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Die Kunst des Handlesens (*)
DAMIT IHR ES GLAUBT- Auszug aus einer Zeitung
Karin schrieb am 11. Oktober 2004 um 6:11 Uhr (520x gelesen):
SAN JUAN TEOTIHUACAN, im Oktober. Der Widerstand organisiert sich im Schatten der Sonnenpyramide. Bei Wasser und Kaffee und nicht weit von den weltberühmten Ruinen der Teotihuacan-Kultur entfernt tagt die "Bürgerfront zur Verteidigung von Teotihuacan". Seit zwei Monaten finden sich im Restaurant "Techinanco" regelmäßig Menschen zusammen, die sonst in ihrem Leben nicht viel teilen: Bauern mit schwieligen Händen, Damen aus der Oberschicht im feinen Hosenanzug, Vertreter von Organisationen der Ureinwohner, Architekten und Einzelhändler, jung und alt.
Die Wurzeln Mexikos
Alle vereint die Wut über ein Projekt, das, wie sie sagen, ihre Identität bedroht. Wal-Mart, der weltgrößte Einzelhändler aus den USA, baut in Sichtweite der Jahrtausende alten Sonnen- und Mondpyramide nahe Mexiko-Stadt einen Discountmarkt. "Für ökonomische Interessen zerstören sie die Wurzeln Mexikos", sagt Emmanuel D'Herrera, der Sprecher der Bürgerinitiative.
Zu ihrer Blütezeit vor 1 500 Jahren war Teotihuacan mit 150 000 Einwohnern eine der größten Städte der Welt. Die Azteken nannten die Stadt später den Ort, an dem sich die Menschen in Götter verwandeln. Heute leben in San Juan Teotihuacan und angrenzenden Gemeinden noch 35 000 Menschen, und Wal-Mart will den verschlafenen Ort in einen Brückenkopf des modernen Einzelhandels verwandeln. Bisher ist der nächstgelegene Supermarkt eine Autostunde entfernt. Der Konflikt um den Supermarkt und die Ruinen ist eine Geschichte über Globalisierung und kulturelle Identität, um Wirtschaftsmacht und angebliche kriminelle Machenschaften.
Der Grundschullehrer Emmanuel D'Herrera wirkt mit seinem schwarzen Aktenkoffer, dem Seidentuch und der riesigen Brille kaum wie ein Globalisierungsgegner. Unentwegt zerrt der hagere 56-Jährige archäologische Karten, Behörden-Schriftwechsel, Genehmigungen und Verordnungen aus seinem Aktenkoffer hervor, pocht mit der Hand auf jedes einzelne Dokument und sagt schließlich: "Nur ein Meer von Korruption hat den Bau überhaupt ermöglicht."
Mexikos oberste Archäologiebehörde Inah hätte den Supermarkt, der eineinhalb Kilometer von den Pyramiden entfernt gebaut wird, gar nicht genehmigen dürfen, behaupten die Gegner. Das Gelände gehöre zur archäologischen Zone. Die Inah hingegen erklärte im Mai, auf dem Bauplatz gebe es "keinerlei Anhaltspunkte für architektonische Vorkommen" und gab grünes Licht. Dennoch wurde Ende August bei den Aushebungen für den Parkplatz des Supermarktes ein prähispanischer Altar gefunden, worauf die Bauarbeiten gestoppt wurden. Seither durchwühlen die Mitglieder der Bürgerfront jeden Kubikmeter Bauschutt nach wertvollem Gestein. Für Wal-Mart sind die Argumente der Bürgerfront vorgeschoben. Der Widerstand, das seien "zehn Händlern des ortsansässigen Marktes, die den Lebensmittelhandel kontrollieren", so das Unternehmen.
Die Baustelle ist weiträumig eingezäunt und mit blauen Sichtblenden vor neugierigen Blicken geschützt. Die Inah-Archäologin, die eigentlich die Arbeiten überwachen soll, ist nicht vor Ort, ihr Handy abgeschaltet. Dafür sichern ein Streifenwagen der Polizei und Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes den Eingang zur Baustelle.
Mitte Dezember, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft, will Wal-Mart den Discounter öffnen. Irma Gonzalez hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. "Ich bin bald arbeitslos", sagt die 40-Jährige, die auf dem örtlichen Markt Hühnchen verkauft. "Wie sollen wir denn mit denen konkurrieren? Wal-Mart sagt, sie schaffen 180 Jobs, aber wie viele zerstören sie?" José Alcantara von der Ureinwohnerorganisation "Indígenas Unidas" vergleicht den Supermarktbau bei den Ruinen mit einer neuen Eroberung: "Die Spanier kamen mit Schwert und Kreuz, Wal-Mart kommt mit Wirtschaftsmacht", sagt er.
Tatsächlich gleicht das Wirken von Wal-Mart in Mexiko einer modernen Conquista. Die US-Einzelhandelskette kam vor dreizehn Jahren in das Nachbarland, wo Supermärkte die Ausnahme waren und der Einzelhandel von lokalen Märkten und Krämerläden bestimmt wurde. Inzwischen kontrolliert Wal-Mart knapp die Hälfte des Einzelhandelssektors, ist mit 100 000 Mitarbeitern der größte private Arbeitgeber des Landes und erwirtschaftet zwei Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts.
"Wir wollen keine Micky Maus"
Emmanuel D'Herrera weiß, dass die meisten Bewohner von San Juan Teotihuacan den Supermarkt wollen, weil sie künftig billiger und schneller einkaufen können. Für die Bürgerfront aber geht es um mehr als billige Lebensmittel. "Es ist ein Frage von Stolz und Identität, und beides hat seine Wurzeln in Teotihuacan", sagt D'Herrera. Und da Stolz keinen Preis hat, sind die Wal-Mart-Gegner entschlossen, die Eröffnung des Discounters mit allen Mitteln zu verhindern. Sie sind mit Macheten vor den Bauplatz gezogen, haben eine Klage angestrengt, weltweite Aufrufe zum Boykott von Wal-Mart werden vorbereitet. Vor wenigen Tagen sind D'Herrera und zwei Mitstreiter sogar in den Hungerstreik getreten. Er sagt: "Wir wollen Micky Maus nicht auf der Sonnenpyramide".

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