In der Tempelstadt

 

Jenseitsreise eines Verstorbenen

 

 

 

 

 

Alfred Ballabene

alfred.ballabene@gmx.at

gaurisyogaschule@gmx.de

 

Copyright:  Alfred Ballabene, Wien, 2007, überarbeitet 2017

 

Text und Illustration: Alfred Ballabene

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Vorwort

Der Flusspfad

Das Palais

Der Turm

Im Ordensasyl

In der Tempelstadt

Die Frau vom Getränkekiosk

Energiearbeit an Carla

Die Entscheidung

Die Wende

Die Befreiung aus dem Kokon

Die Frau beim Bildstock

Höllenwelten

Die Traumebene

Blutsbrüder

 

 

 

Vorwort

 

 

 

Vier Personen, deren Schicksale sich in vergangenen Leben zusehends verflochten haben, finden im Jenseits zueinander. Sie lernen gemeinsam und unterstützten einander.

Zumindest für zwei von ihnen war das irdische Leben schwer und belastend. Wie ein Echo hallte dies noch in der jenseitigen Welt nach und setzte sich dort zunächst in unglückseliger Weise fort. Doch das ist nur vorübergehend. Niemandem ist die Möglichkeit genommen zu lernen und seinem Leben eine wunderschöne erfüllende Wendung zu geben.


Wir sind Reisende, in dieser und in der jenseitigen Welt. Wie für
alle Reisenden gilt auch hier: „halte deine Augen offen, beobachte und
lerne“. Eine der Botschaften in diesem Roman heißt: Sich an Egoismen und Wünsche zu binden schafft Abhängigkeiten und verursacht Stagnation. Von psychischen Automatismen frei zu werden, ist der Beginn, um das eigene Dasein frei gestalten zu können. Erst dann sind wir bereit die Wunder der Welt, ob hier oder dort, in beglückender Weise zu genießen.

An uns ziehen Welten und Zeiten vorbei, wir wandern von Kulisse zu Kulisse, nichts
können wir für immer fest halten – außer unserer Erinnerung und das, was
wir daraus gelernt haben. In noch jungen Jahren lernte ich von meinem Guru: „Die Welt ist eine Brücke, bau dir kein Haus darauf!“

Das Wichtigste, das sich zu erlernen lohnt und was uns letztlich zu einer höchsten Erfüllung führt, ist die Liebe. Sie verbindet letztendlich uns alle und führt uns durch die Zeiten. Sie trotz der Widerwärtigkeiten des Lebens zu erkennen und zu finden, ist in unseren Inkarnationen eine immer wieder neu gestellte Aufgabe."


Der Flusspfad

 

 

Ein grenzenloser, schwarzer Raum umgab Elbrich. Kein Halt, kein Laut, grenzenlose Leere und Stille. Selbst die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Im Inneren Elbrichs jedoch kochte eine turbulente Welt von Gefühlen und Gedanken, die in der momentanen Verwirrung Halt suchten.  Was war geschehen?

 

Er erinnerte sich seiner abfallenden Gesundheit und Körperkraft. Dann war sein Kampf um das Leben zu Ende. Ein Licht umgab ihn und dann kam dieser leere Raum. Er hatte sich durch sein Leben hindurch mit Spiritualität und auch Jenseitswelten befasst, doch diese Situation war ihm fremd. Konnte sie Realität sein oder war sie nur Täuschung? Hatte er eine Fieberphantasie oder war er verstorben?

 

Noch im Grübeln hörte er eine weibliche Stimme, die von überall her zu kommen schien:

"Du hast deinen physischen Körper abgelegt und stehst vor einem neuen Lebensabschnitt. Löse deine Gedanken von allem, was dir zu Lebzeiten wichtig erschien, es hat jetzt keine Geltung mehr und ist nur dazu angetan, dich in deinem Weitergehen zu behindern.  Konzentriere dich auf das was kommt. Sei unbesorgt, du bist nicht allein und nicht unbeschützt, auch wenn du dich bisweilen verlassen fühlen mögest. Ich war immer bei dir und begleite dich auch jetzt, unsichtbar, wie auch auf deinem Erdenweg. Wenn du dich nach innen wendest, kannst du meinen Rat als Intuition erfühlen, jetzt sogar besser als in deinem vergangenen irdischen Leben. Erinnere dich immer meiner Worte und fühle dich nicht verlassen, ich bin bei dir!

Wenn immer du Entscheidungen zu treffen hast, höre in dich hinein. Ebenso, wenn du Trost brauchst.

 

Dein jetziger Zustand entsteht dadurch, dass deine irdischen Wahrnehmungen erstorben und deine neuen Sinne noch nicht erwacht sind. Dieser Zustand geht schnell vorüber. Merkst du, wie du in eine jenseitige Landschaft gezogen wirst? Du kannst es fühlen, auch wenn du nichts siehst und hörst. Es sind deine Seelenkräfte, welche dich dort hin ziehen.

Noch etwas zu der Welt, in der du dich bald befinden wirst: dein höherer, unsterblicher Wesensteil hat diesen Weg für dich ausgesucht. Du wirst in eine karge Welt gelangen. Nicht zur Strafe, sondern aus deinem dir noch unbewussten Wunsch einem Freund zu helfen, der sich dorthin verirrt hat. Mit ihm bist du in früheren Leben  verbunden gewesen. Ihr habt euch öfters als nur einmal Treue geschworen. Sie blieb bestehen, auch wenn die Wirren der Schicksale euch bisweilen auseinander und gegeneinander getrieben haben. Du wirst den Weg zu ihm und noch einen weiteren Freund finden und beiden helfen. Sie brauchen dich.“

 

Kaum waren diese Worte verklungen, sah Elbrich vor sich einen Schein, einer matten Scheibe gleich. Bald vergrößerte sich dieser Bereich als würde er darauf zufliegen.. Es war keine Zeit um nachzudenken, denn schon, ohne aufzuschlagen, fühlte er harten Boden unter sich. Er lag auf dem Bauch, seine Hände ertasteten kantiges Geröll. Er hob seinen Kopf und sah Nebelschwaden, die über steiniges Gelände zogen. Dann stand er auf. Es gelang ihm mühelos, alle körperlichen Erschwernisse der letzten Zeit waren fortgewischt.

 

 

Elbrich

 

Er blickte um sich. Vor sich und zur rechten Seite erstreckte sich begehbares, ebenes Gelände. Es war karger Boden ohne Bewuchs, bedeckt mit Geröll. Sich nach hinten wendend sah er steil ansteigende Hügel, sich teilweise in Nebel auflösend. Sie waren ebenfalls kahl und von gleicher Beschaffenheit wie der Rest. Links, nicht weit von seinem Standort, schien ein Flusslauf zu sein, mit winterlich blattlosen Bäumen und gelbbraunen Gräsern. Dorthin entschied er sich seine Schritte zu lenken.

 

Es war ein ausgetrocknetes Flussbett. An seinem Ufer fand sich ein Pfad, den Elbrich nun entlang ging. Der Pfad schlängelte sich um Felsen und kleine Hügel. Bisweilen bahnte er sich durch dichtes Gebüsch, dann wieder zeigte sich offenes Gelände mit trockenem Gras. Aber immer blieb er möglichst nahe dem Flussbett. Würde die Sonne scheinen, so würde das Gras in herrlichem Goldgelb aufleuchten. So aber sah es winterlich dürr aus. Dennoch fand Elbrich es schön diesen Weg zu gehen. Er liebte Abwechslung und er liebte das Unbekannte. So manch dicker Weidenbaum mit hohlem Stamm und knorrigen Ästen hätte einen Maler entzückt. Ängstliche Gemüter wiederum hätten in den nebelumwobenen Bäumen bedrohliche Gestalten gesehen, hätten sich hier schutzlos und verlassen gefühlt. Seltsam, wie unterschiedlich Bewertungen sein können. Jedenfalls Elbrich, der lange Zeit durch Krankheit ans Bett gefesselt gewesen war, genoss es, sich frei bewegen zu können und eine vielfältige und abwechslungsreiche Landschaft vor sich zu haben.

 

Es mochte wohl geraume Zeit vergangen zu sein, und er hatte eine weite Strecke zurückgelegt. Dennoch kannte er keine Müdigkeit und war frisch wie zu Beginn seiner Wanderung. Entsprechend gut war auch seine Stimmung. Aufmerksam betrachtete er alles, was sich seinen Augen bot.

 

Die Umgebung des Flusslaufes wurde felsiger und nach einer scharfen Biegung schienen Flusslauf und Weg in ein breites Tal hinab zu führen. Offenbar war es ein Hochland, auf dem er gewandert war. Zur rechten Seite war ein haushoher Felsblock, der leicht zu erklimmen war. Darauf stieg Elbrich. In einem großartigen Panoramablick konnte er die Landschaft unter sich weit überblicken. Hin und wieder übertünchten Nebelschleier, aus denen dürre Bäume wie Finger herausragten, manche Niederung. Elbrich setzte sich und genoss den Ausblick.

 

Gleichmäßig senkte sich das Tal vor ihm in die dunstige Tiefe. Doch siehe, seitlich des Hangfußes lag eine Stadt. Halb verdeckt gab sie einen kleinen Teil ihrer Häuser und einer Stadtmauer zu sehen. Ein schmutziger Dunst schien diesen Teil noch zusätzlich zu verdecken. An manchen Stellen war der Schleier in schwachem Rot erhellt, als würde es darunter brennen. An anderen Stellen war er rauchig dunkel.

„Merkwürdig“, dachte Elbrich. „Hier gibt es keine Abgase von Heizung und Autos. Sollte es die Aura der Stadt sein? Die Farben und Qualitäten von Gedanken und Gefühlen, die empor qualmen? Das würde nichts Gutes verheißen!“

Noch nie hatte er bislang eine Aura gesehen, weder in seinem irdischen Leben, noch in der bisher durchwanderten, menschenleeren Gegend. Hier aber schien er eine solche vor sich zu haben. Warum sollte er sie nicht sehen können? Er sah ja jetzt nicht mehr mit physischen Augen, sondern hatte einen Astralkörper mit astraler Wahrnehmung.

 

Neugierde erfasste ihn und er fand es verlockend, das Tal hinunter zur Stadt zu eilen. Allerdings war die Ausstrahlung der Stadt eine deutliche Warnung. Elbrich war hin und her gerissen. Er entschloss sich zu einem Kompromiss: „Ich werde sie mir aus der Nähe ansehen, aber nicht betreten.“ Das schien sowohl der Neugierde als auch der Vorsicht gerecht zu sein. So wäre es möglich, sich mehr Klarheit zu verschaffen.

 

Elbrich macht sich auf den Weg.

Die Atmosphäre wurde zusehends schwer und bedrückend. Es war wie eine Last, die sich auf die Seele legte und stumpf und willenlos machte. Elbrich aber fühlte sich stark genug, um dem widerstehen zu können.

Nicht lange, der Weg wurde breiter, wurde zur Straße und führte zu einem Tor in der Stadtmauer.

Nun stand er nur noch wenige Schritte von dem Tor entfernt. Es war ein eigenartiges Tor. Kein viereckiges, verschließbares Loch, wie man allgemein Tore beschreiben könnte. Nein, dies war ein Kunstwerk, wenngleich kein ansprechendes. Es war das Halbrelief eines weit aufgerissene Rachens eines Stieres aus glattem Stein. Es erweckte den Eindruck, als würden Eintretende von seinem Rachen verschluckt werden.

 

 

Das Höllentor

 

Noch in Betrachtung versunken, beschlich Elbrich ein Empfinden, als ob der Stier leben würde und seine Augen drohend auf ihn gerichtet wären. Elbrich erinnerte sich an Märchen, in denen Bilder und Figuren von Geisterschlössern ein Scheinleben hatten und Besuchern mit ihrem Blick folgten. Hier schien es Wirklichkeit zu sein. Nein, es war doch anders als in den Geisterschlössern der Märchen. Die Augen des Stieres schienen nicht nur zu leben, sie strahlten Energie aus. Eine zwingende Energie!

