht dieser seltsame Vorfall gewesen wäre. So würde sie heute etwas früher, als geplant im Reitstall bei ihrer Stute Comtes auftauchen. Sie hatte sich zwar mit Freunden erst in drei Stunden verabredet, aber was solls, ihr Sattel und Zaumzeug konnten eine gründliche Putzung vertragen. Genau so wie Comtes.

Sie waren alle so zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahre alt. Christin gehörte zu dem letzten Drittel. Bodo der Jüngste von ihnen mit seinem verrückten Wallach Schiwago, der zu spät gelegt wurde und ab und zu seinen Rappel bekam. Er war der Busenfreund ihrer Stute Comtes. Die beiden liebten sich heiß und innig und waren schwer zu trennen, auch dann, wenn sie von ihrer gemeinsamen Koppel geholt wurden und in den Stall zurück mußten. Jeder in seine eigene Box, versteht sich, aber mit Blickkontakt. Das hielt Schiwago aber nicht davon zurück, seine Tessy, wenn ihn der Koller packte, durch die Gegend zu scheuchen. Einmal, sie war mit beiden in der Reitbahn, um sie ein wenig zu scheuchen, war Schiwago wieder beim Ausrasten. Er jagte mit aufgerissenem Maul ihrer quietschenden Comtes hinterher, so daß es Christin mit der Angst zutun bekam. Sie öffnete schnell die Reitbahn, damit sich ihre Stute vor dem nicht mehr richtig tickenden, hengstigen Wallach in Sicherheit bringen konnte. Alles was zwei Beine hatte, nahm sofort die Verfolgung auf und verteilte sich in allen Richtungen, denn keiner hatte auch nur den blassesten Schimmer, welche Richtung die beiden eingeschlagen hatten. Rannten sie durch den Ort, mitten im Berufsverkehr, oder hatten sie den Weg in Richtung Feld eingeschlagen. Im Geiste stellte sie sich auf totales Chaos ein. Sie sah endlose Autos ineinander verkeilt und dazwischen die verletzten Pferde. Bei dieser wilden Jagt durch den Hof in Richtung Ort wurden dann auch noch beinahe ein paar ahnungslose Eierkäufer umgenietet, die in diesem Moment gerade unvorbereitet um die Ecke kamen und noch unter Schock standen. Wie auf jedem Bauernhof gab es hier nämlich auch jede Menge Hühner, ein paar Schweine und eine Kuh mit ihrem Kalb. Auch ein Esel war vorhanden. Er stand aber etwas abseits, denn mit seinem Geschrei konnte er furchtbar nerven. Auch weigerten sich die Pferde oft deswegen, an ihm vorbei zu gehen. Er war ihnen nicht ganz geheuer. Ende gut, die Ausreißer waren wieder eingefangen, ohne einen Schaden anzurichten. Ihr Schutzengel war gut im Training. Sie waren bis zu einem im Ortskern liegenden HL - Laden vorgestoßen, sicher, um die dort außerhalb liegende vegetarische Rohkost zu überprüfen und zu testen, ob sie in der Qualität und Frische den Werbebeteuerungen des Unternehmens entsprach.

Der Tag war voll ausgefüllt, denn sie hatten einen längeren Ausritt geplant. Es gab da ein Ausflugslokal im Wald für Reiter, wo man die Pferde versorgen und sich stärken konnte. Das war ihr heutige Ziel und Christin vergaß den Vorfall am Morgen. Am späten Nachmittag trotteten dann alle wieder am Ausgangspunkt ein. Nachdem die Pferde versorgt und das Sattelzeug gereinigt war, saßen alle dann noch ein Stündchen bei einer Sektrunde, die hier Tradition hat, beisammen, bevor sich jeder auf den Heimweg machte.

Am nächsten Morgen wiederholte sich dann der Vorfall vom Vortag. Christin wurde wieder durch das Geräusch der Tür geweckt. Als anschließend ihre Bettdecke berührt wurde, rührte sie sich nicht, sie verhielt sich total ruhig, als würde sie nichts bemerken. Dann stieg dieses Wesen mit zu ihr ins Bett, drückte sich an sie und schlang seine Arme um sie. Sie konnte jeden einzelnen Finger wahrnehmen. Nach ein paar Sekunden stand es dann wieder auf und verschwand.

Genau ein Jahr später spürte Christin beim Aufwachen, daß noch jemand in ihrem Bett lag. Als dieser Körper merkte, daß sie aufgewacht ist steht er auf, aber nicht bevor er mit seinem Gesicht über das ihre gestrichen ist, wie bei einer Liebkosung. Da registrierte sie, daß dieses Etwas männlich ist, denn er hatte sich noch nicht rasiert. So bekam er von ihr den Namen Erik, wie das Phantom aus der Pariser Oper.

Da es in den nächsten Wochen und Monaten keine weiteren Vorfälle dieser Art mehr gab, verschwand alles wieder so langsam aus ihren Gedanken.

Inzwischen war ein Jahr vergangen. Genau auf den Tag, denn es war wieder einmal der 8. August 78. Christin wachte auf und befand sich in einem fremden Zimmer. Es war ein hoher, länglicher Raum mit langen, dunklen Fenstervorhängen bis zum Boden. Das Bett stand an der rechten Seite, von der Tür aus gesehen, Kopfende Richtung Fenster.

Sie stand auf, verließ den Raum und war plötzlich in einem großen, hellen Zimmer mit zwei Fenstern und einer Terrasse, vor der ein Baum mit weißen Blüten stand. Um das Haus war eine große Gartenanlage mit vielen Bäumen und Sträuchern, wo gerade zwei Gärtner mit langen grünen Schürzen sich mit dem Blumenbeeten beschäftigten. Sie waren dabei weiße Lilien für die Vasen zu schneiden.

Jetzt erst erblickte sie Erik, er machte sich mit dem Fußboden vor dem Fenster und der Terrasse zu schaffen, riß Streifen für Streifen davon ab. Christin stand in einem langen weißen Nachthemd mitten im Raum und wußte nicht, was dies alles zu bedeuten hatte. Nun gewahrte sie auch Erik und er unterbrach seine seltsame Tätigkeit. Als er ihr ratloses Gesicht sah, versuchte er ihr sein Tun zu erklären.

"Der ganze Boden ist angerostet und muß entfernt werden."

Ihr war das alles ziemlich unverständlich, sie hatte bis daher noch nie etwas über angerostete Fußböden gehört oder gelesen, höchstens von verschimmelten. Auch vernahm sie zum ersten mal seine Stimme, sie war sonor gefärbt und wirkte auf sie sehr angenehm. Nur was sie von sich gab, fand sie recht chaotisch, so wie ihre Existenz in diesem Haus.

Die Gärtner bewegten sich inzwischen mit den Blumen in Richtung Haus, was ihr einen erneuten Schrecken einjagte. Bevor sich aber bei ihr Panik breit machen konnte, wurde sie von Erik beruhigt.

"Die kommen nicht ins Haus, aber für dich wäre es besser, wenn du wieder ins Bett verschwindest."

"Ins Bett"?? - Nun verstand sie überhaupt nichts mehr. Sie war doch gerade erst aufgewacht, es war Tag, die Sonne schien, was sollte sie denn da im Bett? Die ganze Situation, in die sie da geraten war, kam ihr reichlich sonderbar vor. Wie war sie überhaupt in dieses kuriose Haus gekommen, und was sollte sie hier? Bevor sie sich aber weitere Gedanken machen konnte, befand sie sich plötzlich wieder in ihrer vertrauten Umgebung, sie lag in ihrem richtigen Bett. Christin atmete erleichtert auf, es war nur ein Traum gewesen, Gott sei Dank, nur ein Traum. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, daß sie noch weiter schlafen konnte, es war gerade erst mal sechs Uhr, und sie mußte nicht ins Büro. Doch kaum hatte sie die Augen geschlossen, lag sie schon wieder in diesem anderen Bett. Ein Traum mit Fortsetzung!!!

Dieses mal betraten zwei Kinder ihr Zimmer. Ein Mädchen, so um sechs und ein Junge etwa vier Jahre alt, mit einer Geschwulst oder Beule zwischen der Nasenwurzel. Beide Kinder blieben in einer gewissen Entfernung in Türnähe stehen und sahen Christin groß an. Sie gebärdeten sich sehr scheu und ängstlich. An ihrer Kleidung konnte sie erkennen, daß sie in einem anderen Zeitalter lebten, als in Christins ursprünglicher Epoche, nur hatte sie hier auch so ein komisches Hemd an. Sie wollte von ihnen wissen in welchem Jahre sie sich befanden.

"Kinder, welches Datum haben wir heute?"

Keine Antwort.

"In welchem Jahr befinden wir uns?"

Sie blieben stumm, sahen Christin nur groß an.

"Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben, ich bin doch eure Tante."

Sie erschrak selber über diesen Satz, ich bin doch eure Tante. Wie kam sie plötzlich auf diese Idee? Weiter konnte sie nicht mehr denken, denn nun kam Bewegung in die beiden. Sie stürmten zu ihr und es gab einen ziemlichen Tumult, wobei Christin mit samt Bettdecke zu Boden ging. Da war auch schon Rettung in Form eines Kindermädchens in Sicht, das durch den ganzen Wirbel aufgescheucht wurde. Sie hatte ein langes, weites schwarzes Kleid mit kleinen weißen Tupfen und langen Ärmeln mit aufgebauschter Kugel an. Darüber eine lange weiße Schürze mit Rüschen und Flügelärmeln. Sie zog die Kinder aus dem Zimmer und wies sie zurecht. Kurz darauf befand sich Christin zu ihrer Erleichterung wieder in ihrem richtigen Bett.

Was ihr eigenartig vorkam, daß sie während der ganzen Zeit logisch denken konnte, was sonst bei einem Traum nicht üblich ist. Aber schon war sie erneut in diesem, für sie seltsamen Haus. Dieses mal war von den Bewohnern niemand zu sehen, sie war alleine und fing an, die nähere Umgebung zu erkunden. Dabei mußte sie mit Schrecken feststellen, daß dies ja gar kein Traum ist, sie war wirklich in diesem Haus. Sie faßte alles an, um sich zu überzeugen und verließ abermals dieses mysteriöse Zimmer, in dem sie immer wieder landete. Sie ging um die Ecke und was ihr als Erstes auffiel, war eine Treppe mit einem wunderschönen handgeschnitzten Treppengeländer. Sie führte von der Mitte der Diele in einem Linksbogen nach oben. Das Zimmer, aus dem sie kam, befand sich auf der linken Seite, also um die Ecke. Hinter der Treppe ging ein Gang nach rechts. Gegenüber, an der linken Seite hinter der Treppe stand ein Schrank mit Türen aus Bleiglas. Darin befanden sich Gegenstände, wie Gläser, Schalen usw., nichts Außergewöhnliches. In der Mitte des Ganges, der sicher als Notausgang diente, war ein großes Fenster, genauso wie in dem Zimmer. Von dort sah sie hinunter und hatte einen guten Überblick über das ganze Gelände. Sie war also nicht in den unteren Räumen, sondern ein Stockwerk höher und über ihr mußte sich ein weiters befinden. Vor ihr lag eine richtige Parkanlage, mit vielen Bäumen und Blumenrabatten. In weiter Ferne rechts war ein weiteres Haus zu sehen.

