Re: Wie finde ich mich?
Anette schrieb am 1. November 2000 um 14:30 Uhr (528x gelesen):
Liebe Susanna,
ich kenne das worüber Du schreibst aus eigener Erfahrung. Noch als ich um die 20 war, (bin jetzt 36) war ich sehr angepasst und immer bestrebt nicht unangenehm aufzufallen. So stellte ich mich immer sehr stark auf meine Mitmenschen ein, um ja nicht anzuecken und keine Kritik zu ernten. Viel Selbstbewusstsein hatte ich nicht.
Die Wende kam plötzlich und von selbst. Das Leben ist zwar schön, aber es ist auch hart. Wenn man zum Beispiel voll im Berufsleben steht, muss man sich auch irgendwann durchsetzen können, sonst wird man sang und klanglos "in die Tasche gesteckt".
Bevor ich endlich zu mir selbst stand, d.h. sagte was ich dachte, sagte was ICH wollte etc. habe ich viel gelitten. Der Druck gerade im Berufsleben wurde größer und größer, und plötzlich ist bei mir praktisch ein Deckel abgeplatzt unter dem sich meine Agressionen, meine Wut, meine Verletzungen gestaut hatten.
Ich hatte eine üble Kollegin, die nichst schöneres wusste, als mir das Leben in der Firma schwer zu machen. Sie quälte mich, wo sie nur konnte. Und das über Jahre.
Eines Tages passierte es. Ich erkannte mich in diesem Moment selbst nicht wieder. Das erste Mal im Leben war ich plötzlich so richig außer mir, schrie wie eine Irre diese Kollegin an (und hätte ihr beinahe eine volle Teetasse übergeschüttet) die mich all die Jahre aufgezogen hatte.
Ich schrie so, dass sämtliche Kollegen zusammenliefen und nur fassungslos guckten. Aber in diesem Moment ist mehr passiert, als nur ein Mal Wut ablassen.
Meine Kollegin war so geschockt, dass sie mich nie mehr "anfasste"
Ab diesem Moment war ich nicht mehr immer nur bestrebt, allen zu gefallen. Ich hatte endlich meine eigene Kraft entdeckt und fühlte ab diesem Moment, dass ich nicht weniger Wert bin, als all die Anderen, die eine große Klappe haben und immer meinen, sie müssten einem sagen wo's lang geht. Ich stand jetzt erst richtig im Leben. Natürlilch meine ich damit nicht, dass es eine Super Lösung ist wie bekloppt rumzubrüllen, das tu ich nicht mehr. Aber das war der Moment, wo sich mein Leben schlagartig änderte.
Das verstehe ich, unter mich finden. Ich bin ich. Ich bin normalerweise freundlich und hilfsbereit, einfühlsam etc. Aber mir macht es jetzt auch nichts mehr aus, auch mal etwas "auszuteilen" wenn's mir stinkt. Es geht jetzt alles nur noch bis zu einer gewissen Grenze. Ich habe keine Angst mehr vor den "Folgen" meines so seins, denn ich weiß, dass ich auch Kraft habe, dass ich genau so das Recht habe so zu sein, wie ich bin, wie all die Anderen. Dass auch ein Recht auf meine Meinung habe, ein Recht darauf geachtet zu werden, so wie ich die Mitmenschen achte. So Sensibel, wie ich früher war, bin ich aber auch nicht mehr. Ich mache mir längst nicht mehr so viele Gedanken, wie diese oder jene Äußerung gewirkt haben könnte. Ich äußere mich eben - fertig. (ich meine damit nicht andere anmachen, ich meine ganz normale "Meinungsbekundungen")
Ich glaube, dass ich recht spät so weit war, dies zu lernen. Andere lernen das schon mit 15. Aber wie es genau dazu gekommen ist, dass ich mir plötzliche keine großen Gedanken mehr machte, ob ich auch gut ankomme, kann ich Dir nicht sagen. Es war wohl einfach an der Zeit, endlich auch raus zu kommen - ins Leben - dem man nicht immer nur mit Sensibilität, Zahrtheit, Anpassung begengen kann. Es gibt einen Punkt, an dem man einfach so nicht mehr weiter kommt. Ende der Fahnenstange.
Es ist ein Entwicklungsprozess und wie gesagt, weiß ich nicht, wie man das willentlich herbeiführen kann. Bei mir ist es aus Leid und Verzweiflung entstanden. Seitdem bin ich frei, meine Leben ist im Fluss. Ich spüre meine Kraft, und nicht nur die der Anderen. Ich erlebe das Leben auch nicht mehr so, dass nur die Anderen bestimmen - ich bestimme ganz selbstverständlich mit, auch in der Firma.
Ich weiß nicht, ob Du das richtig nachempfinden kannst, was ich beschrieben habe, denn es war mein Weg. Deiner wird sicherlich anders verlaufen. Aber ich denke, es wird auch bei Dir etwas damit zu tun haben, dass Du irgendwann erkennst, dass man nur richtig leben kann, wenn man sich raus wagt.
Liebe Grüße
Anette

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