Elbrich wurde schwach in den Beinen, Kälte und eine Gänsehaut überzog seinen Rücken. Mit Willensanstrengung, möglichst schnell, bevor es zu spät war und er dem Bann des Tores unterlegen war, drehte er um und beeilte sich, möglichst rasch und weit von hier weg zu kommen.

Erleichtert atmete er auf, als er den Felsen erreicht hatte, von dem aus er zuerst die Stadt gesehen hatte. Den ganzen Weg zurück, allerdings mit abnehmender Kraft, fühlte er den stechenden Blick des Stieres in seinem Rücken. Die unsichtbare Kraft schien ihn zu verfolgen. Doch je weiter er sich von ihrer Quelle entfernte, desto stärker fühlte er die eigene Kraft und Vitalität obsiegen.

 

Elbrich setzte sich wieder auf den Felsen als Aussichtsplattform und überlegte. Er fühlte sich nunmehr sicher genug.

Zu seinem Erstaunen machte er folgende Beobachtung: wenn er länger zur Stadt blickte, fühlte er sich von dieser angezogen. Ein gleichsam innerer Sog begann seine Entscheidungsfähigkeit zu benebeln, um ihn unwiderstehlich zur Stadt hinab zu ziehen. Wenn er weg blickte, die Landschaften zu seinen Seiten betrachtete, dann flachte das Verlangen ab und er wurde ruhiger. Es war bemerkenswert, wie eine bloße Hinwendung des Blickes sich dermaßen auswirken konnte. Er testete dies einige Male aus. Jedes Mal kam er zum gleichen Ergebnis. So entschied er sich, nicht mehr zur Stadt hinab zu blicken und damit den Sog zu vermeiden. Er begann die nächsten Schritte zu überlegen. Es gab nur noch zwei Richtungen, denen er folgen konnte.

 

Sein Verlangen nach menschlicher Gesellschaft war gewachsen. Es war anfangs schön die Landschaft zu bewundern. Doch sobald Neuartiges auftauchte, wie etwa die Stadt, wäre es doch schön gewesen jemanden bei sich zu haben, um sich beraten zu können.

Die menschenleere Gegend zu seinen Seiten bot allerdings keine Aussicht auf Begegnung. Das machte es ihm nicht leicht, eine Entscheidung zu finden.

„Jede Gegend ändert sich einmal und es wäre doch schön, könnte man hinter den Horizont schauen. Aber vielleicht war das sogar möglich? Zwar nicht, um das Dahinter zu sehen, aber vielleicht konnte man es erspüren?“

 

Er stand auf, schloss die Augen und fühlte in sich hinein. Um mehr Klarheit zu bekommen, versuchte er seinen Wunsch den rechten Weg zu finden in Worte zu fassen. Zuerst formte er den Wortlaut in Gedanken, wiederholte diese und schließlich sprach er laut aus: „Welche Richtung soll ich wählen?“ Zwei oder dreimal sprach er es aus. Das laute Sprechen klärte sein Bewusstsein und verbesserte seine Konzentration. Während dessen begann er sich langsam im Kreis zu drehen.

Der Versuch brachte keine Klarheit. Allerdings die Richtung der Stadt konnte er auch mit geschlossenen Augen deutlich spüren. Also war etwas an der Methode dran. Das ermutigte ihn. So gab er nicht auf und setzte den Versuch fort. Diesmal schloss er die Augen und drehte sich abermals, jedoch schweigend, aber dennoch die Suchfrage in sich und aufmerksam auf seine inneren Empfindungen achtend. Ganz langsam drehte er sich, immer wieder innehaltend, um besser nach innen horchen zu können.

 

Da, auf einmal kam ein leicht besseres Gefühl in ihm auf. Er öffnete die Augen und erkannte, dass die Richtung, die sich besser anfühlte, nach rechts führte, senkrecht zum abfallenden Weg. Weit weg war eine Felswand zu sehen, welche die davor liegende Steinebene säumte. Sie schien nicht hoch zu sein, vielleicht nur 50 oder 80 Meter. Ein vages Gefühl ließ die Felswand bedeutsam erscheinen. Dennoch war er sich nicht sicher, ob es Wunsch, Täuschung oder eine innere Hellwahrnehmung war. Er fühlte sich wie ein Rutengänger, der seine Fähigkeit erst seit Kurzem erworben und erprobt hatte, unsicher und doch auf das höchste am Ergebnis interessiert. Er drehte sich noch einige Male in die unterschiedlichen Richtungen, und das Empfinden eines guten Gefühles auf der rechten Seite wiederholte sich. Das Gefühl war nur schwach und er war sich deshalb nicht ganz sicher. Da aber keine Richtung etwas Besseres zu bieten hatte und er zudem die Richtigkeit seiner Wahrnehmung überprüfen wollte, nun, warum sollte er dann nicht nach rechts hin zur Felsenwand gehen?

 

Bald war die Felsenwand erreicht. Dort fand sich ein schmaler Fußpfad, der an ihr entlang führte. Angekommen entschied sich Elbrich für die linke Seite, also die Fortsetzung der alten Richtung. Der Landschaftscharakter wechselte. Hecken begannen die ursprünglich freie Seite zu begrenzen. Zwischen den Hecken wuchsen immer öfters Bäume und bildeten einen Wald, allerdings mit schwer begehbarem Dickicht.

 

Im Weitergehen dachte Elbrich nach, ob es ihm möglich wäre, wieder jene Stärke des religiösen Vertrauens zu erlangen, wie sie ihn auf Erden oft begleitete hatte. Er besann sich darauf ein religiöser Mensch und Idealist gewesen zu sein. Noch während dieser Gedanken ertappte er sich, dass weniger Edelmut sondern eher Egoismus der Hintergrund für sein Bedürfnis war. Denn, wenn man es genau nahm, jetzt wo er keinen menschlichen Begleiter hatte, musste Gott als Ersatz herhalten. „Ach ja“, seufzte er in sich hinein, „des Menschen Seele hat zwei Seiten: eine des Vergnügens, wenn es ihm gut geht und eine religiöse Seite, wenn es ihm schlecht geht.“

 

Nun, so war es leider. Aber sollte er aus dieser Erkenntnis heraus den unterschwelligen kleinen Rest an Religiosität über Bord werfen? Nein!

Er blieb stehen und versuchte den Psalm „Der Herr ist mein Hirte“. Jedoch zu seinem Erstaunen fiel ihm die Wortfolge des Psalms nicht ein. Mühselig versuchte er Wort für Wort in Erinnerung zu bringen, vergeblich. Seltsam, in seinem Leben war ihm dieser Psalm so geläufig gewesen, schon von Kindheit an. Wie war es nur möglich, dass er nicht beten konnte? War es die Qualität der Ebene, die solches verbot? Selbst die wenigen Sätze, die er zu bilden vermochte, hatten keine Kraft. Er musste sich dermaßen auf den Wortlaut des Psalms konzentrieren, dass religiöse Gefühle und Hingabe nicht möglich waren. So gab er es wieder auf.

 

Grübelnd ging er weiter. Bald schenkte er der Umgebung wieder mehr Aufmerksamkeit, denn der Weg war abwechslungsreich und voll belebender Eindrücke. Der Pfad schmiegte sich eng an die Felswand. Dann weitete er sich in einer breiten Senke aus, um dann, Rinnsalen gleich, sich in mehrere Spurrinnen zu verzweigen.

Wiederum wurde der Pfad schmal und zwängte sich zwischen einem großen, gespaltenen Steinblock durch. Danach, angeschmiegt an die Felswand, war der Pfad von dieser wie von einem Dach überwölbt.  Einige Schritte weiter stand er auf einmal vor dem Eingang einer Felsenhöhle. Er blickte hinein. Sie war im Ausmaß wie ein großes Zimmer. An die Wände gelehnt kauerten fünf Gestalten.

 

Er trat ein. Nach der Zeit des Alleinseins schien ihm die Höhle mit ihren Obdachsuchenden ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Er hörte genauer in sich hinein. War es wirklich Geborgenheit, was er fühlte? Nein, es war der Drang sich hinzuwerfen und fallen zu lassen! Es war ein innerer Ruf, etwa wie: „vergiss alle Sorgen, lass ab vom Wandern, Suchen, von jeglicher Mühe, lass dich fallen in den Schlaf des Vergessens!“

Merkwürdig, wie stark die Ausstrahlung des Ortes wirkte. Allerdings war sie weniger mächtig als die des Stiertores.

Während seiner Wanderung war er weder von Sorgen gequält worden, noch hatte er sich einsam gefühlt oder den Weg beschwerlich empfunden. Hier wurden ihm Empfindungen suggeriert, die er gar nicht hatte. Wäre er abergläubisch, so würde er sagen: „auf diesem Ort lastet ein Fluch!“

Nein, nie würde er sich hier fallen lassen! Er war alarmiert, war sich aber sicher, dieser Kraft einige Zeit widerstehen zu können. Es war keine Eile geboten.

 

Erinnerungen an frühere spontane Astralreisen formten sich ihm zu Bildern. Szenen stiegen auf, welche mit der jetzigen Situation Ähnlichkeit aufwiesen. In jenen damaligen Reisen war er immer wieder auf Gestalten getroffen, die irgendwo hingekauert, in zeitlosem Schlaf versunken waren. Nur selten hatte er sie wecken und veranlassen können, das Leben wieder aufzunehmen, das im Augenblick so unerfreulich war, dass apathisches Vergessen wie eine Erlösung schien. Die meisten von ihnen hatten nichts gefühlt, waren in ein zeitloses Nichts abgesunken, hatten auf ihr Anrecht auf Leben verzichtet. Sie hatten verschmutzt und wie Leichen in irgend einem Winkel gelegen - erbarmungswürdig, zumindest vom Aussehen her. 

Er allerdings konnte unbehelligt durch diese Orte wandern, erinnerte er sich. Er hatte sich frei und unbelastet gefühlt. Offenbar war sein Inneres nicht in Resonanz getreten.

 

Das könnte auch hier teilweise gelten. Doch zur Sicherheit wollte er sich vorsehen, in solch einen Zustand zu verfallen. Er würde stehen bleiben, und sollte ihn die Müdigkeit noch so sehr zu Boden ziehen wollen! Wieso verließ er eigentlich nicht gleich die Höhle? Das wäre doch das Sicherste! Er schaute in die Runde. Jetzt wusste er es: Wenn es ihm glückte, einen der Anwesenden zu wecken, so hätte er einen Begleiter gefunden! Die letzte Zeit auf seinem Weg hatte er sich nach Gesellschaft gesehnt, nach Menschen, mit denen er seine Gedanken teilen konnte oder mit denen er sich einfach nur unterhielt.

 

Er blickte sich um. Nur zwei von der Gruppe schauten teilnahmslos auf, um bald wieder vor sich hinzustarren. Er versuchte, einen nach dem anderen anzusprechen, jedoch nur ein etwa vierzigjährigen Mann reagierte als einziger. Diesem stellte er sich gegenüber und versuchte, ein Gespräch zu beginnen. Er hatte Erfolg. Der Mann war offenkundig froh, jemanden gefunden zu haben, mit dem er reden konnte. Er begann, von seinem Leben zu erzählen. Offenbar belasteten ihn die Erinnerungen schwer. Sie waren nicht scharf präsent, sondern undeutlich, gleichsam in weite Ferne gerückt und dennoch bedrückend. Wie schwerer innerer Nebel lasteten sie auf ihm. Das Gespräch ließ ihn aus der stumpfen Apathie zunehmend erwachen. Die zunächst schwachen Emotionen, welche durch die Erinnerung aufkamen, schienen ihn mehr und mehr zu beleben. Der Fremde, er nannte sich Emanuel, wurde zusehends lebhafter, seine Sprache betonter. Vor Elbrich rollte sich allmählich die ganze Lebensgeschichte auf.