Plötzlich fing es stark an zu regnen, ja regelrecht zu schütten. Christin öffnete das Fenster, um eine schwarze dickbäuchige Aktentasche, die vor dem Fenster auf einem Vorsprung stand, herein zu holen. Sie war so naß, daß sie zuerst das Wasser abschütteln mußte. Nachdem sie die Tasche abgestellt, das Fenster geschlossen hatte und in Richtung Treppe zurück ging, blieb sie plötzlich noch einmal vor dem Schrank stehen. Sie wollte wissen, wie sie zu dieser Zeit aussah und suchte einen Gegenstand in Form eines Silbertellers, indem sie sich spiegeln konnte und erschrak fürchterlich. Was ihr da entgegen blickte, war eine Frau von mindestens sechzig Jahren. Sollte sie das sein? Sie wurde sich plötzlich der Situation bewußt, in der sie sich befand. Sie war in eine andere Zeit geraten und das war ganz bestimmt kein Traum, sie war wirklich hier. Was sollte aus ihrer Stute werden, dieses Lebewesen war doch von ihr abhängig und wartete auf sie. Wenn sie jetzt hier nicht mehr weg konnte, wenn man sie hier fest hielt. Panik machte sich breit. Sie mußte hier schleunigst verschwinden, solange dies noch möglich war. Wo waren die anderen denn alle geblieben? Was passiert, wenn sie plötzlich zurück kommen und sie hier vorfinden?

Das Schicksal hatte mit Christin noch mal ein Einsehen. Zu ihrer großen Erleichterung war sie plötzlich wieder in ihrer vertrauten Umgebung. Obwohl erst gerade sieben Uhr, war sie noch nie so schnell aus dem Bett. Nur nicht noch einmal dahin.

Die Sache war ernst, sie mußte etwa dagegen unternehmen. Um sich ihrer Sache ganz sicher zu sein, suchte sie zwei Tage später einen Psychiater auf. Der konnte zwar mit ihren Schilderungen nichts anfangen, vereinbarte aber dann doch mit ihr einen Termin für ein EEG. Damit werden die Gehirnströme gemessen und der Facharzt kann dann feststellen, ob eine Störung vorliegt.

Am späten Nachmittag des nächsten Tages meldete sich dann Christin wie vereinbart, bei der Assistentin. Sie wurde in einen bequemen Sessel mit einer hohen Rückenlehne gesetzt und bekam lauter Saugknöpfe an ihrem Kopf befestigt. Nachdem diese mit dem Apparat verbunden waren, ging es los; die Schwester begann mit ihren Anweisungen.

"Augen schließen, tief atmen.

Augen öffnen.

Augen geschlossen halten.

Tief atmen."

Plötzlich merkte Christin, daß sie keinen Körper mehr hatte. Sie war schwerelos, welch irres Gefühl. Mit einem Male befand sie sich in einer dunklen Röhre. Diese war nicht rund, sondern achteckig und von einem strahlend hellen Rand umgeben. Sie gleitete hindurch, immer weiter und weiter. Abrupt wurde diese Reise beendet. Die Schwester schrie ganz hektisch.

"Machen sie sofort die Augen auf."

Sie begab sich mit dem ausgedruckten Ergebnis dieser Untersuchung total aufgeregt ins Behandlungszimmer, von wo sie nach einiger Zeit mit dem Arzt zurück kehrte. Nachdem sie Christin von der Maschine befreit und das Zimmer verlassen hatte, rannte der Psychiater hysterisch durchs Zimmer mit den Worten.

"So etwas ist mir in meiner langjährigen Praxis noch nicht passiert. Ich kann ihnen nicht helfen, das ist Veranlagung."

So wurde Christin mit ein Paar Beruhigungspillen entlassen. Sie wußte nun, daß in ihrem Kopf alles stimmte, sie hatte keine Halluzinationen oder Wahnvorstellungen. Zwar war sie so schlau wie vorher, nur um eine Erkenntnis reicher geworden. Sie hatte etwas, was andere nicht haben. Das war aber schon alles, damit mußte sie nun leben, aber alleine. Keiner wäre in der Lage, sie zu verstehen. Noch nicht einmal reden konnte sie darüber, wollte sie nicht als Spinner abgestempelt werden.

Christin kann sich nicht mehr so genau an den Tag erinnern, aber es muß im Spätsommer 79 gewesen sein, als sie durch ein Rauschen geweckt wurde. Es war aber nicht das Rauschen von Wasser, sondern das von Wind. Dann ging ein wellenartiges Vibrieren über ihren Körper und sie wurde in einer irren Geschwindigkeit mit den Füßen voran durch etwas hindurch gezogen. Es war ein Gefühl, als würde sie im hohen Bogen durch die Luft fliegen. Alles war hell, bunt und sehr hoch und weit. Sie versuchte sich überall fest zu klammern, was sie in die Finger bekam. Ihr Bett, dann den Schrank, aber sie rutschte überall immer wieder ab. Alles war viel zu groß und glatt. Dieser Zustand ging zwar immer schnell vorbei, wiederholte sich aber bis zu drei mal wöchentlich und sie gewöhnte sich langsam an diese Ereignisse, es machte ihr nichts mehr aus. Es gehörte von nun an mit zu ihrem Alltag, eine Partnerschaft der etwas anderen Art.

Sie drehte nun den Spieß um, und fing an ihre Probleme, die sie nicht lösen konnte oder wollte, auf Erik abzuwälzen und das klappte prima. Sie mußte sich nur auf ihn konzentrieren, was zwar sehr anstrengend war, aber stets klappte. Wenn sie seine Anwesenheit spürte, teilte sie ihm wortlos, nur in Gedanken, ihre Zwangslage, die sie bedrückte mit, und Erik erledigte dann diese Angelegenheit. Er strahlte sehr viel Liebe aus, mit der er sie manchmal fast erstickte. Diese Übungen erstreckten sich über einen längeren Zeitraum, Christin sollte sich an seine Anwesenheit gewöhnen.

Eines Morgens, nachdem er sie wieder durch die Luft katapultiert hatte, ging es eine Stufe weiter. Christin saß klein und winzig auf ihrem Bett und hielt sich an der Bettdecke fest. Es war alles wieder hell, bunt und der Raum war riesig groß und unendlich weit. Da sah sie über sich einen Körper schweben, mit leicht gespreizten Armen und Beinen. Sie konnte nur die dunklen Konturen erkennen, denn er schien sehr weit weg zu sein, und außerdem befand sich zwischen ihr und diesem Körper ein dünner Schleier. Ganz plötzlich, ohne weiter nachzudenken, schoß sie nach oben. Anschließend fand sich Christin mit diesem Körper auf ihrem Bett wieder. Sie lag auf dem Bauch und er auf dem Rücken. Mit ihrer rechten Hand hielt sie sein linkes Handgelenk umklammert und hörte ihn atmen. Bevor sie das aber alles richtig begreifen konnte, war es auch schon vorbei. Sie war eine Lektion weiter.

Nach diesem Vorfall blieb Erik zwei Jahre verschwunden, und Christin vermißte ihn sehr, sie hatte sich an ihn gewöhnt. Auch wenn sie noch so verzweifelt nach ihm rief, er antwortete ihr nicht mehr. Sie konnte sein Verhalten nicht verstehen, warum dieser ganze Aufstand, um dann genau so zu verschwinden, wie er gekommen war? Aber schließlich hatte sie es hier mit einem Anderstlebenden zu tun und da gab es ein anderes Gefühl für Zeit und Raum, als bei den Menschen.

Anfang der achtziger Jahre ging ein neuer Stern am Showbusinesshimmel auf. Er gab zwar schon 1973 sein Debüt, war aber in den Medien noch ziemlich unbekannt, was er aber dann mit Bravour nachholte. Seine erste Fernsehausstrahlung war ein voller Erfolg und sehr vielversprechend. Leider verschwand er nach ein paar Jahren wieder im Nichts und zwar unwiederbringlich. Sie wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß dieser Mensch, obwohl sie niemals mit ihm in nähere Berührung kommen würde, eine entscheidene Funktion in ihrem Leben übernehmen würde, in puncto Erik. Er war der Schlüssel, der ihr hätte weiter helfen können, wenn er gewollt hätte, aber er hüllte sich in totales Schweigen.

Als Christin zum ersten Mal diese Stimme hörte, war sie ihr sofort vertraut. Sie wurde durch sie in eine Zeit versetzt, die sehr lange zurück lag. So sehr sie sich aber auch anstrengte, ihr Gedächtnis streikte, diese Erinnerung mußte aus einer anderen Epoche stammen.

Mit dieser Stimme, konnte sie nun wieder Erik erreichen. Sie benötigte dazu nur den Jammergesang des Orfeos aus dem ersten Akt. Dieser Orfeo wurde gewaltsam von seiner geliebten Euridice getrennt und wollte sie zurück haben. War Erik vielleicht auch so ein Orfeo? Suchte er zur Abwechslung als Toter seine verloren gegangene Gefährtin im Reich der Lebenden?

Unterdessen war es Anfang April 1983 geworden und Christin wartet auf das Fohlen ihrer Stute Comtes, das in den nächsten Tagen zur Welt kommen muß. Dafür hatte sie schon vor Monaten auf einem Bauern-und Reiterhof mit Pferdezucht, eine Abfohlbox gemietet. Dieser Hof war ihr vom hessischen Gestütsverwalter wärmstes empfohlen worden, sonst hätte sie die weite Anfahrtzeit niemals in Kauf genommen. Er lag am Ortseingang und die saftigen Wiesen, durch die ein Bach floß, für die Muttertiere und Fohlen, grenzten an den Wald. Sie lagen zum Teil sogar mitten drin, so daß immer Schatten vorhanden war und auch Schutz vor Wind und Regen, da die Tiere ja nachts nicht herein geholt wurden. Comtes stand nun schon vier Monate dort, damit sie sich an diesen Ort gewöhnen konnte, nun war es endlich soweit. Als Christin nun ein paar Tage vor dem großen Ereignis mit ihr spazieren gehen wollte, war Kajana nicht mehr in ihrer Box. Man hatte sie einfach zu den Reitpferden umgestellt, da eine Stute des Landwirtes kurz vor dem Abfohlen stand. Das wußte der ja nun nicht erst seit diesem Tag, sondern schon seit elf Monaten. Für Christin war das ganz einfach Vertragsbruch und unfaßbar. Schließlich hatte sie diese Box früh genug ausgesucht und bezahlt, aber was wollte sie gegen diese Willkür machen, dieser Mensch saß am längeren Hebel. Sie war sehr wütend und aufgebracht gegen so viel Unverschämtheit, konnte aber nichts unternehmen ohne ihrem Pferd zu schaden. Auf der Heimfahrt, es war inzwischen dunkel und es regnete, rief sie Erik um Hilfe an. Sie war dafür in der richtigen Stimmung. Er sollte diesen unverschämten Kerl, der nur an seine Vorteile dachte und die Rechte der anderen mißachtete, zur Rechenschaft ziehen.

"Nehme ihm dieses Fohlen weg, wenn es geboren ist."

Gab sie ihm zu verstehen.

"Bestrafe ihn für diesen Betrug."

Es kam dann in den nächsten Tagen unter großen Mühen zur Welt und konnte nicht stehen, also auch nicht saugen, denn die Sehnen an den Beinen waren zu kurz. Es mußte mühsam mit der Flasche ernährt werden und wurde ein paar Tage später von seiner Mutter aus Versehen tot getreten. Diese Stute war erst vier Jahre alt und als Mutter noch sehr unerfahren. Sie hatte sich mit drei Jahren verletzt und konnte somit nicht verkauft werden. So wurde sie gedeckt, damit es keinen Verlust gab. Aus diesem Geschäft wurde nun nichts mehr.

Das Fohlen ihrer Stute war ein paar Tage später da, eine kleine Stute ein prächtiges Exemplar und bekam den Namen Kajana. Als das Fohlen für den Transport kräftig genug war, zogen beide auf einen Hobbybauernhof, mit großen Weiden viel Platz und Ruhe, um. Diese Unterkunft hatte ihr Bodo, ein Reiterfreund aus ihrem alten Stall besorgt, er war mit dem Besitzer befreundet. Der hatte aus der alten Mühle einen prachtvollen Pferdehof gemacht. Aus Ackerland wurden Koppelwiesen, alles mit Holz eingezäumt. Drei Ställe waren auch schon fertig, unter ihnen eine Box für Mutter und Kind. Dort zogen nun die Beiden ein. Er war sichtlich stolz auf sein erstes Fohlen, wenn es auch nicht ihm gehörte, was von nun an sich auf seiner Koppel tummelte. Davon sollte es in den nächsten Jahren mindestensnoch eins geben, die Stute dazu hatte er schon und eine zweite war geplant. Außerdem wollte er noch zwei Pferde in Pension nehmen, da liefen auch schon die Verhandlungen, nur waren die Ställe dazu noch nicht fertig. Für das nächste halbe Jahr würde Comtes die Zeit mit ihrer Tochter hier verbringen, dann sollte sie zurück in den alten Stall.

Dort würde sie auch bleiben, denn der war nur fünfzehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Auch ohne Pferd war es da einmal ganz schön, so als Besucher. Am Wochenende wurde meistens gegrillt oder eine Sektrunde abgehalten. Außerdem konnte sie bei den anderen aushelfen, die Pferde auf die Koppel zu bringen oder zu holen.

Einmal im Jahr veranstaltete Christin bei sich eine Terrassenparty und alle kamen dann zu ihr. Ihre Wohnung befand sich am Rand der Siedlung, in der Nähe des Feldes. Da gingen Stadt und Dorf nahtlos ineinander über, daher die fünfzehn Minuten Fußmarsch. Günstiger ging es gar nicht. Es gab dann eine Bowle, diverse Salate und andere Leckereien, und jeder brachte etwas an Getränken mit. Die Feier ging dann bis in den späten Abend und wurde mit Fackeln und Lampions beleuchtet.

An einem späten Samstag Nachmittag im November war Christin gerade dabei ihre Wohnung zu verlassen um kegeln zu gehen, als sie von einer Hausbewohnerin mit den Worten aufgehalten wurde;

"Wissen Sie schon, daß ihre Nachbarin Frau Hartwig spurlos verschwunden ist? Es steht bereits in der Zeitung."

Sie zeigte der fassungslosen Christin den Zeitungsausschnitt mit der Suchaktion. Darin stand, das eine ca. fünfzigjährige Frau verschwunden sei. Sie ist bekleidet mit einem weißen Anorak und litt unter Depressionen. Außerdem hatte sie schon einmal versucht sich das Leben zu nehmen.

Davon hatte keiner im Haus auch nur den Schimmer einer Ahnung, auch Christin nicht. Sie hatte zwar augenblicklich wenig Kontakt zu den Nachbarn, der Beruf und ihr Hobby spannten sie voll ein. Außerdem war ihre Nachbarin in letzter Zeit sehr wortkarg, ja fast schon unfreundlich, ha hielt man sich eben zurück, das ergab sich dann schon von alleine. Daß sie deswegen in psychiatrischer Behandlung war, wurde auch geheim gehalten. Dies wurde erst bekannt, als es zu spät war. Alle Bewohner des Hauses waren erschüttert und machten sich Vorwürfe, aber nun kam alle Hilfe zu spät, vielleicht hätte das Schlimmste verhindert werden können, aber auch nur vielleicht.

Nun begannen die wildesten Gerüchte zu kreisen. Einige Hausbewohner behaupteten sogar, ihr Mann hätte sie umgebracht und unter einer neu angelegten Straße verscharrt. Dies fand Christin aber nun unmöglich, was die Phantasie mancher Menschen doch so alles hervor bringt. Anderthalb Jahre später, im Mai 85, fanden Spaziergänger ihre Überreste im Taunus und anhand ihrer Zähne wurde sie dann identifiziert und auf dem kleinen Friedhof, der zu dem angrenzenden Dorf am Feldrand gehörte, begraben.

Noch im gleichen Monat klingelte es nachts um drei Uhr an Christins Wohnungstür. Als sie öffnete stand ihre Nachbarin vor ihr und bot einen jämmerlichen Anblick. Ihre Haare waren schulterlang und hingen strähnig herunter. Ihre Gestalt war abgemagert und ihr Gesicht hatte einen unendlich traurigen Ausdruck. Christin war sofort bewußt, daß eine Tote vor ihr stand und Hilfe suchte. Aber wie konnte sie ihr helfen? Schließlich überwand sie ihr Entsetzen und umarmte sie. Sie versprach ihr, daß sie jederzeit wieder kommen könne, wenn sie es dort, wo sie jetzt war, nicht mehr aushielte. Komischerweise war das Treppenhaus die ganze Zeit über hell erleuchtet und es huschten irgendwelche Gestalten rauf und runter.

Plötzlich war der Spuk beendet und Christin saß in ihrem Bett. Sie war durch diesen Vorfall so erschüttert, daß sie am ganzen Körper zitterte und lange brauchte, um sich wieder zu beruhigen. Natürlich war nur ihr Bewußtsein an der Tür, ihr Körper blieb wo er war. Ihre Nachbarin ist nicht mehr zurück gekommen, vielleicht konnte Christin ihren Kreislauf durchbrechen, den sie immer wieder durchleben mußte. Keiner hat das Recht, sein Leben selbst zu beenden. Selbstmörder müssen alles wieder und wieder erleben, und wenn sie denken es ist zu Ende, fängt es wieder von vorne an, bis zu ihren vorbestimmten Tod.

Christin arbeitete in der Buchhaltung eines großen Reiseunternehmens. Nun gibt es in jeder Firma Mitarbeiter, die auf Kosten der anderen leben. Sie verstehen es, sich so ins Bild zu setzen, ohne sie geht es nicht. Sie bringen es immer fertig, den schwarzen Peter auf andere abzuwälzen. Solche Mitarbeiter gab es in dieser Firma reichlich, es schien dort ein regelrechtes Nest von ihnen vorhanden zu sein. Um so einen Menschen geht es nun.

Ständig machte er andere madig und schwärzte sie bei der Geschäftsleitung an, wo er als geschätzter Mitarbeiter galt. Dann kam der Tag, wo er sich auch mit Christin anlegte und der Ärger begann. Er fing an sie zu schikanieren und zu bedrohen. Als sie sich nicht mehr zu helfen wußte, rief sie Erik, um sich diesen Kerl vom Halse zu schaffen. Sie sagte ihm wörtlich:

"Laß ihn aus meiner Nähe verschwinden."

Erik nahm diese Aufforderung ernst und erfüllte ihr diesen Wunsch umgehend. Am nächsten Tag erschien dieser Mensch nicht zur Arbeit und Christin atmete auf. Auf Erik war Verlaß. Daß er seine Arbeit so gründlich machte, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Der Kollege hatte einen Gehirnschlag erlitten. Zwei Tage später war er tot.

Jetzt erst fiel seine Maske. Seine angeblich so korrekte Arbeit erwies sich als eine mittelschwere Katastrophe. Das Chaos war perfekt. Alle Fehler, die er immer mit Erfolg vertuscht hatte, kamen nun ans Tageslicht und die Geschäftsleitung, die ihn stets gelobt hatte, war fassungslos über soviel Täuschung.

Mittlerweile war es 1988 geworden und Christin hat in ihrer Wohnung einen Mitbewohner für ein halbes Jahr. Es ist ein Chinese, der in Deutschland zur Weiterbildung ist, ein sehr lieber und einfühlsamer Mensch.

Nun ist die chinesische Kochkunst sehr pikant und weit davon entfernt, was sich da in ihrer Küche abspielte. Da wurden die unmöglichsten Gerichte zusammen gebraut und ihr drehte sich schon bei dem Geruch der Magen um. Das ging schon morgens in stundenlanger Zeremonie los. Reispampe mit viel Wasser, saure Gurken und Würstchen. Sie stand immer erst auf, wenn er die Wohnung verlassen hatte. Dann fing Christin an, ihren Gast auf deutsche Kost umzustellen, was er auch erfreut mitmachte. Zur Belohnung kochte er dann für sie, und sie mußte es dann auch essen. Wenn ein Landsmann von ihm Deutschland verließ, wurde immer mit einer Kochorgie Abschied gefeiert, und das fand dann stets bei ihr statt. Scheinbar wird in China in jeder Region anders gekocht, denn das Essen war immer sehr schmackhaft. Es dauerte nur Stunden, bis es fertig war, und die Küche sah dann jedesmal wie ein Schlachtfeld aus, wurde aber picobello anschließend aufgeräumt.

So war es auch an diesem Augustmorgen, sie hörte ihren Mitbewohner in der Küche herum hantieren, er machte sein Frühstück. Christin wartete, bis sie die Wohnungstür ins Schloß fallen hörte. Es war wieder einmal dieses Datum Anfang August, was ihr aber erst später auffiel. Als sie ihr Schlafzimmer verließ, stolperte sie als erstes über ihren spanischen Sessel, der mitten in der Diele stand, anstatt neben dem Telefon an der Wand. Um ins Bad zu gelangen, mußte sie an der Küche vorbei und wunderte sich, denn da waren plötzlich rotgepunktete Gardinen am Fenster. Auch sonst sah alles ganz anders aus und ihr wurde klar, daß sie wieder einmal die Dimension gewechselt hatte, ohne etwas davon zu merken, einfach so.