 

 

Emanuel

 

Emanuel war von braunem Teint und stammte aus Südamerika. Er klagte darüber, dass er als Jugendlicher arbeitslos gewesen war. Er hatte im Freien geschlafen und hatte oft nichts zu essen. Er musste sich vom Stehlen und von Abfällen am Leben erhalten. Gelegentlich wurde er von der Polizei gefasst. Im Gefängnis, fern von Zeugen, hatten sie ihn durchgeprügelt und auf ihn eingetreten. Halbtot wie er war, hatten sie ihn in ein Auto gestoßen und irgendwo wieder abgeladen. Wie Abfall hatten sie ihn an den Straßenrand geworfen. Das geschah nicht nur einmal. Es war kein menschenwürdiges Leben. Kein Wunder, dass er das Angebot annahm, einer Revolutionsarmee beizutreten. Sie boten ihm Essen und Sicherheit. Er wusste nicht wofür jene Leute kämpften, aber jedenfalls gegen jene, die ihn verstoßen und misshandelt hatten. Zudem hatte er die Aussicht nicht mehr hungern zu müssen und nicht mehr ausgeschlossen, sondern einer Gruppe zugehörig zu sein.

 

Wie sich später zeigte, war „Armee“ eine großspurige Bezeichnung. Sie waren in Wirklichkeit ein Haufen Verlorener, im Untergrund, verfolgt und dauernd auf der Flucht. Aber jetzt gab es für ihn kein Zurück mehr. Das Einzige, was ihn damals noch aufrecht hielt, war die Hoffnung auf einen Sieg, der soziale Anerkennung und eine bessere Zukunft versprach.

 

Jetzt, in diesem abgelegenen Winkel einer seltsamen Welt, hier in der Höhle, sah er manches anders. Sie hatten ihn getäuscht. Sie wollten damals Befreier sein, waren aber in Wirklichkeit eher Räuber und wie solche verroht und verfolgt. Nachts hatten sie Dörfer überfallen, tagsüber sich in unwegsamem Gebiet verkrochen, zerstochen und zerschunden, Wolken von Mücken ausgesetzt. Oft waren sie froh gewesen, wenn sie eine Schlange erschlagen konnten, um etwas zu essen zu haben. Ein größeres Tier zu schießen war nicht möglich, denn man hätte womöglich den Schuss gehört und dann wären sie die Gejagten gewesen.

 

Schlachten hatten sie keine geschlagen. Irgendwo oben in einer unbekannten Hierarchie, gab es einen Rat der Revolutionsführer. Emanuel hatte niemals einen von ihnen gesehen. Man erzählte von ihnen, und in ihren Heldentaten wurden sie beinahe zu Göttern. In ihnen lag die ganze Hoffnung. Sie gaben der Gruppe Halt, ließen sie durchhalten und waren die Rechtfertigung für ihr Handeln. Jene weit entfernten Führer gaben ihnen den Glauben für das Gute zu kämpfen.

 

Irgendwann wurde ihre Gruppe im Dschungel vom Militär aufgespürt und einer nach dem anderen wurde erschossen. Gefangene wurden nie gemacht. Da das offizielle Regime die Existenz revolutionärer Gruppen verleugnete, durfte es auch keine Gefangenen geben. Sie hätten einen unerwünschten Beweis abgeben können.

 

Emanuel war nach seinem Tod noch lange durch den Dschungel geirrt, war auch durch Dörfer gekommen, aber niemand hatte ihn beachtet oder gar gefürchtet. Es war, als wäre er für die Leute unsichtbar. Und das war er auch, erkannte er nach einiger Zeit. Dann schien er Fieberphantasien zu haben. Die Welt um ihn änderte sich und war in manchem absurd und ungewohnt. Entgegen der Regel von Phantasien fluktuierte sie nicht, blieb konstant und fühlte sich real an. Es folgten schrecklichen Zwischenperioden, an die er sich nicht mehr erinnern mochte. Dann gelangte er in diese Höhle und folgte dem inneren Drängen nach Ruhe. Hier legte sich die Angst verfolgt zu werden,. Aber die versprochene Ruhe war Täuschung. Schwer belastete ihn die Vergangenheit, dumpf und unauflösbar. Grübeleien und schreckliche Visionen waren seine Begleiter.

 

Er wisse nicht, sagte Emanuel, wie lange, ob Monate oder Jahre, er so zwischen langen Schlafperioden dahinvegetiert habe. In seinen Wachperioden habe er über sein vergangenes Leben gegrübelt. Allmählich seien ihm Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Aufträge seiner ehemaligen und nie gesehenen Befehlshaber gekommen. Es war manches falsch, was er getan hatte, das war ihm nun klar, aber was er an Stelle dessen hätte tun sollen, das wusste er nach wie vor nicht.

 

Emanuel klagte weiter: „Und zu allem Unglück verfolgen mich die Menschen, die ich getötet oder beraubt habe, in Gedanken und Visionen. In Wellen erreicht mich ihr Leid, das ich mit verursacht habe. Ich sehe schreckliche Bilder, die schmerzhaft in mir brennen.“

 

Elbrich nickte. „Das Leben ist nicht leicht. Fehler sind gar rasch passiert. Oft wird man in Situationen hinein gezwungen. Wenn man alle Kraft aufwenden muss, um die nächsten Augenblicke zu überleben, wie kann man da noch an die Konsequenzen der Taten denken. Jedenfalls, was passiert ist, kann man zwar nicht mehr rückgängig machen, aber man kann aus Vergangenem lernen und sich bemühen, es in Zukunft besser zu machen. Die Zukunft liegt vor uns. Meistern wir sie. Nichts ist endgültig, alles ist in Fluss. Komm mit mir, wir werden das Land durchwandern auf der Suche nach einer besseren Welt. Das und unsere Gespräche werden dich ablenken und auf bessere Gedanken bringen.“

 

Dann streckte er Emanuel seine Arme entgegen, um ihm beim Aufstehen zu helfen.  Aufmunternd fügte er hinzu: „Komm, lass uns gehen. Ich wäre glücklich dich als Begleiter zu haben. Ich war auf meinem Weg einsam und würde mich über dich als Kameraden sehr freuen.

 

Das ließ sich Emanuel nicht zweimal sagen. Er nahm die dargebotene Hand an und stand auf. Zustimmend nickte er Elbrich zu, und sie sahen einander erstmalig in die Augen. Sie mochten einander, das fühlten sie beide.

 

Gemeinsam gingen sie den Pfad weiter. Emanuel bedeutete Elbrich, dass die Gegend durch seine Gesellschaft verändert schien und viel von ihrer ursprünglichen Bedrohlichkeit verloren habe. Zusehends wurde er unbeschwerter. Die Gespräche vertrieben ihnen die Zeit, man lernte von einander und der Weg wurde leicht und unbeschwerlich.

 

Es dauerte nicht lange, und die Felswand zur Rechten wich zur Seite. Jetzt gab sie den Blick frei auf einen breiten Bergeinschnitt, der von sanften Hügeln begrenzt war. Bäume und Gestrüpp waren allmählich weniger geworden und bildeten einen lockeren Verbund. Der Boden bestand nach wie vor aus Geröll, dazwischen gab es jedoch hin und wieder Stellen aus harter Erde.

 

Der Weg begann anzusteigen. Ein oben abgeflachter Felsen zu Seiten des Weges lud ein, auf ihm eine Rast zu machen. Er ragte aus den schütteren Hecken heraus und man konnte leicht auf ihn hinauf klettern. Elbrich und Emanuel hatten Lust sich zu setzen. Sie waren nicht müde. Sie hatten alle Zeit zur Verfügung. Weshalb sollten sie nicht ein wenig mit dem Wandern inne halten?

Schweigend saßen sie da und blickten auf den sanft geschwungenen Hang, an dessen Fuß sie sich nun befanden. Man sah, dass der Pfad in der Mitte der Talmulde zur Hügelkette empor führte und zusehends breiter wurde.  Knapp vor den Anhöhen wurden die Flanken des Tales enger und steiler. Oben schien das nun engere Tal eine Biegung zu machen und war nicht mehr einsehbar. Ihr zukünftiger Weg versprach anders zu werden.

 

 

Das Palais

 

Elbrich und Emanuel beschlossen zur Hügelkette hinauf zu gehen.

Während sie eifrig die Möglichkeiten besprachen, die sie erwarten könnten, stiegen sie in sanfter Steigung langsam höher. Obwohl weiterhin steinig und von Gestrüpp bewachsen, bot die Landschaft zusehends einen lockeren, hellen Anblick. Zwischen den vereinzelten Inseln von blattlosem Strauchwerk sah man trockenen Boden und niederes gelbbraunes Gras, das in Kontrast zu den bislang gewohnten grauen Steinen sogar schön aussah.

 

Es dauerte nicht lange, da gelangten die zwei an die Biegung des höher gelegenen Hangeinschnittes, den beide bei ihrer Rast vom Felsen aus gesehen hatten.

Der Weg wurde enger und bald waren sie oben am Hügelkamm angelangt. Vor ihnen war ein Plateau aus sanften Hügeln, die wie von goldbraunen Grasbüscheln bedeckte Wellen aussahen.

Sie waren nicht weit gegangen, als sie auf einen letzten Hügel gelangten, von dem aus sich ein sanfter Hang nur wenige Meter tief abwärts neigte, ausreichend, um von hier aus ein wunderschönes Panorama einsehen zu können. Vor ihnen weitete sich eine Ebene, verlor sich in weiter Ferne, um am Horizont mit dem Himmel zu verschmelzen. Die Luft war klar und rein. Es war hell, etwa wie zu Mittag an einem wolkenverhangenen Wintertag.

 

All diese erfreulichen Aspekte wurden bedeutungslos in Anbetracht eines weiteren unerwarteten Anblicks:  Vor ihnen lag eine Stadt, klar und deutlich. Sie sahen einen steinernen Stadtturm, Reste einer Stadtmauer und viele Giebel eng aneinander geschmiegter Häuser. Einige kleine Gebäude und Straßen, offenbar in neuerer Zeit erbaut, lagen in lockerem Verbund, von Hausgärten umgeben, davor. Welch ein Kontrast zum bisher Gesehenen.

 

Beide strahlten vor Begeisterung. Sie konnten es kaum glauben. Schweigend, so als könnten Worte diesen schönen Traum verscheuchen, beschleunigten sie ihre Schritte und erreichten bald das erste Haus. Der steinige Weg, auf dem sie gekommen waren, setzte sich hier als gepflasterte Straße fort. Jetzt gingen die beiden Freunde langsamer, um frei von Hast die einzelnen Eindrücke aufnehmen zu können.

 

Neugierig und alles genau betrachtend, waren sie sich noch unklar, ob hier Frieden und Schönheit oder auch ungute Überraschungen auf sie warten würden. Speziell Emanuel war aus alter Gewohnheit höchst vorsichtig und abwartend.

Auf jeden Fall, für den ersten Eindruck, schien diese Gegend weit besser zu sein, als jede andere, die sie auf ihrer bisherigen Reise durchwandert hatten.

Hier im Vorviertel, waren nur wenige Menschen auf den Straßen, niemand kümmerte sich um sie und es herrschte eine friedliche Atmosphäre.

 

Die ersten, noch von Gärten umgebenen Häuser rückten näher zusammen und bildeten bald eine geschlossene Front entlang der Straße. Bald standen die zwei Freunde vor einer hölzernen Brücke, die über einen trockenen Graben führte, direkt zu einem weit gewölbten Durchgang in der Stadtmauer, von einem mächtigen Wehrturm überragt. Es war dies ein imposanter Steinbau mit winzigen, vergitterten Fenstern, mit Flügeln aus rot-weiß gestreiften, hölzernen Fensterläden. Aus der Mauer schauten unverputzte, große und kleine Steine hervor. Im Turm fanden sich zwei nach innen geöffneten Flügel eines mächtigen Stadttores.

 

Die ursprünglichen Gehwege links und rechts der Pflasterstraße, die an der Brücke nicht mehr vorhanden waren, fanden im Turm eine Fortsetzung, jetzt allerdings als schmale, bepflasterte Säume, eng an die Wand gedrückt und kaum einen halben Meter breit. Sowohl sie als auch die Straße mit ihren Fahrrinnen wirkten wie steinerne Bächlein, die sich nun mühsam durch die Enge des Turmes drängten. Dahinter aber wurden sie breiter und die Wege zur Straße hin durch Arkaden begrenzt. Die Säulen und Bögen der Häuser zeigten steinerne Ornamente oder Motive aus dem Handwerksleben oder aus Mythen. Ein wunderschöner Anblick. Wohin sie auch schauten, bot sich das Bild einer reichen Stadt.