Sie ging in ihr Wohnzimmer, auch das war total umgestaltet. Sie traf dort zwei junge Männer, so um die dreißig, und eine ältere Frau mit auffallend vielen tiefen Falten im Gesicht an. Keiner von ihnen war durch Christins Anwesenheit irgendwie irritiert oder erstaunt, so als gehörte sie schon immer zu ihnen. Auf der Fensterbank liefen zwei leuchtend gelbrote Kakadue herum, sie hatten sogar ein rundes Loch in der Scheibe, durch das sie raus und rein konnten. Christin ging zum Fenster und war geschockt, denn sie befand sich in einem Hochhaus, und zwar ziemlich weit oben. Unter ihr lag eine sechsspurige Straße, aber kein einziges Auto war irgendwo zu erblicken. Mit den Menschen ging es ihr genau so, sie schienen unsichtbar zu sein, denn es waren nirgendwo welche zu sehen. Dafür gab es ein wunderschönes Panorama , einzigartig, so etwas hatte sie noch nie gesehen, allein die Farben waren von so unbeschreiblicher Schönheit.

Unmittelbar hinter der Straße stand ein hoher spitzer Felsen in der Höhe eines Hochhauses, mit vielen bunten, hauptsächlich roten Ornamenten darauf.

"Was ist das?" Fragte Christin.

"Das Ömodenkmal." Wurde ihr erklärt.

Damit konnte sie aber absolut nichts anfangen. War sie die ganze Zeit ständig in der Vergangenheit gewesen, so mußte dies die Zukunft sein. Das reinste Kontrastprogramm. Sie war sich voll ihrer Lage, in der sie sich befand, bewußt. Sie befand sich hier als körperloses Wesen, praktisch nur zu Besuch und konnte nichts mitnehmen. Sie hatte keinerlei Beweise, hier gewesen zu sein, auch kein Bild von dieser märchenhaften Landschaft. Kurz darauf wurde alles grau und unscharf, ein Zeichen, daß sie wieder zurück mußte, ihr Ausflug in die Zeit war beendet.

Am 8. August 1989 zerrte Erik Christin wie gehabt wo durch, und sie befand sich anschließend in so einer Art Tunnel. Er ließ ihr dieses Mal, jedenfalls machte es auf sie so den Eindruck, die freie Wahl mitzukommen. Sie entschied sich vorsichtshalber fürs mit gehen. Plötzlich sie in einer Höhle, sie war sehr niedrig und gestaltete sich wie ein langer Schlauch. Sie konnte sich nicht aufrichten, sondern mußte kriechen. Als sie am Ende angelangt war, versperrte ihr ein Schleier die Aussicht nach draußen, und sie schob ihn mit der Hand beiseite. Was sie da zu Gesicht bekam, verschlug ihr fast den Atem. Der Berg fiel steil hinab, da lag tief unten diese wunderschöne kleine Ortschaft. Senkrecht blickte sie auf den Platz hinunter, auf das schwarze schmiedeeiserne Stadttor mit einem Rundbogen.

Unvermittelt plötzlich stand sie dann vor diesem Tor und ging hindurch. Es hatte einen Rundbogen, indem ein Name stand, den sie aber nicht lesen konnte, da er in einer ihr fremden Sprache geschrieben war. Sie kam auf eine große Ebene, die von lauter kleinen bunten Giebelhäusern umgeben war. Der ganze Platz war voll von Menschen und Buden. Die Frauen hatten bunte, mit vielen Rüschen versehende weite Kleider an. Die Männer waren ebenso bunt bekleidet. Sie hatten weiße, besticke Hemden, mit rot- oder blaubestickten Westen und schwarze, rote oder blaue Hosen an. Wie sie später feststellte, handelte es sich da um Trachten, wie sie in Böhmen und Mähren heute noch getragen werden. Sie standen oder saßen alle herum. Es war ein wunderschöner Anblick, diese Szenerie mit den buntgekleideten Menschen und im Hintergrund die farbigen Häuschen. Wie auf einer Bühne.

Keiner beschäftigte sich mit irgend etwas, auch für Christin interessierte sich niemand. Erst als sie anfing diese Wesen anzusprechen und Fragen zu stellen, kam Bewegung in sie, aber Antworten bekam Christin nicht, daran war sie ja mittlerweile gewöhnt. Sie wurde nur groß und stumm angestarrt. Dann hielten sie ihr einen Spiegel vor. Zu ihrem Entsetzen sah sie da eine zerlumpte Gestalt, die so gar nicht in dieses Bild paßte, außerdem fehlte ihr ein Stück an ihrem Schneidezahn, er war schräg abgebrochen, und ihr erster Gedanke war; "jetzt mußt du auch noch zum Zahnarzt." Sie kam sich vor wie ein Eindringling, der hier nicht hingehörte. Sie standen alle plötzlich um sie herum, sie fühlte sich ziemlich bedrängt und beschämend. Man wollte sie hier nicht haben, aber schließlich war sie ja nicht freiwillig hier. Aus dieser mißlichen Lage befreite sie Erik, der plötzlich durch die Menge kam. Ihn störte ihr Aussehen nicht. Er legte schützend den Arm um sie und die Menge wich zurück, Christin war für sie nun nicht mehr von Bedeutung.

In der Mitte des Platzes ging, wie bei einer Ubanstation, eine Treppe nach unten. Jetzt plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie dies hier alles kannte, und daß sich unter der Erde eine vornehme Lokalität, oder eine Art Spielraum, oder alles zusammen, befand. Jedenfalls war sie dort unten schon gewesen, aber wann! Er wollte mit ihr nach unten gehen, aber sie schämte sich wegen ihrer Aufmachung, was Erik gar nicht aufzufallen schien. So schlenderten sie statt dessen die Straße entlang, eingesäumt von den kleinen bunten Häusern. Plötzlich traf Erik Freunde und fing an sich mit ihnen zu unterhalten, Christin ließ er dabei abseits stehen. Ihre Zeit war sowieso abgelaufen und sie mußte diesen Ort auf die übliche Weise verlassen.

Nach diesem Erlebnis war Christin ziemlich erledigt und grübelte ständig über diese Ortschaft nach. Mitte Dezember 1991 kam sie sonntags am späten Nachmittag nach Hause und schaltete den Fernseher ein. Sie bekam gerade noch den Schluß eines Reiseberichtes mit, ihre Ortschaft flimmerte über den Bildschirm. Zuerst das Stadttor, dann die bunten Giebelhäuschen. Die Stadt gibt es also doch und sie war dort, aber es war in einer anderen Zeit.

Anstatt sich gleich nach dem Namen dieser Sendung zu erkundigen, kümmerte sie sich weiter nicht darum, als sie es dann doch versuchte, war es zu spät. Ohne genaues Datum, konnte der Sender ARD nichts finden. Beim späteren nachforschen in der Hör Zu, fand sie in der betreffenden Zeit in allen fünf rechtlichen Sendern kein Programm, das damit in irgend einem Zusammenhang stand.

Eines Tages standen zwei Zeugen Jehovas vor Christins Tür und wollten mit ihr über die Bibel sprechen. Nach einigem Zögern war sie damit einverstanden, denn schaden konnte ja so etwas nicht. Von nun an standen sie einmal wöchentlich vor ihrer Pforte und so ergab es sich, daß sie mit ihnen auch über Erik sprach. Sie hörten aufmerksam zu und erklärten ihr dann anschließend, daß dies ein Dämon wäre, der von Satan geschickt sei und nur eines im Sinn hätte, nämlich sie mit in die ewige Finsternis zu nehmen. Wo sie dann, wenn hier auf Erden das Himmelreich errichtet würde, das kurz bevor stünde, mit ihm zusammen vernichtet würde. Um dies zu verhindern, müsse dieser Finsterling aus ihrer Nähe vertrieben werden. Sie würden deshalb für Christin beten.

Um diese Menschen besser begreifen zu können, nahm Christin ein Jahr lang an ihren Versammlungen, Buchstudien und Kongressen teil. Die Art, wie diese ganzen Zusammenkünfte abliefen, gefiel ihr nicht. Die Menschen dort wurden wie Leibeigene behandelt, eine eigene Meinung gab es nicht. Es wurde totale Unterwerfung verlangt. Noch nicht einmal die Antworten zu den Fragen durften frei gestaltet werden, sie mußten aus den Büchern oder Heften abgelesen werden. Zum Schluß war dann immer einer dran das Gebet zu sprechen, ein männliches Mitglied, denn Frauen standen in der zweiten Reihe und hatten sich unterzuordnen. So etwas Einfältiges und Unterwürfiges hatte sie noch von keinem menschlichen Wesen zu Gehör bekommen. Anschließend mußte jeder, wie beim Militär, Rechenschaft über jede Minute der vergangenen Woche abgeben, und das schriftlich. So hatte sie sich das Paradies nicht vorgestellt. Als dann die Forderungen nach der Taufe, ohne die sie keinen Anspruch auf Überleben hätte, immer hartnäckiger wurden, trennte sich Christin von diesem Verein. Diese gaben dann nach ein paar erneuten Versuchen auf, sie zu retten.

Ende Juli 90 reichte es Erik, sich zum Dämon abstempeln zu lassen, er rebellierte. Als Christin dann auch noch sein Annäherungsversuche mit "verschwinde", abblockte, rastete er völlig aus. Er wurde aggressiv und griff sie an. Er tobte wie ein Poltergeist durch die Wohnung. Es schepperte und krachte, als wären die Möbelpacker da, und das mitten in der Nacht um drei Uhr. Er war so laut, daß Christin davon erwachte. Ein paar Tage später ging er erneut auf sie los, nachdem sie sich erfolglos gegen ihn gewehrt hatte. Sie war sich nun nicht mehr ganz sicher, ob sie es vielleicht doch mit einem Dämon zu tun hatte. Es war ein Gefühl, als würde eine Zentnerlast auf ihr liegen und sie nach unten drücken. Er lähmte Christin, sie konnte sich nicht mehr bewegen, auch ihre Sprache war nur ein Lallen. Er wollte ihr damit demonstrieren, welche Macht er hatte, als wenn er das nicht schon vor längerer Zeit unter Beweis gestellt hätte. Einschüchtern konnte er sie aber trotzdem nicht, dazu waren sie schon zu eng mit einander verknüpft.

Dann kam der 10. August und Christin sattelte ihre Stute zum Ausritt. Das war ein schwerwiegender Fehler von ihr. Hinterher konnte sie nicht begreifen, wie sie so leichtsinnig sein konnte. Erik hatte sie ausreichend gewarnt, aber sie hatte ihn nicht verstanden. Vielleicht war es auch sein letzter Versuch, sie von dieser Sekte zu befreien.

Sie machte sich also mit ihrem Pferd auf den Weg in Richtung Apfelbäume, da lagen Berge von diesen Früchten auf dem Boden herum. Da die meisten Landwirte lieber ihr Obst verfaulen lassen, als es anderen zu gönnen, sollte Kajana es an Ort und Stelle fressen, dagegen hatten sie nichts. Dazu hatte Christin ihr Pferd anstatt mit einer Trense, mit einer Heckamore aufgezäumt, damit das Maul frei war und es besser fressen konnte. Damit hatte Kajana aber mehr Kopffreiheit, denn es kann damit auf längere Dauer nicht so eine feste Bindung zum Maul hergestellt werde, weil es einen unheimlichen Druck auf das Nasenbein ausübt.