 

Bald tat sich vor ihnen ein Platz auf, umsäumt von schmalen, eng aneinander geschmiegten gotischen Häusern aus glattem Kalkstein mit Verzierungen, Erkern und Türmchen. Einige der Häuser hatten bunt bemalte Fassaden: Szenerien, die darauf rückschließen ließen, mit welchen Waren die Händler, die hier wohnten, handelten. Die meisten Häuser hatten breite, verzierte, eisenbeschlagene Holztore. Weit geöffnet luden Trink- und Imbissstuben die Straßenpassanten ein. Manchmal konnte man hinter einem Haus einen größeren Hof mit Tischen und Bänken sehen. Auch Brunnen gab es, bisweilen an einer Hauswand, bisweilen in der Mitte des Hofes. Allerdings führten die Brunnen alle kein Wasser. Elbrich stutzte. War dies ein Zeichen? In seinen früheren Traumdeutungen bewertete er Wasser als Symbol für Gefühle. Konnte es sein, dass es den Bewohnern hier an Liebe und tieferen Empfindungen fehlte? Aufmerksam geworden spähte Elbrich herum und fand, dass auch keine Blumen, nicht einmal kleinste grün beblätterte Zweiglein zu entdecken waren.

 

Nach kurzem Weg befanden sie sich auf einem großen Platz, offenbar der Hauptplatz der Altstadt. Hier tummelten sich viele Menschen, teils in Gruppen, teils einzeln.

Die zwei Freunde wollten zuerst einen Überblick über die Stadt gewinnen und gingen weiter. Vom Hauptplatz aus verzweigten sich einige belebte Straßen. Diese waren in weniger prunkvollem Baustil errichtet als jene Straße, auf der sie gekommen waren. Nach etlichen verwinkelten Gassen hatten die zwei Freunde die Altstadt durchquert und standen wiederum vor der Stadtmauer. Diese war nicht so gut erhalten wie der Teil, durch den sie die Altstadt betreten hatten und war teilweise abgerissen. Durch eine breite Lücke führte die Straße in ein Stadtviertel mit Häusern aus einer jüngeren Bauzeit.

 

Elbrich und Emanuel setzten neugierig ihre Erkundungen fort. Dieses Stadtviertel erweckte den Eindruck eines Nobelbezirkes. Die Häuser waren in der Mehrzahl vier bis fünf Stockwerke hoch, viel breiter als die der Altstadt und reich an Skulpturen, außerdem mit pompösen Portalen versehen. Es standen hier viele und schöne Prunkbauten, wie man sie auf Erden in so dichter Anhäufung nur selten finden würde. Die Freunde waren fasziniert.

 

Sie waren schon gut hundert Meter die Straße entlang gegangen,  als sie stehen blieben, um die Fassade eines der Prunkgebäude genauer zu betrachten. Tor und Fenster waren mit spitzdornigen Ornamenten verziert. Auf den Wandflächen waren Skulpturen, dicht an dicht, als wären die Wände große aufgeschlagene Buchseiten, die über die Geschichte des Gebäudes und seiner aufgeprägten Erinnerungen erzählen wollten. Die Freunde vertieften sich in die reichen Details. Merkwürdig, wie das Sehen hier funktionierte. Die Wahrnehmung schien mit der Aufmerksamkeit gekoppelt zu sein. Je genauer man hinsah, desto plastischer und schärfer wurde alles. Es erweckte den Eindruck, als könnte man jedes Sandkorn herbeizoomen, bis man gleichsam seine Kanten glitzern sah.

 

Zur Überraschung der beiden zeigten die Körper und Gesichter der Skulpturen ein dämonisches Aussehen. Es waren gepanzerte Krieger und Mischwesen, mit harten, steinernen Gesichtern oder drohenden Fratzen. Fast schienen sie sich bei genauerer Betrachtung zu beleben. Elbrich und Emanuel waren verblüfft. Diese Art von Skulpturen hatten sie nicht erwartet. Es waren nicht die lieblichen und romantischen Darstellungen der Gründerzeit, einer Bauepoche, welcher man diese Gebäude hätte zuordnen können. In erster oberflächlicher Betrachtung hatte doch die Hausfassade einen harmonischen und schönen Eindruck erweckt.

 

Erschrocken prallten Elbrich und Emanuel zurück: Als sie die nächste Fassade fixierten, verwandelten sich die scheinbar schönen Reliefs ebenfalls in Fratzen und Tiermenschen mit Klauen, aufgelockert durch Fabeltiere, die  aus Horrorfilmen hätten stammen können. Es schien, als ob die Freunde durch ihre verstärkte Aufmerksamkeit einen Nebel der Täuschung durchdrangen. Nur auf diese Weise, so schien es, öffnete die Fassade wie ein Fenster das Wesen ihrer Bewohner. Es war, als ob die Absicht der Hausbewohner zur Täuschung und Beschönigung durch den Willen der Freunde und deren Streben die Wahrheit sehen zu wollen, bezwungen werden musste. Dies war die zweite Entdeckung bezüglich eines durch Aufmerksamkeit veränderten Sehens: durch einen zielgerichteten Blick konnte man nicht nur schärfer sehen, sondern auch Verschleierungen durchdringen.

 

Die anfänglich große Enttäuschung über die Entlarvung dämonischer Kräfte, wurde alsbald durch die faszinierende Entdeckung des aufmerksamen „Willensblickes“, wie sie die neu entdeckte Art des Betrachtens bezeichneten, wettgemacht. Sie waren erregt und begeistert über die vielen Möglichkeiten und Überraschungen, welche diese Welt zu bieten imstande war.

 

Wer waren wohl die Bewohner dieses Bezirkes? Spiegelte sich hier ihre irdische Lebensweise aus einer anderen Warte, aus der Warte der Ethik? Lebten hier Menschen, die einmal luxuriös und sozial gehoben, im Inneren aber hartherzig und korrupt waren? War dies die Welt von im Status gehobenen Menschen, die ihren Reichtum unter dem Ächzen zahlloser Sklaven erworben und auf die vernachlässigte Dienerschaft herab gesehen hatten?

 

Vielleicht waren die Häuser der Innenstadt von ähnlicher Art gewesen. Die zwei Freunde hatten in ihrem Enthusiasmus nicht auf Details geachtet. Sollten ahnungslose Menschen durch die Lokale der Innenstadt in die Zustände und Welten geführt werden, auf welche die Skulpturen und Malereien hindeuteten? Elbrich versuchte einige der Außendekorationen jener Innenstadtlokale in Erinnerung zurück zu rufen. Sie waren in keiner Weise dämonisch gewesen, eher hatten sie auf zügellose Vergnüglichkeiten hingewiesen. Retrospektiv hatte die scheinbar entspannte Atmosphäre, welche auf den Fresken zu sehen war, sehr einladend gewirkt. Es war ihnen verlockend erschienen, all die vergangenen Beschwernisse in Fröhlichkeit zu vergessen und sich einzig dem Vergnügen zu widmen. Die zwei Freunde waren in ihren Erkundungen zu begeistert gewesen, um eine Pause einzulegen. Einzig die übergroße Neugierde, die Stadt zuerst zu erkunden, hatte sie vor Lokalbesuchen abgehalten. Vielleicht war dies auch ihr Glück gewesen. Jedenfalls jetzt, nach dieser Erkenntnis würden beide vorsichtiger sein.

 

Wie auch immer, im Grunde genommen war die Stadt schön. Selbst die dämonisch geprägten Fassaden der Häuser und Paläste waren schön und harmonisch auf ihre Art. Alles deutete darauf hin, dass es hier keine offenen Aggressionen gab. Alles spielte sich auf einer subtileren Ebene ab. Wenn man dies beachtete und achtsam war, so schien es, konnte einem nichts passieren. Im Gegenteil, es war sogar möglich, sich an der einzigartigen Schönheit zu erfreuen.

 

Trotz der drohenden Fassaden erweckten die Straßen einen durchaus ruhigen, fast könnte man sagen friedlichen Eindruck. Die Tore waren nicht verschlossen, wie sie durch Ausprobieren heraus fanden, für irdische Verhältnisse sicherlich ungewöhnlich.

 

Allmählich mutiger geworden und mit mehr Selbstvertrauen, entschlossen sich Elbrich und Emanuel eines der Gebäude genauer zu untersuchen. Sie entschieden sich, ein hervorstechend großes Gebäude zu betreten, das den Eindruck eines öffentlichen Bauwerkes erweckte. Auch dieses hatte dämonische Skulpturen auf seiner Fassade, die zur Vorsicht mahnten.

 

 

 

Die zwei Freunde traten ein und sahen sich genau um. Sie durchquerten einen kurzen prunkvoll ausgestatteten Flur. In goldener Umrahmung hingen schwarze Spiegel. Dann folgte eine reich mit Ornamenten verzierte Halle, in der zwischen zwei riesigen steinernen Figuren ein Aufgang und zu beiden Seiten jeweils ein breiter Treppenabgang nach unten führte.

 

Die zwei Freunde gingen die Treppe nach oben, aber dort fanden sich nur leere, kahle Räume. Also kehrten sie um und gingen wieder hinunter.

 

Sie standen nun wieder in der Halle und näherten sich den Abgängen. Aus beiden konnten sie deutlich Unruhe und schwere Luft empor dünsten fühlen.

Für Elbrich war klar, die Treppen führten in eine tiefere Sphäre! Die Assoziation der Aura mit modrigem Kellergeruch passte, wenngleich sie subtiler und vielschichtiger war.

Dennoch zeigte Elbrich Interesse. Genau genommen war es verrückt, eine tiefere Ebene betreten zu wollen, wo doch beide gerade einer solchen, nämlich dem mit Dickicht bewachsenen Steinfeld, entkommen waren. Ursprünglich hatte Elbrich das Haus betreten, weil er sich Stiegen in eine höhere Ebene erhofft hatte. Er wusste, dass auch diese in derlei Gebäuden sein konnten. Obwohl die dämonische Fassade dagegen sprach, war es einen Versuch allemal wert.

 

Nun stand er unschlüssig vor dem linken Stiegenabgang. Er fühlte einen irrationalen Drang die Stiegen nach unten zu gehen. Emanuel weigerte sich hinab zu steigen. Elbrich musste sich eingestehen, dass sein Freund durchaus recht hatte, jedoch ließ er sich von seinem Vorhaben nicht abhalten. Hatte er doch schon zu Lebzeiten bei Astralreisen manches prickelnde Abenteuer in tiefen Ebenen durchgestanden. Solche Ebenen waren voller Gefahren. Gerade deshalb suchte er sie oft in seinem Hang nach Abenteuern auf, gestand sich Elbrich, innerlich lächelnd, ein. Bezüglich seiner Astralreisen waren diese Gefahren wie Pfeffer für die Speise. Der Unterschied zu früher war nur, dass er sich damals jederzeit in seinen materiellen Körper zurück ziehen konnte, um dadurch jeglicher Gefahr augenblicklich zu entrinnen. Eine Möglichkeit, die jetzt nicht mehr gegeben war. Es gab eine kurze Debatte. Elbrich gab vor, Einblick bekommen zu wollen, wie die tiefere Ebene aussehen könnte. In Wirklichkeit war es der irrationale Zwang, dem er folgen musste. Allerdings versprach er Emanuel, unter keinen Umständen die Stiege zu verlassen und die tiefere Ebene zu betreten. Er gelobte die Stiege nur bis zur Ausmündung hinab zu steigen. Und das meinte er auch ernst.

 

Widerwillig und aus Sorge um seinen plötzlich verwirrten Freund, erklärte sich Emanuel bereit Elbrich zu begleiten. So gingen die zwei die breiten Stufen hinab.

Die Stiege machte etliche Windungen, wurde immer schmaler. Auch die Wände änderten sich; waren sie am Anfang hell und glatt gestrichen, so wurden sie tiefer unten zu roh in den Felsen gehauenen Abgängen. Nach einer scharfen Biegung standen sie unvermutet vor einem Saal mit einer kleinen Türe am anderen Ende, die wie ein Loch in die Dunkelheit führte. Über der Türe war ein Stierkopf und zu ihren Seiten zwei Gestalten, die an Darstellungen des Minotaurus erinnerten. Elbrich war der Stierkopf bereits aus der ersten Stadt, unten im sumpfigen Tal, bekannt und er nahm an, dass die Türe in eben diese Stadt führen könnte.

 

 

 

 

Eilig beschloss Elbrich umzukehren und Emanuel folgte ihm erleichtert. Die Zufriedenheit Emanuels wich jedoch augenblicklich, als Elbrich, oben in der Halle angekommen, nunmehr den rechten Stiegenabgang testen wollte.

 

Unter Protesten folgte Emanuel auch diesmal. Sie gelangten auf einen breiten Stiegenabsatz, von welchem aus die Stiege in einer Windung weiterführte. Ein Stück weiter und sie waren am Ausgang, der diesmal nicht so bedrohlich aussah und aus einer schlichten Maueröffnung bestand. Diese mündete in eine finstere, kalte Landschaft.

Im Vordergrund lagen rostige, bizarr in die Luft ragende Eisenteile herum, Überbleibsel ehemaliger großer Maschinen und Anlagen. Die Fülle von Zivilisationsschrott war überwältigend: Schiffe, Panzer, Lokomotiven und undefinierbare Trümmer, dazwischen Beton und zerfallenes Mauerwerk.

 

Aus einem Wrackteil nicht weit vom Ausgang schien sie jemand zu beobachten. Elbrich und Emanuel blieben am Stiegenausgang stehen und warteten ab.

 

Minuten schienen zu verstreichen, da trat aus dem Schatten eines dieser Wrackteile ein zerlumpter Mann hervor. Er trug einen langen Stock. Langsamen Schrittes näherte er sich den beiden Freunden, wobei er Elbrich mit finsterem Blick fest fixierte. Einige Schritte vor ihm blieb er stehen.

 

„Du hast mich also gefunden, in der Absicht dich an mir zu rächen! Es wird dir nicht gelingen, denn ich bin stärker als du und werde dich abermals besiegen!“ So sprach er.

 

Elbrich war erstaunt und sagte zunächst nichts. Dann dämmerte ihm ein inneres Bild auf. Es war wie das Erahnen eines vergessenen Traumes. Es war ein Duell in einem früheren Leben. Er war von seinem Gegner getötet worden. Er erinnerte sich, dass er damals ein Raufbold und guter Fechter war, der sein Können oft herausfordernd zur Schau gestellt hatte. Er hatte dies zur Selbstbestätigung getan. Er hatte Frauen imponieren und Männer einschüchtern wollen - manchmal auch gegen Bezahlung. Einmal allerdings war er an einen Gegner geraten, der besser war; oder er, Elbrich, war an diesem Tag gerade nicht gut in Form. Jedenfalls hatte er den Kürzeren gezogen. Sein Draufgängertum hatte seinem Leben ein jähes Ende gesetzt.

 

„Warum sollte ich mich an dir rächen wollen“, gab Elbrich zurück. „Nur weil du besser warst? Den Sieg hast du dir damals redlich verdient. Rückblickend müsste ich dir sogar dankbar sein. Du hast mich davor bewahrt, in jenem Leben noch mehr Unheil anzurichten. Ich trage dir nichts nach. Es ist alles schon so lange her - du kannst mir glauben: es ist mir sowieso schwer gefallen, mich überhaupt daran zu erinnern.“

 

Der andere starrte Elbrich erstaunt und ungläubig an.

 

„Komm her, geben wir uns einen Handschlag zur Versöhnung“, sagte Elbrich.

 

Etwas zögernd nahm der andere den Stock in die linke Hand. Man sah ihm seine Unsicherheit an - dieses Angebot konnte auch ein Trick sein. Er ging einen Schritt auf seinen ehemaligen Gegner zu, blieb stehen, musterte ihn nach verborgenen Waffen. Obwohl er keine entdecken konnte, sah er immerhin zwei Männer, die ihm gegenüber standen. Sobald er sich näherte, könnten ihn beide gemeinsam überfallen. Elbrich, der diesen Gefühlsablauf verfolgt hatte, bat den Freund, wieder die Stiegen hinauf zu gehen und ihn allein zu lassen. Emanuel kam dieser Bitte nur unwillig und sehr besorgt nach.

 

Jetzt kam der Mann langsam einige Schritte näher, nach wie vor sehr misstrauisch.

 

Elbrich setzte sich darauf hin am Stiegenausgang nieder und lehnte sich dort an die Wand, so als würde er es sich gemütlich machen. Den andern sitzen zu sehen, in einer Position aus der ein Angriff unmöglich war, nahm dem Unbekannten den letzten Rest von Argwohn. So kam er näher und nahm das Angebot zur Versöhnung an. Dennoch blieb er zur Sicherheit stehen. Seine Gesichtszüge entspannten sich allmählich und als nach wie vor alles friedlich schien, war er zu einem Gespräch bereit. Er brachte sich als Johann in Erinnerung. Als er merkte, dass Elbrich wenig Interesse hatte, über jenes vergangene Ereignis zu diskutieren, sondern mehr Wert auf die Gegenwart legte, beruhigte ihn dies noch mehr und so tauschten beide ihre Erfahrungen der letzten Zeit aus. Johann hatte sich endlos, wie es ihm schien, durch unfreundliche Welten durchgeschlagen. Dennoch schien für ihn nicht so viel Zeit vergangen zu sein wie für Elbrich.

 

 

Johann

 

Elbrich seinerseits berichtete von seiner Wanderung entlang des öden Flusslaufs, wie er Emanuel fand und zuletzt von der Stadt, aus der er soeben über den Stiegenabgang herab gekommen wäre. Johann schien über diese Auskunft überrascht. Schon lange hatte er es aufgegeben einen besseren Ort zu finden. Er hielt sich für ewig in die Hölle verdammt. Und nun diese Botschaft!

 

Johann war von der Möglichkeit, in eine schöne Stadt zu gelangen, so erregt, dass sich das Gespräch kaum fortsetzen ließ. In groben Zügen ließ er sich die Stadt beschreiben, und schon drängte er darauf empor zu gehen. Er ließ Elbrich als Führer vorgehen und blieb zur Sicherheit einige wenige Schritte zurück. Oben auf der Straße hellte sich Johanns Gesicht auf. Für ihn war die Stadt schön, wunderschön. Gott hatte ihn nicht vergessen, sich seiner erbarmt und ihm in Gestalt eines ehemaligen Feindes einen Boten geschickt. Schluchzend vor Freude und Dankbarkeit sank er an der Hauswand nieder, blieb dort sitzen und weinte.

 

Der Turm

 

 

Elbrich und Emanuel ließen Johann an der Hausmauer sitzen und gingen wieder ins Palais zurück. Sie wollten das Gebäude noch einmal durchsuchen. Vielleicht gab es dort doch Stiegen, die in eine höhere Ebene führten, und die sie auf den ersten Anhieb nicht gefunden hatten. Sie hatten ihre Hoffnung noch immer nicht aufgegeben. Doch es war nichts dergleichen zu finden. Zwar fanden sie tatsächlich ein kleineres, weniger pompöses Stiegenhaus, das mit seinen Treppen in höhere Stockwerke führte, aber in diesen befanden sich nur leere Räume und nirgends war ein Anzeichen, dass man durch eine der Türen in eine andere Landschaft treten könne.

 

Es dauerte geraume Zeit, bis sie alles durchkämmt hatten und wieder in der Eingangshalle waren. Zurück auf der Straße sahen sie Johann noch immer an die Hausmauer gelehnt sitzen und auf sie warten.

 

Johann schloss sich den zwei Freunden an und alle drei gingen plaudernd weiter. Es gab viel zu erzählen. Johann hatte nun zu Elbrich Vertrauen gefasst.

 

 „Warum bist du nicht selber die Stiegen hinauf gegangen?“, fragte ihn Elbrich, immer noch in Erinnerung an die Kellerebenen des Palais’. „Du bist doch unmittelbar davor gestanden und sicherlich nicht das erste Mal. Du warst doch wahrscheinlich schon einige Zeit in dieser Umgebung“.

 

 „Woher sollte ich wissen, dass da ein Zugang zu einer Stadt und einer besseren Welt sein sollte“, gab Johann erstaunt zur Antwort.

 

Im weiteren Gespräch zeigte sich, dass an der Stelle, wo das Stiegenhaus des Palais’ endete, für Johann ein in die Mauer einer Fabrikruine gebrochenes Loch war. Er hatte nur den unregelmäßigen Verbund der Ziegel gesehen, und dahinter Schwärze. Ein Teil dieses Gebäudeabschnittes war bereits eingestürzt. Wie Johann weiter erzählte, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dieses unsichere Loch aufzusuchen. Dass sich Elbrich in dieser einsturzgefährdeten Ruine versteckt gehalten hatte, um, von der Dunkelheit geborgen, ihm aufzulauern, hatte Johann für ein sehr wagemutiges Unterfangen gehalten. Es war ihm ein Anzeichen dafür gewesen, wie groß der Hass von Elbrich sein musste, dass er dieses Risiko in Kauf nahm.

 

Als dann nach den ersten Augenblicken der Begegnung der Begleiter von Elbrich in den Hintergrund getreten und in der Dämmerung verschwunden war, hatte Johann dies keineswegs als Geste der Friedfertigkeit verstanden. Er hatte im Gegenteil gedacht, dass dieser Begleiter einige Schritte tiefer im Dunkel warten würde, um, aus dem Hinterhalt heraus, seinem Freund im Kampf beizustehen. Johann konnte noch immer nicht genau begreifen, warum er auf Elbrich zugegangen war, ungeachtet dieser Gefahr. Möglicherweise hatte er darauf vertraut, diesen schon einmal besiegt zu haben. Dieses Vertrauen auf die eigene Stärke war sein großes Glück gewesen, stellte Johann nunmehr mit zufriedenem und auch dankbarem Lächeln fest.

 

Alle drei gingen nun in Richtung Stadtrand. Dort fanden sie eine niedere Gartenmauer, die als Sitzbank geeignet schien. Sie setzten sich und begannen, ihre Situation und die kommenden Schritte zu besprechen.

 

Bald waren sie  sich einig, dass sie weiterhin versuchen würden, den Zugang zu einer besseren Ebene zu finden und dies ihr primäres Ziel sein sollte.

 

 „Das mit den Zugängen in höhere Ebenen hat so seine Tücken“, begann Elbrich nachdenklich, nachdem sie zuvor das Palais und diverse andere Möglichkeiten ausdiskutiert hatten. „Eine jede Ebene entspricht auch einem inneren Zustand und Entwicklungsabschnitt eines Menschen. Ist dieser noch nicht abgeschlossen, so ist es schwer die Ebene zu verlassen. Mir fällt da eine Erfahrung ein, die ich während einer Astralreise zu meinen irdischen Zeiten gemacht habe.“ Und damit begann Elbrich, eine kleine Geschichte zu erzählen.