Bei dem ganzen Ausritt war die Stute eigenartig unruhig, sie wollte immer wieder zurück in den Stall. Sie fraß zwar ihre Äpfel, war aber auch da nicht richtig bei der Sache. Hätte Christin ihr nur nachgegeben, dann wäre sie vielleicht noch ungeschoren davon gekommen. Aber auch nur vielleicht, denn hinterher weiß man immer alles viel besser. Als die beiden dann endlich auf dem Heimweg waren, wollte sie noch unbedingt mit ihr durch den Bach gehen, da das bei der Hitze gut für die Beine und Hufe ist. Sie wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß dies ihr letzter Ausritt sein würde. Sie galoppierten über ein Stoppelfeld, erst bergab, dann bergauf. Oben angekommen schlug Kajana ruckartig einen Haken in Richtung Stall. Mit einer Trense hätte Christin das sicher verhindern können, da besteht immer eine Bindung zum Maul. Da dies nicht der Fall war, konnte Kajana ihren Kopf frei bewegen und die Richtung ändern. Bei der Geschwindigkeit, die diese Beiden drauf hatten, konnte Christin den ruckartigen Richtungswechsel nicht abfangen, sie verlor das Gleichgewicht und fiel, obwohl sie fallen konnte, wie ein Mehlsack auf ihre linke Schulter und brach sich das Schlüsselbein. Sie hatten bei diesem Ausritt einen unsichtbaren Begleiter. Kajana hatte gespürt, das irgend etwas nicht stimmte und wollte immer wieder nach Hause. Bei Christin hatten die Sinne versagt, aber total. War das Eriks Rache?

Christin hatte ein schnelles Pferd und eine Stute, die des öfteren etwas zickig war und sie ritt oft auf volles Risiko. Runter gefallen ist sie des öfteren, das gehört nun mal dazu. Als Kajana noch jung war und noch nicht viel Erfahrungen hatte, haben sie sogar fünf mal zusammen einen Abgang gemacht. Da braucht nur das Gras feucht sein und sie rannte auf dem falschen Fuß um eine Ecke, schon war es passiert, sie rutschte weg. Erik hat aber immer gut aufgepaßt, er war ein aufmerksamer Schutzengel.

Christins Gedanken gleiten zurück. Es ist ungefähr fünfzehn Jahre her, als sie zuerst mit ihrer Stute Comtes und später ihrem Fohlen Kajana, nachdem es eingeritten werden konnte, dieser Stallgemeinschaft beitrat. Sie wurde zwar ausgiebig davor gewarnt, sollten dort doch ziemlich chaotische Zustände herrschen. Da sie für ihr Pferd eine schöne, geräumige Box bekommen sollte, und außerdem zwei große Gemeinschaftskoppeln vorhanden waren, wagte sie den Sprung nach vorne und sagte zu. Die ersten Eindrücke waren gut. Ihre Stallnachbarn erwiesen sich als sehr hilfsbereit und freundlich, von Chaoten keine Spur. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurde gefeiert, so auch ihr Einstand. Irgend Jemand schleppte immer ein paar Sektflaschen an, um den Reiteralltag zu beenden.

Der erste gemeinsame Koppeltag verlief auch ziemlich friedlich, da Comtes kein ängstliches Pferd war. Sie entwickelte sich sogar zu einem ziemlichen Rowdy, diese Seite war völlig neu an ihr, hielt Christin sie doch eher für ängstlich. So kann man sich täuschen! Nur der Wallach ihres Stallnachbarn war ihr überlegen. Das änderte sich aber ziemlich schnell, denn für beide war es Liebe auf den ersten Blick. Sie klebten von nun an zusammen und es gab jedesmal viel Geschnaube, wenn sie getrennt wurden. Wollte Christin Ausreiten, mußte sie beide von der Koppel nehmen, denn Schiwago, so hieß der neue Gefährte ihrer Comtes, konnte da ziemlich ausrasten. Er hatte in dieser Beziehung einen schlechten Ruf und galt als unberechenbar, aber Christin kam ganz gut mit ihm zurecht, brachte sie die beiden doch fast täglich zur Koppel und holte sie auch wieder ab.

Die Zeit verging, Erik hielt sich fern, er hatte auch gar keine andere Wahl, denn seine ersten zaghaften Annäherungsversuche blockte Christin sofort ab und er akzeptierte ohne zu murren. Wußte er doch, daß er zu weit gegangen war. Nach längerem Zeitraum wandte er einen unglaublichen Trick an; er handelte blitzschnell, ehe Christin überhaupt reagieren konnte. Er zerrte an ihr, schnappte sie und trug sie weg. Sie dachte noch, "ich spinne", dann verlosch ihr Erinnerungsvermögen. Von nun an kam er nachts, wenn sie schlief, da konnte sie sich nicht wehren und machte auch sonst keinerlei Schwierigkeiten. Sie wachte nur jedesmal danach auf und wußte, daß dies kein Traum gewesen ist. Einmal stand sie vor ihm, um sich von ihm zu verabschieden und hört sich sagen:

"Ich hab Dich lieb."

Er sieht sie sehr erstaunt und ungläubig an. Als wollte er sagen, ich habe es geschafft, sie hat mir mein Handeln verziehen. Christin kann sich ein Leben ohne Erik nicht mehr vorstellen. Sie gehören zusammen, auch wenn sie in verschiedenen Welten leben und ein ziemlich ungleiches Paar sind.

Mit der Zeit stellte Christin fest, daß sie bei einem Dimensionswechsel ihre alte Umgebung gar nicht verläßt. Sie bleibt am gleichen Ort, er sieht nur anders aus. Aus ihrem Umfeld verschwinden die Häuser und verwandeln sich in eine Parkanlage mit endlosen Wiesen und Bäumen. Ihr Supermarkt ist plötzlich ein Fachgeschäft für erlesene Kostbarkeiten des täglichen Bedarfs. Sie ging staunend durch die Gänge und konnte es kaum fassen. Wo sonst Gemüse, Getränke und andere Lebensmittel untergebracht waren, standen nun unbezahlbare Vasen, Schalen und Geschirr. Nur Menschen sah sie nie, sie war immer alleine. Es kam ihr vor, als ginge eine Tür auf, und solange sie auf ist, kann sie hin und her. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie an zwei Orten gleichzeitig, bis die Tür wieder zu ging. Sie spürte zwei Körper, einen physischen und einen psychischen. Der eine hat die Augen geschlossen, der andere hat sie weit offen und sieht diese für sie unmöglichen Dinge. Sie hatte mit ihren Händen überprüft ob ihre Augen tatsächlich geschlossen sind, obwohl sie von dem Gegenteil überzeugt war. Es ist wie bei einem dreidimensionalen Bild. Wenn man es geschafft hat in die Tiefe zu sehen, entfaltet sich eine räumliche, ungewöhnliche, phantastische Vision. Es ist als hätte man ein magisches Auge.

Dann erreichte Christin, wie sie meint, den Höhepunkt, sie landet an einem Ort, den man das Nirwana nennen könnte. Sie stand auf einer bunten Blumenwiese, umgeben von Sträuchern und Bäumen. Sie war dort ganz alleine und dachte. "Jetzt bist du endlich angekommen, du bist zu Hause, und keiner kann dich jemals wieder von hier vertreiben."

Dieser Ort war so erfüllt von unendlicher Liebe, Freude und Frieden und löste ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihr aus. Doch kaum hatte sie das alles wahr genommen, wurde das alles gegen ihren Willen abrupt zerstört, sie wurde wieder zurück gezogen. Sie hätte schreien können, so wütend und traurig war sie.

"Nein ich will nicht, ich will hier bleiben. Ich will nicht zurück , zurück in dieses Tal der Tränen."

Es nutzte ihr nichts, sie mußte es geschehen lassen.

Anfang Juli 93 ist Christin wieder am Anfang angelangt. Beim Aufwachen merkte sie sofort, das Erik in der Nähe sein muß. Sie spürte, seine Gegenwart und zwar ganz intensiv und richtig, er lag neben ihr im Bett und zwar auf dem Rücken. Sie konnte ihn ganz deutlich sehen. Bevor sie aber richtig reagieren konnte, war er langsam aufgestanden. Da sie in einem Wasserbett schläft, sah sie genau die Delle, die er beim Aufstehen in diese Matratze drückte. Er wandte sein Gesicht ab, so daß sie es nicht sehen konnte und ging langsam hinaus, wie vor sechzehn Jahren. Er hatte kurze braune gelockte Haare, seine Figur war etwas stämmig. Bei diesem unglaublichen Vorgang war sie nicht in der Lage etwas zu unternehmen oder irgendwie positiv zu reagieren. Er hatte sich materialisiert. Er wollte, daß sie ihn sehen konnte. Nur sein Gesicht hielt er noch verborgen. Welchen Grund hatte dies nun wieder.

Es ist der dreizehnte September und noch sehr früh am Morgen. Christin sieht schwarz angezogene Gestalten mit Kapuze, sie standen in einem Halbkreis, wie vor einem Grab. Auf eine dieser Gestalten ging sie gezielt zu, das Gesicht war eingefallen, der Blick geht ins Leere. Sie konnte nicht erkennen, aber irgend wie kam ihr diese Erscheinung bekannt vor, auch wenn sie nicht erkennen konnte, wen diese Gestalt verkörpern sollte. Keiner beachtete sie. Dann erblickte sie eine Frau, die nicht in schwarz war und von ihr wird sie bemerkt. Sie hatte eigenartige Spuren im Gesicht, sie liefen von den Augen in einem Rundbogen über die Wangen nach unten.

"Das ist von den Tränen", erklärte sie.

Christin wußte noch nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Das Rätsel löste sich am Abend des gleichen Tages. Eine Kollegin rief sie an um ihr mitzuteilen, daß ihr gemeinsamer Mitarbeiter Dieter gegen morgen verstorben war. Sie hatten gemeinsam drei Jahre in einem Reiseunternehmen gearbeitet, das vor kurzem in Konkurs gegangen war. Er kam aus Ostdeutschland und hatte sich in der Firma eine neue Existenz aufgebaut, die nun von heute auf morgen weg war. Durch die ganzen Umstände erlitt er einen Magendurchbruch, denn das Geschwür hatte er schon länger, und er konnte wegen einen dazu kommenden Herzinfarkt nicht operiert werden. Als dann noch Nierenversagen eintrat, gab es keine Rettung mehr. Er wurde ganze einundfünfzig Jahre alt.

 

Seit Ende Oktober 93 hatte Christin ihre siebenundachtzigjährige Mutter bei sich aufgenommen. Sie war körperlich sowie geistig ziemlich hinfällig, und nicht mehr in der Lage, alleine zu leben. Von nun an wurde Christins Wohnung ein beliebtes Ausflugsziel für anders Lebende. Ihre Mutter schätzte diesen Kontakt sehr, bei Tag und auch bei Nacht. Für Christin war dies eher eine Belastung, denn sie war auf Massentourismus dieser Art, nicht eingerichtet. Es nervte sie sehr, zumal sie nie wußte, wann irgend welche Gruppen bei ihr eintrafen. Neugierig, wie diese Wesen waren, machten sie auch vor ihr nicht halt, sie wurde in den Kontakt mit eingeschlossen.