 

„Auf einer dieser Reisen bin ich einmal einem etwa neun Jahre alten Mädchen begegnet. Ich traf es auf einer Landstraße, die durch einen ziemlich finsteren Wald führte. Es herrschte Dämmerung wie an einem späten Abend. Es war nicht sehr einladend, auch nicht für mich, der ich doch die Möglichkeit hatte, mich jederzeit in meinen materiellen Körper, der im wohligen Bett zu Hause lag, zurückziehen zu können. Das Mädchen hatte nicht diese beruhigende Möglichkeit. Es klammerte sich an mich, bat mich zu bleiben, denn es fühle sich allein und verlassen und fürchte sich. Zu allem Überdruss hörte man noch ein fürchterliches Heulen aus dem Wald. Ich hob das Mädchen hoch und trug es in meinen Armen. Jetzt erst wich die Spannung und es weinte. Schluchzend erzählte es mir, dass es von einer Klippe ins Meer hinab gesprungen sei. Immer wieder erzählte es mir dieses Geschehnis. Ich konnte das Bild klar vor meinen Augen sehen, die Klippe und den tiefen Sprung. Das Mädchen konnte sich nicht von diesem Bild lösen.“

 

„Nie habe ich erfahren, warum es von der Klippe gesprungen war. Es war gar nicht in der Lage den Vorfall zu erklären, die Emotionen überschwemmten es in überwältigender Kraft. Sicher war das wegen irgend eines, im Moment nicht zu bewältigenden Problems gewesen. Vielleicht wollte es seine Eltern durch diese Tat bestrafen, aus Trotz wegen einer unverstandenen Zurechtweisung. Kinder haben ja noch keinen Zugang zum Tod und verstehen das nicht so ganz, zumindest wenn sie noch nie in ihrem Leben mit solch einem Ereignis konfrontiert waren.“

 

 „Wie gesagt, tat mir das Mädchen furchtbar leid. Wegen seiner lieben Art hatte ich das Kind sehr in mein Herz geschlossen. Voll Mitgefühl trug ich es teilweise auf dem Arm, teilweise gingen wir Hand in Hand. So wanderten wir die Straße entlang, die scheinbar ohne Ziel endlos weiter ging. Ich versuchte das Mädchen mit Worten zu beruhigen oder abzulenken. Irgendwann sahen wir in einiger Entfernung durch die Düsternis einen Lichtschein schimmern. Wir erhofften uns nun Geborgenheit und beschleunigten unsere Schritte. Das Gebäude, von dem aus wir das Licht vermuteten, schien nicht mehr weit sein.“

 

„Bald hob es sich aus der Dämmerung hervor. Es war ein sehr großes Gebäude und hatte ein mächtiges Tor, in der Dimension eines Stadttores. Dennoch ließ es sich leicht öffnen, und wir gelangten in eine große Halle. Sie erinnerte fast an eine Bahnhofshalle: keineswegs schön, eher nüchtern. Aber nach dem finsteren Wald, aus dem wir gerade kamen, vermittelte dieses Gebäude Schutz und Geborgenheit, was das Wichtigste war. Das Mädchen hörte auf zu schluchzen und beruhigte sich.“

 

 „Auf der anderen Seite der Halle war wieder ein Tor. Intuitiv spürte ich, dass es in eine höhere Sphäre führte. Das Mädchen hatte ich inzwischen so lieb gewonnen, dass ich den intensiven Wunsch hatte: es sollte in einer schöneren Welt leben können und sich nie wieder fürchten müssen.“

 

„In dieser Absicht durchquerten wir die Halle und gingen auf das Tor zu. Dieses öffnete sich wohl mir, verschloss sich aber sofort, als das Mädchen durchschreiten wollte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, das Kind durchzuschieben, misslang es mir. Zuletzt wendete ich Gewalt an: Ich stellte mich in das Tor, blockierte es und zwängte das Kind durch.“

 

„Wie vorher vermutet, waren wir nun in einer höheren Sphäre. Zu meinem großen Erstaunen war das Mädchen hier jedoch nicht geheilt oder glücklicher – ganz im Gegenteil, es brach in heftiges Weinen aus. Es schien verzweifelter als je zuvor, ja, sogar mehr als in der düsteren Waldstraße. Es schrie auf, und vor uns öffnete sich die Erde zu einem rohen Grab. Davor stand es nun und weinte untröstlich. Es war nicht zu bewegen, weiter zu gehen. Es war unfähig das Grab zu verlassen. Ich versuchte, das Erdgrab mit den Füßen zuzuschütten. Doch es öffnete sich schneller als ich es zuschaufeln konnte. Aus zwei Ästen machte ich eine Art Kreuz und sagte „das ist ein christliches Grab, alles ist in Ordnung und in guter Weise erledigt“. Aber auch dies zeigte keine Wirkung. Verzweifelt über den Zustand des Mädchens und all die vergeblichen Versuche, nahm ich das Mädchen abermals in meine Arme und trug es wieder durch das Tor zurück.“

 

„Als wir das Tor durchschritten hatten, wiegte ich das Mädchen in meinen Armen und sang. Ich sang ihm wunderschöne Lieder über das Meer, den Wind und die Wolken. Nie in meinem Leben habe ich zufriedenstellend singen können oder die Texte gewusst. Ich weiß nicht, wer mir diese Lieder eingeflüstert hat, aber sie waren wunderschön.“

 

„Das Mädchen beruhigte sich zusehends. Ich ging zu einem Seitenraum der Halle. Hier gab es keine Fenster und es war etwas dämmrig. Ich bettete das Kind auf den kahlen Boden, wo es bald in Schlaf fiel. In diesem Raum, so hatte ich das Empfinden, würde es schlafen, sich erholen und wenn es dann erwachte, wäre der Schmerz überwunden und es wäre bereit, durch das Tor in die höhere Ebene zu wechseln. Ich konnte nicht mehr länger bei dem Mädchen bleiben, denn es zog mich in meinen Körper zurück. Wieder zurück mit meinem Bewusstsein im physischen Körper blieb ich im Bett liegen, voll von Mitleid und Liebe und bat meine Helfer inbrünstig, sich um das Mädchen zu kümmern. Mir waren jetzt alle weiteren Möglichkeiten genommen. Das Einzige was ich noch tun konnte, war, in einer Kirche eine Kerze anzuzünden und das tat ich auch.“

 

"Ich habe damals viel daraus gelernt“, fügte Elbrich seiner Erzählung hinzu, „und ich habe erkannt, dass man tiefere Ebenen nicht leichtfertig als Orte der Bestrafung bewerten solle, sondern dass sie ein der Seele angemessenes Milieu darstellen.“

 

Die Erzählung gab Emanuel und Johann das Gefühl, dass Elbrich über Wissen verfüge, das ihnen hier eine wertvolle Hilfe sein könnte. Sie bedrängten ihn deshalb mehr von seinem Wissen frei zu geben. Sie hatten bislang ihre Aufmerksamkeit zu sehr auf das Äußere gelenkt, und die Wechselwirkungen zwischen Innen und Außen waren ihnen noch fremd.

 

Elbrich zögerte zunächst, über frühere Interessen und Ausbildung zu berichten. Was seine damaligen Fähigkeiten anbelangte, hatte er nie gern darüber gesprochen. Seine ersten Versuche hatten ihm gezeigt, dass seine Mitmenschen nicht in der Lage waren ihn zu verstehen und seine Erlebnisse als krankhaft oder als Phantasie interpretierten. Doch nach einigem Zögern begann er zu reden, und seine Schilderungen wurden immer fließender:

Er hatte während seines irdischen Lebens die Begabung gehabt, sich in Trance versetzen zu können und Jenseitsreisen durchzuführen. Auch hatte er solche gelegentlich spontan während des Schlafs gehabt. Auf diese Weise hatte er eine Menge gelernt. Freilich war er auch gelegentlich einer Täuschung aufgesessen. Er hatte nie sicher sein können, dass das, was er damals so körperlich intensiv erlebt hatte, nicht lediglich ein plastisches, tagwaches Träumen war. Die Schwierigkeit lag darin, dass sowohl Träume als auch jenseitige Gegebenheiten von der Psyche des Menschen gelenkt werden.

 

Die beiden Begleiter Elbrichs hielten nichts von Einwänden, sondern wollten möglichst viel von den damaligen Beobachtungen Elbrichs hören. Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die er in den Zuständen des Astralwanderns gehabt hatte, war es, emotionale Qualitäten von Umgebungen, Gebäuden und Menschen zu erspüren. Egal, ob die Ausstrahlung von Gebäuden oder von einer ganzen Ebene war, immer stammte sie von einem oder vielen Menschen und prägte sich der Umgebung auf. 

Jedenfalls war es möglich, an der aurischen Prägung des Ortes die Reaktionsweisen ihrer Bewohner abzuschätzen. Wenn er damals bei seinen Astralreisen hellfühlend genug war, erzählte Elbrich, dann konnte er erkennen, ob ihm Gefahr drohte oder man ihm friedlich oder gar liebevoll entgegen kommen würde. Auch während seines Jenseitsweges habe er wiederholt von dieser Fähigkeit Gebrauch gemacht und er erzählte wie er die Ausstrahlung der Stadt mit dem rötlichen Schein erfühlt hatte. Auch erwähnte er, dass es offenbar noch feinere Wahrnehmungen gab. Anders könnte er es sich nicht erklären, dass er damals, als er sich im Kreis drehte, um die beste Richtung zu erspüren, zu Emanuel hin geleitet wurde. Natürlich könnte es auch ein Zufall gewesen sein. Aber mittlerweile glaube er immer weniger an Zufälle.

 

Hier auf die Stadt bezogen könne man an der Ausstrahlung der Häuser erkennen, von welcher Art ihre Bewohner wären.

Zum Schluss bedankte sich Elbrich zum Erstaunen seiner Freunde, für ihre Aufforderung über seine Erfahrungen zu berichten. „Dadurch, dass ihr mich aufgefordert habt, über meine Erfahrungen zu erzählen, ist vieles für mich jetzt prägnanter zu erkennen“, sagte er, „und zudem sind mir hierbei einige gute Ideen gekommen, aber darüber später.“

 

Was sie hörten, war für Emanuel und Johann eine hochinteressante Neuigkeit. Es würde durch das bessere Verständnis in Zukunft leichter werden, Gefahren zu vermeiden und Wege zu schöneren Umgebungen zu finden. In abgeschwächter Weise hatten sie manches zwar schon beobachten können, aber die Empfindungen waren zu verschwommen gewesen, um von ihnen bewusst Gebrauch zu machen. Es war nicht zu unterscheiden ob es Intuition, Einbildung oder Wahrnehmung war. Emanuel dachte an die Höhle zurück. Dort war er sogar einer falschen Empfindung aufgesessen.

 

Elbrich empfahl die Feinwahrnehmungen zu trainieren. Die Idee dazu war ihm während der Erzählung eingefallen. Die zwei Freunde waren sofort begeistert.

 

„Für mich besteht der Trick zu einer verfeinerten Wahrnehmung darin“, erklärte Elbrich, „unabhängig von der äußeren Wahrnehmung gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf das Herzgefühl oder Bauchgefühl zu lenken. Dann spüre ich es. Wieso und warum kann ich nicht erklären. Es ist eine reine Erfahrungsangelegenheit“

 

Emanuel sprang von seinem Sitz auf und rief: „also fangen wir an, versuchen wir ein kleines Training.“

 

Sie gingen wieder ein Stück die Straße zurück. Dort sondierten sie die einzelnen Einfamilienhäuser der Vorstadt und tauschten ihre Wahrnehmungen aus. Mit der Zeit gewannen sie immer mehr Übereinstimmung. Emanuel und Johann mussten immer wieder dagegen ankämpfen, vom Aussehen und Zustand der Gebäude auf die Bewohner zu schließen. Aber es gelang allmählich, diese irdische Angewohnheit abzulegen. Am deutlichsten merkten sie den Unterschied, ob ein Haus bewohnt oder leer war.

Auf einmal blieb Elbrich stehen. Er blickte zu einem ärmlichen, ebenerdigen Haus mit nur wenigen Fenstern.

 

Dadurch aufmerksam gemacht, versuchte Johann hinzuspüren, zögerte kurz und sagte dann: „Hier schläft jemand. Es ist kein erholsamer Schlaf mit schönen Träumen, sondern eher so etwas wie ein Winterschlaf oder eine Ohnmacht. Ein Schlaf, der eine Lebensflucht darstellt.“

 

Emanuel bestätigte diese Empfindung und auch Elbrich. Niemand wollte das Haus betreten und den Schläfer stören und so gingen sie weiter.

 

Nach einem kurzen Stück Ödland, übersät von Zivilisationsrelikten wie Schutt und allerlei Gerümpel, gelangten sie in ein Ruinenviertel. Obwohl es weniger bedrohlich aussah als jene Gegend, aus der Johann kam, war es aber dennoch nicht einladend. Die Häuser hatten Fensterhöhlen, die teilweise mit Brettern zugenagelt waren. Dazwischen lagen Schuttplätze. Nirgends befand sich ein Lokal oder etwas, das zum Verbleiben einlud. Stattdessen lag eine feindliche, hinterhältige Ausstrahlung in der Luft. Alle hatten das Empfinden, dass schon im nächsten Augenblick aus einer dunklen Ecke ein Überfall zu erwarten wäre, würde man weiter gehen. Es schien ihnen, dass hier, hinter kahlen Mauern verkrochen, menschenfeindliche Individuen mit aggressiven Reaktionen wohnten.

 

 Die drei kehrten den Weg zurück. Unterwegs meinte Elbrich, dass man mehr könne als nur die Ausstrahlung zu erfühlen. Es sei zwar wesentlich schwieriger, jedoch lohnend, sich Gedanken zu machen, durch welche Ausgangssituationen die Menschen zu ihrem Verhalten veranlasst werden. Um dies herauszufinden helfe teilweise Logik. Zumindest am Anfang sei sie hilfreich, später würde man sie nicht mehr benötigen. Mit zunehmender Steigerung der empathischen Fähigkeit wäre es möglich immer detaillierter herauszufinden, in welchen Aspekten die Menschen besonders empfindlich wären. Daraus ließen sich Schwachpunkte, Verletzungen und unverarbeitete Aspekte erkennen. Mit einem Wort, je verfeinerter die Wahrnehmungen würden, desto mehr erfühle man von der Persönlichkeitsstruktur. Allerdings in ihrem Jetztwert und nicht in ihrer Geschichte und Entwicklung.

 

„Die Bewohner dieses Vorortes, den wir verlassen haben“, setzte Elbrich fort, „scheinen in ihrem Erdenleben zwar hartherzige Egoisten, aber keineswegs kriminell gewesen zu sein. Ich würde vermuten, sie zählten zu den sogenannten ehrenwerten Bürgern. Sie hatten es zu etwas gebracht - mit ein bisschen Bestechung, ein wenig Betrug, ein wenig Beziehung - und sich solcherart Vorteile verschafft. Auf diese Weise waren sie besser situiert als andere und lebten ihren Wohlstand aus. Diejenigen, die es zu nichts brachten, waren in ihren Augen dumm und ungeschickt. Irdisches Ansehen richtet sich nach Reichtum, Einfluss und Macht. Das aber sind nicht die Bewertungsregeln im Jenseits.

Jetzt ist ihr hartherziges Wesen nach außen zu erkennen. Schon in der Kleidung, denn diese besteht zumeist aus schmutzigen Fetzen. Dieses Aussehen widerspricht dem gewohnten Status und sie schämen sich ihres jetzigen Zustandes. Derart sozial Abgestürzte wollen nicht gesehen werden. Die Aggression, die sie denen entgegenbringen, die sie in ihren Schlupfwinkeln aufstöbern, kommt nicht so sehr aus Hass oder Neid, sondern aus Angst erkannt zu werden und aus Scham. In ihrem früheren Leben waren sie wegen ihres Reichtums geachtet. Von jedem auf der Straße ehrfurchtsvoll gegrüßt, fühlten sie sich bedeutsam. Dass sie diesen Reichtum jedoch oft auf Kosten anderer erwarben, das kam ihnen nie in den Sinn. Da die sozialen Emporkömmlinge nicht gegen das öffentliche Gesetz verstoßen hatten, hatten sie ihr Handeln als gerechtfertig betrachtet. In der jetzigen jenseitigen Welt aber hat sich der Spieß umgedreht. Der Kontrast und der Schock über die jetzigen Realitäten ist für sie zu groß. Sie lehnen die Gesetze dieser Welt hier ab und können den Niedergang ihres durch Reichtum erworbenen Status nicht ertragen oder vor anderen eingestehen.“

 

„Nun, bei dieser Beurteilung kann durchaus eine große Portion Phantasie im Spiel sein“, fügte Elbrich abschließend hinzu. „Aber das macht nichts. Durch diese Art der Spekulation kann man zunehmend mehr Verständnis und Gespür für die verschiedensten Gegebenheiten entwickeln.“ Seine zwei Freunde nickten und fügten weitere, eigene Details hinzu. Sie fanden dieses spielerische Herantasten an das Verständnis für die jenseitigen gestaltenden Kräfte überaus spannend.

 

Jedoch hatte niemand von ihnen Lust, die Gedanken zu überprüfen. Sie wollten keine Konfrontationen riskieren. Deshalb gingen sie weiter in Richtung Stadtzentrum. Sie befanden sich jetzt in einem Vorort mit kleinen Häusern und winterlichen oder dürren Gärten davor. Nach wie vor erschien alles trocken, karg und vegetationslos. Auch war es still. Das kam davon, dass es hier keine Vögel mit ihrem frohen Gezwitscher gab, nicht einmal ein Hundebellen. Elbrich grübelte darüber nach und kam zu dem Schluss: „warum sollten die Tiere nicht in einer besseren Ebene sein? Zumindest würde er es ihnen gönnen. Tiere hatte er immer schon geliebt und ein Hund jetzt an seiner Seite wäre für ihn ein himmlischer Traum.“

 

Wieder blieben sie vor einem Haus stehen. „Es strahlt kalt heraus“, meinte Emanuel. „Hier wohnt jemand, der friert; es ist ein Mann.

Ich habe eine Idee! Wir sind doch gerade bei einem Gasthaus vorbei gekommen. Ich gehe noch einmal zurück und hole eine Flasche Wein. Dann gehen wir ins Haus und laden ihn, wer immer das auch sein mag, ein, mit uns zu trinken und sich aufzuwärmen. Gleichzeitig können wir dann auch überprüfen, ob meine Wahrnehmung stimmt.“

Die anderen zwei waren von dem Vorschlag begeistert

 

Bald schon klopften die drei Freunde an. Weil sich im Innern niemand rührte, öffneten sie selber die Tür und traten ein. Sie standen in einem Vorzimmer. Als sie zur Tür des nächsten Zimmers kamen, erblickten sie einen Mann, der frierend auf einem Stuhl saß. Vom Fenster her hatte es Schnee herein geweht. Es mutete für die drei Freunde merkwürdig an. Draußen war es keineswegs kalt, sondern es glich eher einem Herbsttag.

 

Der Mann war sehr erstaunt, als er drei Fremde seine Wohnung betreten sah. Er hatte aber, wie zu merken war, nichts dagegen. Eher schien er überrascht oder war unterschwellig sogar erfreut darüber, aus seiner kalten Einsamkeit heraus gerissen zu werden. Emanuel bot dem Mann an, mit ihnen einige Glas Wein zu trinken, um sich aufzuwärmen. Schon stellte er zwei Flaschen Wein auf den Tisch. Mit schleppenden Schritten, so, als habe er eingefrorene Glieder, holte der Mann Gläser. Er war der Idee Emanuels sehr zugetan.

 

Langsam belebte sich der Hausbewohner. Er erzählte, dass ihn Zeit seines Lebens niemand geliebt hatte. Seine Eltern waren streng und abweisend. Er war sehr verschlossen gewesen und hatte jede Gesellschaft gemieden, weshalb ihn auch die Schulkameraden nicht in ihre Gemeinschaft integrierten. Und so ging es weiter. Zuerst diese Erfahrungen in der frühen Kindheit, dann in der Schule, dann im Beruf und dann in der Ehe, die bald wieder in Brüche ging. Da die Menschen, wann immer er mit ihnen in Kontakt kam, zurückhaltend bis abweisend waren, war auch er zu ihnen ablehnend und schnell aggressiv. Er begann die Menschen zu hassen und zog sich mehr und mehr zurück. Er hatte keinen Ausgleich, denn allmählich dehnte sich seine Ablehnung auch auf Tiere aus, und auf alles, was versucht hatte, ungefragt in seine Nähe zu gelangen. Nach seinem Tod hatte sich die Situation im Jenseits nicht geändert. Nichts war anders, und wieder zog er sich zurück. Er saß in seiner Hütte, sperrte sich ein und wollte niemanden sehen. Allmählich allerdings wurde die Zeit hier unendlich monoton. Er war unglücklich, aber hinausgehen wollte er auch nicht. Nach wie vor mied er die Menschen. Dass er den Besuch der drei Freunde nun akzeptierte, das wundere ihn selbst. Noch nie in seinem Leben hatte er mit Menschen gesprochen, die so offen und wohlwollend zu ihm waren, wie jetzt seine drei Besucher, so empfand er nun. Und gleichsam seine Worte unterstreichend, schmolz der Schneefleck im Zimmer und wurde kleiner. Es schien, als wäre der Winter für ihn vorbei und eine neue Jahreszeit angebrochen. So lehnte er auch nicht ab, als ihn die drei Freunde einluden mit ihnen mitzugehen, um die Stadt zu erkunden.

 

Sie gingen nun mit ihrem neuen Bekannten weiter in Richtung Altstadt. Sie unterbrachen ihr Training, um den Fremden nicht dadurch zu irritieren. Dieser schien die Stadt mit neuen Augen zu sehen. Nach der langen Monotonie des Alleinseins in seiner Stube waren die vielen Eindrücke interessant und belebend. Jedoch war er nach wie vor wortkarg, hörte lieber zu und ging einige Schritte abseits der drei Kameraden. Bald schon bedankte er sich für die Gesellschaft und verließ sie.

 

Die gemeinsamen Bemühungen und Gespräche hatten Johann mit Elbrich und Emanuel mehr als nur vertraut gemacht. Er gewann immer tiefere Zuneigung zu seinen zwei Kameraden. Nunmehr als sie wieder unter sich waren, setzten alle drei ihr Training des Einfühlens fort. Möglichst unauffällig musterten sie einzelne Passanten und tauschten in kurzen Hinweisen ihre Erfahrungen aus.

 

Mitten in dieser Beschäftigung spürten sie, dass sie beobachtet wurden. Als sie in die Richtung dieser Ausstrahlung blickten, war nichts Auffälliges wahrzunehmen. Auch hörte das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, sofort auf. So ging das einige Male hin und her. Zunächst waren die drei Freunde verunsichert und wussten nicht, ob sie einer Täuschung unterlagen. Da hatte Johann eine Idee. Er schöpfte den Verdacht, dass jene Person ihrerseits auch hellfühlend sein musste und sofort Gedanken und Gefühle abschaltete, sobald er oder sie eine suchende Aufmerksamkeit spürte. Die drei beschlossen den Ort einzukreisen und teilten sich auf, um sich aus unterschiedlichen Richtungen zu nähern. Nicht lange, da gab jene Person den Versuch verborgen zu bleiben auf und gab sich zu erkennen. Es war ein Mann. Er nickte als erstem Emanuel zu, der ihm bereits am nächsten gekommen war. Die zwei anderen hatten dieses Zeichen ebenfalls bemerkt und gingen jetzt direkt auf ihn zu.

 

Zum Erstaunen der drei Freunde trug er eine Mönchskutte. Sie war dunkelblau und zerschlissen. Die Innenseite war gelb. Von gleicher Farbe war ein gelber Strick als Gürtel.