Sie mußte damit rechnen, daß sich ihre Wohnung zeitweise in ein Tollhaus verwandelte, indem es von allen möglichen Gestalten nur so wimmelte, Fremde und Altbekannte. Von ihrer Mutter wurde sie dann stets am nächsten Tag zu dem Verbleib dieser Gäste befragt.

Da saß eine Frau an ihrem Bett, um ihr mit zuteilen, daß es schneite. Oder die ältere Frau aus dem Hochhaus 1988 weckte sie zum Frühstück und erschreckte sie fürchterlich mit ihrem Erscheinen. Sie war an die siebzig Jahre alt, groß und hager mit eingefallenem, spitzen Gesicht, das mit vielen tiefen Furchen durchzogen war. Der schöne große runde und gedeckte Frühstückstisch, mit dem wunderbaren Geschirr und den Frühstückseiern, an den sie geführt wurde, ließ sie diesen Schreck in der Morgenstunde dann wieder vergessen. Es war für eine große Familie gedeckt, die aber durch Abwesenheit glänzte.

Als sie dann eines morgens wieder einmal durch ein Geräusch geweckt wurde und Erik in der Tür stand, stürzte sie sich auf ihn und beide umarmten sich ganz fest; sie spürte, wie sich seine Arme hinter ihrem Rücken schlossen. Er war der einzige Vertraute in diesem Chaos. Es war alles immer so realistisch oder auch nicht, sie konnte es nicht mehr unterscheiden, alles ging so nahtlos in einander über. Früher wußte sie noch ganz genau wo sie war, was Wirklichkeit ist oder nicht, damit war es nun vorbei. Es paßte ihr nicht, daß man einfach über sie verfügte, aber sie hatte keinerlei Möglichkeit, diesen Zustand zu ändern.

Eines morgens, Anfang Dezember, spürte sie, daß jemand neben ihrem Bett stand, aber hinter ihrem Rücken. Da wurde auch schon an ihr herum gezerrt, und sie an den Bettrand befördert. Sie mußte Platz für zwei frisch eingetroffene Gäste machen, die scheinbar von der Reise etwas erschöpft waren. Es handelte sich um die beiden jungen Männer aus dem Hochhaus. Christin registrierte noch, daß einer von ihnen blond war, dann schlief sie wieder ein. Um so erstaunter war sie über die Aufregung ihrer Mutter am nächsten Morgen.

"Ich habe dich heute Nacht mit einem blonden jungen Mann in der Küche gesehen und hatte Angst, er wäre gekommen um dich abzuholen. Wie soll ich denn alleine hier zurecht kommen. Ich müßte ja dann in ein Heim."

Sie war aber dann sehr schnell beruhigt, als sie Christin wie immer, vorfand.

Als Christin Anfang März 94 vom Badezimmer zurück in ihr Schlafzimmer kommt, merkte sie sofort, daß wieder Gäste eingetroffen waren, die von der weiten Reise etwas ermüdet sind. Eine seltsame Unruhe erfaßte sie , denn sie wartete darauf, was jeden Moment passieren mußte. Es passierte erst, als sie sich bewegte, denn der Gast hatte schon längst in ihrem Bett Platz genommen und wurde nun in seiner Ruhe gestört. Er lag hinter ihrem Rücken, wie so oft, da konnte sie lange warten. Dann war es wie früher. Ein Windstoß fegte über sie hinweg und ihr Körper fängt an zu vibrieren. Es war ein Gefühl, als würde sie schweben. Dann begann sie, sich wie ein Kreisel zu drehen. Nach drei bis vier Umdrehungen hörte es auf und eine Stimme neben ihr flüstert.

--"Komm"-- und eine graugetigerte Katze strich um ihren Kopf herum und sprang dann mit einem großen, weiten Satz auf den Boden.

 

Nun lebt Christins Mutter schon über ein Jahr bei ihr und sie beschwerte sich bei ihr über die vielen Leute, die angeblich durch ihre Wohnung kurvten. Da keiner von Ihnen zu arbeiten schien, mußte es sich da ihrer Meinung nach um arbeitslose Sozialempfänger handeln, die keine Wohnung hatten und mit von ihrer Rente lebten. Ständig würden diese ihre Schränke und Schubladen durchwühlen, die wollten sie alle nur bestehlen. Sie hatte sogar angefangen ihr Zimmer abzuschließen, bis ihr Christin den Schlüssel wegnahm. Auch war da von zwei Mädchen die Rede, die immer von unten herauf kamen und versucht hätten, ihre Geldkassette zu öffnen. Deshalb hatte sie dann den Schlüssel dazu versteckt, der dann anschließend, wie auch andere Dinge, unauffindbar blieb.

Christin stöhnte zu all diesen Behauptungen und versicherte ihr, daß der Keller unbewohnt sei und auch sonst Niemand an ihren Sachen interessiert sei, aber es half nichts.

Eines Freitags sah sich Christin eine Talkshow im Fernsehen an. Unter ihnen war auch Stefan, er hatte vor langer Zeit ein Sterbeerlebnis und hielt seitdem regelmäßig Seminare ab. Er schrieb mehrere Bücher über diese Themen und gründete in Zürich das Forum, eine Begegnungsstätte für Gleichgesinnte.

Christin setzte sich mit ihm in Verbindung, denn so ein Mensch müßte sie doch verstehen können. Es entstand auch ein Schriftverkehr, aber aus seinen Briefen las sie heraus, daß dies nicht so ganz der Fall war. Er war nicht in der Lage, sich da in sie hinein zu versetzen, wofür sie Verständnis hatte. Außerdem war Zürich sehr weit von ihrem Wohnort entfernt, da konnte man nicht einmal kurz vorbei fahren. Ferner wäre es nicht sicher gewesen Stefan dann auch dort an zutreffen, denn er war, trotz seiner fünfundsiebzig Jahre, viel unterwegs.

So bekam sie dann von ihm die Nachricht, sich am 13.12.94 um 20,15 Uhr im WDR seine Sendung von ihm mit dem Titel

"Vom Jenseits in ein neues Leben"

Erfahrungen im Grenzbereich des Todes

an zu sehen und auf Video auf zu nehmen, was sie dann auch tat.

Zwei Tage später versuchte sie dann an Hand der Videoaufnahme, sich auf Stefan zu konzentrieren und ihn telepatisch zu erreichen. Der Einzige, den sie damit aufgescheucht hatte, war Erik. Er schien etwas verstimmt zu sein, irgend etwas paßte ihm nicht. Mitte Januar 95 versuchte Christin das Gleiche noch einmal. Sie konnte anschließend zwei Tage ihr Bett nicht mehr verlassen. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Schwamm und tat ihr äußerlich überall weh. Wenn sie sich bewegte, fing alles an sich zu drehen. Kopfschmerzen hatte sie aber keine und keinerlei Erinnerung an das, was ihr da widerfahren war.

Da ihre Mutter ständig von einem Mann erzählte, der sich in der Wohnung aufhielt und ihr sagte, was sie zu tun hätte, kam ihr, als sie wieder klar denken konnte, ein furchtbarer Gedanke. Sollte es sich bei diesem Mann etwa um Erik handeln, der ihr den Auftrag gab Christin ihre Krücke nachts auf den Kopf zu schlagen? Möglich war so etwas. Sie schloß von nun an nachts ihre Schlafzimmertür ab. War er eifersüchtig auf Stefan? Das gab ihm aber noch lange nicht das Recht gewalttätig zu werden. Sie hatte nun endgültig genug von ihm.

Ein halbes Jahr war inzwischen vergangen und Erik wagte zaghafte Annäherungsversuche. Als er damit keinen Erfolg hatte, wandte er die alterprobte Methode wieder an. Eines morgens wurde es in Christins Zimmer erneut sehr windig, so sehr, daß wieder einmal alles durch die Luft flog. Dann sah sie eine Gestalt in ihrem Zimmer, aber zu dieser Zeit war sie bereits schon wieder in diesem Haus. Sie befand sich abermals in diesem Zimmer mit den dunklen langen Vorhängen und lag wieder in diesem Bett, das an der Wand stand und Erik breitete sich gerade hinter ihr aus. Er wurstelte etwas herum, um sich mehr Platz zu verschaffen. Sie spürte seinen Körper und kuschelte sich in seine Arme, die sie umschlangen und fühlte sich sehr geborgen.

Da fiel ihr plötzlich wieder seine letzte Attacke vom Januar ein und sie sprach ihn daraufhin an. Da war alles vorbei, sie befand sich urplötzlich wieder in ihrem richtigen Bett. Können Tote sich schämen?

Von nun an kam er mit einer ganz neuen Technik. Er landet mit einem Plumps hinter ihr, als wäre er irgendwo herunter gefallen. Zuerst nur auf Tuchfühlung, dann wird er immer dreister und fängt wieder an zu klammern. Diese Methode hat für Erik eine schwache Stelle. Öffnet Christin nur einen kleinen Schlitz ihrer Augen, hat er keinerlei Zugriff mehr auf sie, er muß verschwinden. Eines Tages wird Christin das alles zu dumm, sie greift zurück und es folgt eine regelrechte Balgerei. Dabei stellte sie fest, daß der Körper, den sie da gerade festhielt und der sich dabei sekundenlang bewegungslos verhielt, wie unter Schock, sehr zart war. Nur an den Kopf kam sie nicht heran, er schien auf einem Schwanenhals zu sitzen und wich ihr immer wieder aus. Auf einmal wurden ihr dann die Hände fest gehalten und alles war vorbei. Sie hörte nur noch ein Knarren, als würde eine Tür geschlossen.

Sie hatte gewagt ihn anzufassen, für Erik eine ganz neue Situation, mit der er erst fertig werden muß. Christin wird in der nächsten Zeit Ruhe vor ihm haben, so lange, bis er dieses Vorgehen verarbeitet hat. Sie wußte aber auch, daß dieses Vorgehen Folgen haben konnte. Erik reagierte da manchmal etwas rückständig, sie hatte ihn überrumpelt, was bei ihm so eine Art Panik ausgelöst hatte. Sie war ihm also nicht ganz schutzlos ausgeliefert, denn sie hatte seine Achillesferse gefunden.

Die Luft war drückend schwül und heiß gewesen, und so hatte Christin das Schlafzimmerfenster den ganzen Vormittag über aufgelassen nur die Gardine zugezogen, damit es von außen nicht wie ein schwarzes Loch aussah.

Als sie dann gegen Mittag den Store zurückzog, kamen ihr fünf Wespen entgegen und wollten ins Zimmer. Sie versuchte sie zu verscheuchen, ging nicht, sie bestanden hartnäckig auf Einlaß, und Christin mußte sie gewähren lassen. Sie flogen nicht ins Zimmer, nein, sie bogen nach links ab, Richtung Vorhang. Was sie dann erblickte, als sie ihnen neugierig nachforschte, ließ sie fast erstarren. Sie beherbergte in ihrem Schlafzimmer einen Wespenstaat. An die hundert dieser Tierchen hatten sich an der Innenseite der Gardine schon zur Ruhe begeben. Sie saßen da dicht aneinander gereiht. Hinten an der Wand befand sich das fast kindskopfgroße Nest mit vier Eingängen. Alles verhielt sich ruhig, und obwohl Christin vor dieser Tierart keine Angst hatte, bekam sie doch beim Anblick eine Gänsehaut. Sie kam sich vor, wie in einem Horrorfilm. Mit diesem Stadium fangen aber die Ereignisse erst an.

Diese Tierchen hatten sich die ganzen Tage so diskret und unauffällig benommen, daß Christin von ihrer Existenz keine Ahnung hatte. Nie hatte sie auch nur eine Wespe durchs Zimmer fliegen sehen. Ihr war klar, bleiben konnten sie nicht, denn der Sommer fing erst an, und bis zum Herbst, dem Ende jeder Arbeitswespe, würde sich das Nest verdreifacht haben. Jetzt fiel ihr auch das leise Surren wieder ein, das morgens zu hören gewesen war. Da der Rolladen auf Lücke stand und nur unten einen Streifen offen hatte, damit Luft herein konnte, mußten die Wespen ihren Flug davor abbremsen. Nie sind ihr irgendwelche aufgefallen, wenn sie das Fenster öffnete, auch nicht, wenn sie die Vorhänge hin und her zog. Es kommt ihr jetzt nachwirkend so vor, als ob die Insekten gewußt hätten, daß sie unauffällig bleiben müssen, da sie sich in einem fremden Terrain aufhielten. Aber nun war ihre Tarnung aufgeflogen durch ein paar Halbstarke, die sich nicht an diese Regeln hielten.

Ihr Nachbar, den sie zu Hilfe holte, meinte, sie solle versuchen, einen Imker aufzutreiben, der hätte das richtige Werkzeug für solch eine Aktion. Aber dem einzigen Züchter, den ich kannte, waren seine Bienen eingegangen. Also mußte die Feuerwehr antreten.

Die kam dann auch ziemlich schnell, vier Mann hoch. Mit einer Ausstattung, als ginge es gegen Monster. Das Nest wurde besichtigt, dann kam ein Wesen, das einem Marsbewohner glich, und entfernte es. In einer Plastiktüte wurde das Gebilde abtransportiert, um woanders wieder ausgesetzt zu werden.

Zurück blieben trauernde Hinterbliebene, die ihr Zuhause verloren hatten und eifrig brummend danach zu suchen begannen. Sie flogen und krabbelten hin und her, und jeder Versuch sie nach draußen zu transportieren, scheiterte. Dazu kamen dann noch die Rückkehrer. Sie flogen unentwegt gegen das verschlossene Fenster. Entfernte Christin ein paar von drinnen nach draußen, kamen die von draußen wieder herein, die gerade Außendienst hatten. Keine Aussicht, die heimatlos gewordenen Tiere los zu werden, sie saßen hinter der Gardine oder rannten hin und her. Sie würden elendig verhungern.

War dies Eriks Vergeltung für unerlaubtes anfassen, oder nur Zufall?

Am Morgen des vierten Augustes 96 spürte Christin wieder die Gegenwart dieser Wesen. Kurz darauf wurde an ihrem Fuß gezogen, Erik traute sich nach dem letzten Vorfall nicht mehr so dicht an Christin heran, jedenfalls nicht in die Reichweite ihrer Arme. Er hielt vorsichtshalber einen Sicherheitsabstand ein. Dann sprang ein schwarzgrau gestreiftes Tier, etwas kleiner als eine Katze, mit einem buschigen Schwanz und einem länglichen Maul in ihr Bett. Erst hin, dann her, immer über sie drüber und kuschelte sich anschließend zwei mal in ihren Arm. Umklammerte ihn ein paar mal mit den Vorderpfoten und verschwand dann wieder. Hat sich Erik in dieses Tier verwandelt um gefahrlos in ihre Nähe zu kommen? Sie wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß er sich gerade von ihr verabschiedet hatte und daß dies ihre letzte Begegnung war.

Er hatte sie verlasen, und zwar für immer. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie sehr sie ihn geliebt hatte. Durch ihn wurde ihr eine Welt geöffnet, in die Lebende keinen Zutritt hatten, jedenfalls fast alle. Sie kam sich so unendlich verlassen vor. Er wird in Zukunft nur noch in ihrer Erinnerung weiterleben, auch wenn diese mit der Zeit etwas verblassen wird. Sein teilweises Fehlverhalten schloß sie daraus, daß er ja schließlich nur das Abbild seiner Vergangenheit war, die sie aber nicht kannte, nur erahnen konnte.

Trotz all dem war sich Christin ziemlich sicher, obwohl sie keinerlei Beweise hatte, es ging hier um dieses Haus, auf das sie aufmerksam gemacht werden sollte. Irgend etwas war dort irgendwann vorgefallen, und zwar etwas schicksalhaftes, in das sie mit einbezogen war. Soviel sie sich aber bemühte, sie konnte nirgends etwas über dieses Anwesen und diese Ortschaft in den Bergen, heraus bekommen. Am 1.10.1756 schlug Friedrich der Große (II.) die Österreicher bei Lobositz im damaligen Nordböhmen und bestieg den Thron in Prag. Anschließend enteignete er viele Schloßbesitzer in Böhmen, die sich dann vereinzelt in Franken niederließen. Damit war sie mit ihrer Weisheit am Ende. Sie ist sich ziemlich sicher, daß dieses Haus mit der Bezeichnung Schloß, dazu gehört. Die Zeiten damals waren sehr unsicher. Es tobte der Siebenjährige Krieg und es grassierten viele Seuchen, außerdem saßen die Säbel ziemlich locker. Es bestünde doch die Möglichkeit, daß dort ein Massaker statt gefunden hatte und die Toten in einem Gewölbe, das sich unter dem Haus befindet, verscharrt wurden, das man dann anschließend zumauerte. Diese Opfer waren nun aber mit diesem Verfahren und Unterbringung nicht einverstanden und rebellierten, sie wollten gefunden werden. Waren Christin und Erik damals schon ein Paar, daß gewaltsam getrennt wurde und er hat sich bis heute nicht damit abgefunden. Oder benutzt er sie nur als Medium. Alles Fragen ohne Antwort.

Es wird immer behauptet, Menschen können sich ändern. Menschen ändern sich nicht, sie verstellen sich oder nehmen sich zusammen, und bei dem nächsten Extremfall ist dann alles wieder beim Alten. Daß Erik einen Hang zur Gewalttätigkeit besitzt, hatte er schon ein paar mal bewiesen. Geht etwas nicht so, wie er es gerne hätte, greift er an. War das damals vor 200 Jahren auch schon so gewesen? Mußte er deshalb eines gewaltsamen Todes sterben.

Das mit diesem Haus trotzdem etwas nicht stimmte, merkte sie an dem derweiliegen Besitzer. Er war ein unmögliches männliches Exemplar der menschlichen Rasse. Zu diesem Zeitpunkt war er noch ein begnadeter Künstler der hohen Töne und in der ganzen Welt zu Hause. Seitdem er aber in diesem Haus lebte, ging es mit ihm schnell bergab, künstlerisch sowie menschlich. 1996 hat er dann dieses Anwesen wieder verkauft. War es eine Flucht, oder fehlten ihm die Mittel für die weitere Erhaltung?

War es nur purer Zufall, daß Christin ausgerechnet diese Zeitschrift beim Friseur aufschlug, um die Wartezeit zu überbrücken, oder programmierte Absicht? Im Grunde genommen interessierte es sie so gut wie gar nicht, was Diana & Co so gerade trieben. Da sprang ihr beim Umblättern dieses Interview ins Auge. Es füllte die ganze Seite aus, bestand aber mehr aus Fotos als aus Text.

"Er schafft es doch immer wieder in die Schlagzeilen zu kommen", ging es ihr durch den Kopf.

"Was hat er sich denn nun schon wieder ausgedacht, Gehirntumor, jetzt macht er auf Mitleid", war ihr erster Gedanke.

Wenn sonst nichts mehr geht, muß eine Krankheit her, aber eine gefährliche. Seine Seele weint, man will ihn nicht mehr , er wird abgelehnt und das äußert sich in einem körperlichen Defekt. Sein Interviewer ist ein populärer Darsteller, ein angeblicher Freund. Warum hat dieser nicht versucht, ihm in seinem Fach etwas beizubringen?

Denn die Schauspielerei war sein großes Handikap. Daran scheiterte ja schon vor zehn Jahren seine Mitarbeit in dem Film: "Fabrik der Offiziere." Ein berühmter Schauspieler au Österreich gab in einer Talkshow dazu seinen Kommentar; "Dieser Mensch wird noch in zehn Jahren darauf warten, diese Rolle spielen zu dürfen." Recht hatte er, denn für dieses Fach ist er völlig unbegabt.

Christins Gedanken gehen verträumt zurück, zurück zu Anfängen der achtziger Jahre. Welchen Zauber hat er doch damals um sich ausgelöst. Ein blonder Recke, die Idealbesetzung für jede Wagneroper. Sie sieht ihn noch, genau als wäre es gestern gewesen, in seiner weißen Rüstung vor ihr stehen. Der schönste Lohengrin, den es je gab. Dagegen sind die heutigen Wagneraufführungen in Bayreuth wegen ihrer Aufmachung, eher eine Schocktherapie. Sie erinnert sich noch an die Urteile in Leserbriefen; "Ein Mann zum Verlieben", das war nach seinem ersten Fernsehauftritt. Wüste Ablehnung dagegen nach seiner ersten Rockplatte, die sie wiederum sehr schön fand. Er war der erste Künstler, der solche Begeisterung in ihr hervorrief. Warum mußte alles in solch einem Trauma enden. Alles stimmte damals an ihm, seine Bühnenauftritte, die äußere Verpackung und diese wunderschöne Stimme, von der sie nicht genug kriegen konnte. Sie versuchte, Klassikplatten von ihm zu bekommen, aber es gab keine. Das war für sie damals und auch noch heute unbegreiflich. War es Bescheidenheit, oder was steckte sonst dahinter? Auch im Rundfunk war er so gut wie nie zu hören.

Heute sieht sie das alles aus einem anderen Blickwinkel. Von ihrer damaligen Emotion ist nichts mehr übrig geblieben. Sie hatte sich über sein unverantwortliches Benehmen in der Öffentlichkeit dermaßen geärgert, als hätte er das alles ihr angetan. Wie kann sich ein Künstler dieser Größenordnung nur so bloß stellen und sich dermaßen kompromittieren. Das hatte nichts mehr mit Rebellion zu tun, das war praktizierte Selbstzerstörung. Sie konnte seine Stimme nicht mehr ertragen. Nie wieder würde er fähig sein, auf einer Opernbühne zu stehen. Es waren nicht nur die Nerven, die aus Angst, wieder zu versagen, da nicht mehr mitspielten, er war am Ende seiner Karriere angekommen. Die Gier nach dem großen Geld, die vielen Rocktourneen, waren schuld an dieser Misere.

Ein Opernsänger singt kaum länger als eine Viertelstunde hintereinander; eine Oper hat ja mehrere Darsteller und die hochgeschulte Stimme des einzelnen kann geschont werden. Fast hätte sie Mitleid mit ihm gehabt, aber Hochmut kommt vor dem Fall. Und: "Wie man sich bettet, so liegt man.

Sie sieht sich etwas traurig die Fotos an, hatte er so etwas wirklich verdient? In ihrem Gehirn sind immer noch seine überheblichen Sprüche gespeichert, z.B.: "Bei dreißigtausend fängt unsereins erst an zu zählen." Fotos, von ihm in den Zeitschriften waren schon immer seine große Genugtuung. Der kleine Rundliche und der größere Dünne, wie das bekannte Komikerpaar. Was hätte aus ihm alles werden können, wenn sein Gehirn normal funktioniert hätte. Da war die Jagd auf die kleinen Mädchen. "Was bei drei nicht rechtzeitig bei drei auf die Bäume kommt", usw. Mit solchen Aktionen hat er doch nur gezeigt, wie unreif er im Grunde war und immer noch ist. Aber das sind ja viele Männer, nur die gehen solchen Gelüsten meistens im Geheimen nach, denn so eine Glanzleistung ist das nun wirklich nicht.

Christin nimmt die Stimme, die ihren Namen ruft, erst nach dem dritten Aufruf wahr, so tief ist sie in ihre Gedanken versunken. Irgend etwas verbindet sie mit diesem Menschen! Sind es vielleicht die unsichtbaren Kräfte, die sie beide wahrnehmen können?

Viel später wurde ihr plötzlich bewußt, daß Erik nun doch zugeschlagen hatte. War er der Verursachter dieser Lähmungserscheinungen? Es war genau seine Handschrift. Schmerzhaft, aber ungefährlich zu verletzen. Was nutzt es aber, wenn der Zweck der Sache nicht verstanden wird. Geisterte Erik mit Gefolge nicht auch in seinen Räumen herum? Wurde er dann, als sie endlich begriffen hatte, daß sie das Haus gefunden hatte, ins Abseits befördert? Hätte es was geändert, wenn er sich anders verhalten hätte? Würde er dann noch auf der Bühne stehen und alles wäre beim Alten geblieben? Fragen über Fragen und keine Antwort, wie gehabt. Trotzdem ein schrecklicher Gedanke! Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Christin wird sich immer sicherer, daß sie einmal mit Erik und Gefolge in diesem Haus gelebt hat. Seitdem Christin mit Erik & Co liiert ist, war für sie kein Irrtum mehr möglich. Wir leben nicht nur einmal. Sterben tut nur unsere äußere Hülle, die uns hier gefangen hält. Nur wenigen Menschen gelingt es, sie stundenweise zu verlassen. Sie haben aber keinerlei Möglichkeit, diese Ausflüge in diese andere Welt auch nur annähernd zu beweisen, denn die Menschen akzeptieren nur was sie sehen und anfassen können, alles andere ist für sie Spinnerei. Für Christin stand fest, der Tod ist für sie nur der Übergang in eine andere Lebensform. Jeder Mensch wird solange wieder geboren, bis er die nötige Weisheit erreicht hat und das ist von Fall zu Fall verschieden. Natürlich geht das nicht pausenlos hintereinander, da können bis zu hundert Jahre dazwischen liegen, denn dort herrscht eine andere Zeitrechnung.

Ärgere Dich nicht über Deine Fehler und Schwächen

Ohne sie wärst Du zwar vollkommen, aber kein Mensch mehr.

Ein halbes Jahr ohne Erik, obwohl sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte, und bei Christin stellte sich langsam der Normalzustand wieder ein. Das mit ihm erlebte kam ihr auf einmal alles so unwirklich vor. Sie vermißte ihn nicht mehr. Es war wie ein Traum, aus dem sie nun erwacht war, wenn da nicht seine, manchmal fast erdrückende, Liebe nicht gewesen wäre, mit der er sie überschüttete. Auch das Gefühl von grenzenloser Geborgenheit, Ruhe und Frieden, wenn er in ihrer Nähe war. All das war nun vorbei, auch ihre Sehnsucht nach dieser anderen Welt, die sie so gut kannte, von derer Existenz sie überzeugt war, und in die sie wieder zurückkehren würde, wenn die Zeit da war.

Dann mußte sie Mitte April feststellen, daß alles ein großer Irrtum war. Sie spürte plötzlich wieder seine Anwesenheit, und Anfang Mai hatte sie das Gefühl, nicht alleine zu sein, und auf einmal wurde ihr klar, warum sich diese Wesen immer hinter ihrem Rücken aufhielten. Zwischen Hinterkopf und Hals gibt es ein Kuhle, und dort befand sich die Kontaktstelle, praktisch der Ein -und Ausgang für den anderen Körper. Wie Christin aber in der Sendung Fliege Anfang November 97 erfahren hatte, gab es dafür aber auch einen ganz anderen Grund. Erik brauchte Energie, die er als physisch körperloses Wesen selbst nicht herstellen konnte, um sich in ihrer Nähe aufhalten zu können. Er mußte sich diese bei ihr holen, er zapfte sie an, daher der enge Körperkontakt und das Klammern. Spannte sie die Muskeln an, die man auch zum Bewegen der Ohren brauchte, war die Tür offen. So war es auch an diesem Morgen. Sofort begann dieses Vibrieren und das Flattern ihrer Bettdecke. Dann schmiegte sich die Rundung eines Kopfes in ihre offene Handfläche, der ziemlich klein war. Viel zu klein für das Zentnergewicht, das dabei auf ihr lag. Dann war, wie üblich, alles sehr schnell vorbei, auch ihre Traurigkeit über den Verlust, der niemals statt gefunden hatte, sie hatten sich die ganze Zeit nur negativ verhalten.

Sie wachte am 4. Dezember 98 so gegen acht Uhr auf und hatte ein sonderbares Gefühl, das sie nicht erklären konnte und schlief noch einmal für zwei Stunden ein. Beim zweiten Aufwachen hörte sie so ein leises kratzen an ihrer Bettdecke und dann ging es auch schon los. Von den Füßen aufwärts lief wieder dieses Vibrieren über ihren Körper, dann drückte sich ein Körper, der sich von einem menschlichen nicht unterschied, hinter ihrem Rücken eng an sie, ließ aber die Bettdecke dazwischen. Er ist wieder da, eine unbändige Freude überkam sie. Erik war zu ihr zurückgekommen. Was hatte ihn dazu bewogen? Waren es ihre ständigen Sendungen, die sie in den All schickte, oder die Macht der Liebe, die ihn zur Rückkehr zwang. Bald würde er wieder wie gehabt, mit einem Platsch hinter ihr landen, dessen war sie sich ganz sicher. Sie will ihn nicht noch einmal verlieren, er ist ihr so vertraut, als würde sie ihn schon ewig kennen. Wäre da nicht diese nicht diese grenzenlose Liebe, die durch Raum und Zeit geht und alles andere hinter sich läßt. Die durch nichts zu zerstören zu sein scheint.

Es gibt Geister und es gibt Tote, man muß hier unterscheiden. Ein Geist ist die überlebende geistige Erinnerung an jemanden, der auf tragische oder gewaltsame Weise gestorben ist. Im Augenblick des Todes wird die Trennung der Seele vom leiblichen Körper durch einen emotionalen Schock gestört, der den normalen Übergang verhindert. Infolgedessen wird der Tod im Bewußtsein desjenigen, der stirbt nicht registriert.

Derjenige, dem dies widerfährt, kann die Realität nicht erkennen, denn das Leben besteht sozusagen in seinem Geist fort. Sie wissen selten, daß sie tot sind. So sind sie sich auch nicht der Tatsache bewußt, daß sie tot sind, daß eine Veränderung eingetreten ist und daß die Dinge nicht so sind wie vorher. Geister sind niemals rational. Sie sind immer bis zu einem gewissen Grad unfähig, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Auch nicht in der Lage etwas für sich selber zu tun, sie sind einzig und alleine auf unsere Hilfe angewiesen. Sie leben in einer physischen, gehören aber in eine psychische Welt. Sie empfinden wie lebende Menschen, denn sie kommen mit ihrem Zustand des Seins nicht zurecht. Geister sind nicht das Produkt der Einbildungskraft, auch nicht Erfindungen einer üppigen Phantasie von Menschen.

Es gibt da den Unterschied zwischen Erscheinungen von Toten und sogenannten Geistererscheinungen. Wenn Tote erscheinen, so können sie kommen und gehen, sie haben da die volle Freiheit. Bei Geistern ist das anders, sie sind nur Teile von den letzten Momenten ihres Lebens. Sie können ihre früheren Erinnerungen nicht wieder erlangen, bis man ihnen aus dem jetzigen Zustand herausgeholfen hat. Deshalb wird Christin von Erik bedrängt, sie soll Dinge für ihn herausfinden, die er selber nicht schafft. Das tut sie aber bestimmt nur dann, wenn er sein Verhalten ihr gegenüber ändert und nicht bei jeder Gelegenheit, die ihm nicht paßt, auf sie los geht.

Geister sind an Orte ihres letzten Geschehens gebunden, sie können sich nicht an andere Orte begeben. Beide sind aber unter bestimmten Umständen imstande Menschen zu töten und zu verletzen, Geister aber nur in ihrem letzten Umfeld. In diesem Fall muß es sich bei Erik um einen Toten handeln, der sie überall hin verfolgt und vor nichts zurückschreckt, um sein Ziel zu erreichen. Aber welches Ziel? Warum soll Christin die Vergangenheit wieder aufleben lassen? Sie ist sich nicht sicher, ob sie dieses Rätsel jemals zu lösen imstande sein wird. Jedenfalls nicht ohne die Hilfe eines Dritten.

Bei Erik handelte es sich also um einen Toten, der in seiner psychischen Welt angekommen ist. Was treibt ihn aber nun ständig zu Christin in die physische Welt? Auch wenn er sie an verschiedene Orte seiner Vergangenheit, die für ihn wichtig zu sein scheinen, bringt, so bedeuten ihr dies alles überhaupt nichts. Sie hat jegliche Erinnerung daran verloren und von alleine kommt diese auch nicht wieder zurück, auch wenn er sich noch so sehr bemüht. Auch hat er keinerlei Besitzansprüche mehr ihr gegenüber geltend zu machen, das muß er endlich begreifen lernen. Was sollen also diese ständigen Attacken, damit erreicht er nur das Gegenteil, nämlich, daß ihr seine Gegenwart reicht und sie genug von ihm hat, schon deshalb, weil noch andere in seinem Schlepptau mitreisen.

 

Paranormal Deutschland e.V.