 

Der Mönch merkte das Erstaunen und stellte sich vor: „Ich gehöre zum Orden der Schmutzigen.“

 

„Eine seltsame Benennung“, bemerkte Emanuel, „klingt nicht sehr erhebend!“

 

„Soll es auch nicht“, erwiderte der Mönch, „wir wollen weder den Anschein erwecken, besser zu sein, noch fühlen wir uns so. Deshalb bezeichnen wir uns auch als Orden der Schmutzigen. Diese Bezeichnung mag etwas übertrieben klingen, das gebe ich zu, aber sie kommt gut an.“

 

„Ich bin nach wie vor überrascht, dass es hier Orden und Mönche gibt. Warum bist du Mönch?“

 

„Nun ja“, lächelte der Mönch, „du darfst unsere Lebensweise nicht mit strengen Regeln in Beziehung bringen, mit Selbstkasteiung und Buße. Nichts dergleichen, wir können das Leben durchaus genießen. Der Orden ist für uns eine Organisationsstruktur, die uns ermöglicht, wirksamer und gezielter zu helfen, bei gleichzeitigem Rückhalt und jederzeitiger Unterstützung. Wir sind ein Team, dessen Mitglieder fest zusammen halten, einander helfen und sich bestimmten Aufgaben verpflichtet fühlen. Statt herumzusitzen wie die meisten Leute hier, wollen wir uns nützlich machen und unserem Dasein einen Sinn geben.“

 

„Worin besteht eure Tätigkeit?“

 

„Viele der Menschen, die hier leben, laufen mit Schuldgefühlen und Depressionen herum. Denen wollen wir helfen. Wir lassen sie erkennen, dass sie nicht die einzigen sind, die Fehler gemacht haben und erzählen ihnen aus unserem eigenen Leben. Mit dem Wissen, nicht allein zu sein, und damit, dass selbst schwere Fehler zum menschlichen Leben gehören, erträgt sich für manchen die Vergangenheit schon leichter. Im zweiten Schritt versuchen wir ihnen deutlich zu machen, dass es keinen Sinn hat, an der Vergangenheit zu kleben. Wir bemühen uns sie gesellschaftlich zu integrieren. Sobald sie aktiv werden, sind sie schon von ihren Grübeleien abgelenkt. Manche von ihnen haben in der Nächstenhilfe eine neue Lebenserfüllung gefunden und sind damit zufrieden und glücklich geworden. Ich möchte mich hierbei selbst als Beispiel nennen.“

 

„Wolltest du uns jetzt für deinen Orden anwerben?“ Emanuel runzelte die Stirne, denn er war misstrauisch geworden.

 

„Hmm, eigentlich wollte ich das nicht“, sagte der Mönch. „Genau genommen wollte ich gar nichts. Ich habe nur festgestellt, dass ihr irgendwie anders seid als die übrigen hier. Dadurch bin ich auf euch aufmerksam geworden. Ich wurde neugierig und wollte mir Klarheit verschaffen. Gehört ihr auch einer Organisation an?“

 

Diesmal war Emanuel verblüfft und seine zwei Freunde auch. „Wie kommst du auf die Idee, dass wir einer Organisation angehören könnten?“

 

„Ihr seid geschult und im Vergleich zu den anderen hier, wisst ihr mehr. So etwas kommt ja nicht aus dem Nichts. Irgendwer muss es euch doch beigebracht haben!“

 

Jetzt war Elbrich an der Reihe und er erzählte, dass er in seinem irdischen Leben so einige Erfahrungen gemacht habe, und dass sie sich nun autodidaktisch weiter gebildet und trainiert hätten, weil dies das Leben hier immens erleichtern könne.

 

Der Mönch staunte: „So etwas ist mir noch nie untergekommen! Wollt ihr zu mir in meine Stube kommen und mir das genauer erzählen? Hier auf der Straße spricht es sich schlecht.“

 

Natürlich waren die drei Freunde einverstanden. Sie waren ja Fremde in dieser Stadt. Hier trafen sie einen Ansässigen, der wahrscheinlich auch über manch nützliche Information verfügte.

 

Sie gelangten zu einem seltsamen Mischbau. Es war ein armseliges Klostergebäude mit einem angrenzenden Turm, der für einen Kirchturm sicherlich zu hässlich war. Zielstrebigen Schrittes trat der Mönch ein und ging auf einen Gemeinschaftsraum zu, der bis auf eine weitere Person leer war.

„Ist wie auf der Erde, auch hier ein Mangel an Nachwuchs“, dachte Emanuel in sich hinein.

 

Der Mönch schien die Gedanken Emanuels aufzufangen: „Es lassen sich viele gerne helfen, aber wenige nur sind bereit ihre Eigeninteressen zu opfern, um anderen beizustehen. Wir in unserem Orden sind zu solchen Opfern der Hingabe bereit. Wie steht es mit Euch? Habt ihr genügend Idealismus und Hilfsbereitschaft? Es wäre eine feine Sache, wenn ihr euch uns beigesellen würdet, Arbeit gibt es mehr als genug!“

 

„Jetzt wirbst du aber doch“, lachte Emanuel.

 

Der Mönch wurde verlegen. „Ich kann halt nicht aus meiner Haut heraus. Mich begeistert nun mal meine Tätigkeit und ich möchte an andere weiter geben, was ich selber großartig finde und was mir einen neuen Lebensinhalt gibt. Nimm es mir nicht übel.“

Er setzte das Gespräch locker fort und nach einigen belanglosen Worten bat er die drei ihre Geschichte zu erzählen, sowohl aus dem irdischen Leben als auch einige Stationen der hiesigen Reise.

 

Johann wollte am Ende ihrer Erzählungen nun seinerseits etwas über den Orden wissen: „Viele seid ihr ja nicht, da in eurem Orden. Gibt es jemanden, der euren Tätigkeiten vorsteht und euch koordiniert?“

 

„Ja“, sagte der Mönch und wieder staunten alle drei, denn auf Grund des menschenleeren Klosters hätten sie dies nicht vermutet.

 

„Dieses Gebäude ist nichts anderes als ein zentraler Treffpunkt unseres Einsatzortes innerhalb der Stadt. Die Ausstrahlung dieser Ebene, die von uns als schwer und belastend empfunden wird, erschöpft uns. Wenn wir hier eine Zeit lang gearbeitet haben, dann kehren wir wieder auf unsere eigentliche Ebene zurück. Dort erholen wir uns oder übernehmen vorübergehend andere Tätigkeiten.“

 

„Und wie gelangt man zu jener Ebene?“ sprachen alle drei Freunde wie aus einem Mund.

 

„Über die Stiege von unserem Turm“, sagte der Mönch, und weiter kam er nicht, denn die drei Freunde waren von ihren Sitzen aufgesprungen.

 

Der Mönch war über dieses heftige Begehren mehr als überrascht, doch er machte mit und begleitete die drei Freunde zum Turm, in welchem eine steinerne Wendeltreppe sich nach oben in engen Kreisen verlor. „Die Treppe führt zu unserem Kloster auf einer höheren Ebene. Ich werde euch begleiten.“

 

Alle machten sich auf den Weg. Zur Überraschung von Elbrich und Emanuel jedoch zögerte Johann. Er ging ganz vorsichtig Stufe um Stufe. Die Stufen seien für ihn lückenhaft und sehr wackelig, teilte er seinen zwei perplexen Freunden mit. Für diese sahen sie nämlich sehr solid aus. Ein paar Stufen weiter fiel Johann durch die Stiege durch und lag am Boden gleich neben der Eingangstüre. Der Mönch eilte zurück und rief: „Bleib ruhig, ich komme schon“, und war sogleich wieder unten, gefolgt von Elbrich und Emanuel. Dem Mönch war dieser Vorfall nicht sonderlich fremd. Er bedeutete Johann, dass er sich noch ein wenig im Kloster adaptieren müsse und dann bald nachfolgen könne. Elbrich und Emanuel versprachen Johann, oben auf ihn zu warten. Dann führte der Mönch Johann zu einem Klosterzimmer und bat ihn sich dort auszuruhen. Sein Körper würde sich in Kürze in heilsamer Weise verfeinern und anpassen und dann wäre er imstande die Stiege hinauf zu gehen. Wieder bei den zwei Freunden an der Wendeltreppe, stieg er mit ihnen empor.

 

 

 

Im Ordensasyl

 

 

Der Aufstieg für Elbrich und Emanuel war mühsam. Sie hatten das Empfinden, als wäre ihr Körper doppelt so schwer. Als sie, nach geraumer Zeit, das Ende der Wendeltreppe erreichten und eine Holztüre öffneten, kamen sie in einen großen Raum mit einfachen Holztischen und Stühlen. Zunächst ließ nichts hier erkennen, dass sie auf einer besseren Ebene angekommen wären. Dann jedoch führte der Mönch sie hinaus in den Garten. Entzückt und perplex sahen Elbrich und Emanuel auf ein Blumenmeer. Das hatten sie nicht erwartet. Langsam begriffen sie mit Erstaunen, hier Schutz und eine schöne Welt gefunden zu haben. Ein Gefühl innerer Entspannung kam auf. Die Müdigkeit brach durch, und beide ließen sich auf das erstbeste Rasenstück fallen. Dort schliefen sie ein.

 

Elbrich erwachte als erster, blieb einfach sitzen und betrachtete die Blumen. Wie schön dies war!

Bald darauf öffnete auch Emanuel seine Augen. Sie erhoben sich und umarmten einander schweigend und herzlich. Emanuel sah vollkommen anders aus. Sein vormals herabgekommenes und verhärmtes Aussehen war verschwunden. Jetzt waren seine Gesichtszüge durch das erlittene Leid veredelt und zeigten Reife und Abgeklärtheit.

 

Die friedvolle Ausstrahlung des Gartens übertrug sich auf ihr Gemüt. Sie fühlten sich hier bei guten Menschen. Es war ein völlig anderes Gefühl als bisher, wo sie schon aus Gewohnheit immer auf der Hut vor Gefahren waren. Es tat unendlich gut.

 

Im Garten wuchs eine Birke, unter der einladend ein Tisch und einige Korbstühle standen. Sie setzten sich. Emanuel streckte bequem seine Füße aus. Nach der Ruhe und wunderbaren Erholung hatten sie das Bedürfnis, die neue Situation zu besprechen.

 

"Ich weiß nicht“, meinte Emanuel ein wenig zweifelnd, „ob hier alles so lieblich ist wie in diesem Garten. Ich kann es fast nicht glauben, dass alles wie mit einem Schlag so wunderbar sein sollte. Vielleicht ist dieses Anwesen nur eine kleine Insel. In der irdischen Welt gibt es ja auch kunterbunt schöne, friedliche und gefährliche Plätze gemischt.“ Anscheinend hatte Emanuel so viel Schlechtes erlebt, und das nicht nur im Jenseits, sondern auch auf Erden, dass ihm solch ein paradiesischer Zustand kaum vorstellbar war.

 

„Hmm“, entgegnete Elbrich, „auf jeden Fall scheint es hier wesentlich besser zu sein als überall dort, wo wir zuvor waren. Genießen wir vorerst unsere Erholung und die wunderschönen Blumen und warten wir auf Johann.“

 

 „Ja, hast recht“, entgegnete Emanuel. „Ohne Johann habe ich keine Lust die Umgebung zu erkunden. Wer weiß, ob wir uns dann nicht verirren, nicht mehr zurück finden und Johann verlieren.“

 

    „Bin ganz deiner Meinung“, lachte Elbrich, „lieber warten, und außerdem, diesmal habe ich nicht die Absicht die Stiegen hinunter zu gehen. Auch wenn wieder einmal ein Johann da unten wartet. Abgesehen davon war die Stiege höher und das Stufensteigen beschwerlicher als damals im Palais.“

 

„Oh, welche Einsicht“, stimmte Emanuel erheitert zu. „Wir können ja diesmal durch weniger riskante Manöver zu Informationen kommen. Wie wäre es, wenn wir uns diese von den Ordensleuten holen. Sie können uns Auskunft über die hiesige Welt geben. Sicher vermitteln sie uns in einem kleinen Überblick, was es an Besonderheiten hier gibt und was die Umgebung zu bieten hat.“

 

"Eine gute Idee“ fügte Elbrich hinzu. „Machen wir es uns bequem und warten wir ab. Es wird schon wer in den Garten kommen. Wir müssen ja nicht gleich von Neugierde getrieben ins Haus stolpern. Außerdem ist wirklich keine Eile geboten.“

 

Sie diskutierten und spekulierten noch ein wenig über die zu erwartenden Perspektiven dieser Ebene. Allerdings brachte die Diskussion wenig, sie wussten ja wirklich nicht, was sie hier alles erwarten würde. Es war nicht überraschend, dass das Thema bald erschöpft war.

Sie legten eine stille Pause ein, um sich genussvoll der schönen Umgebung hinzugeben.

 

„Der Mönch hatte noch von anderen Tätigkeiten der Ordensleute gesprochen“, unterbrach Emanuel die Ruhe. „Es würde mich schon interessieren, was die sonst noch so alles machen. Nicht, dass ich da mitmachen möchte. Es gibt noch genug andere Möglichkeiten - und außerdem liebe ich ein ungebundenes Leben.“

 

„Das geht mir genau so“, stimmte Elbrich lächelnd bei. „Sollten wir uns aber wirklich einmal einer Aufgabe widmen wollen, so möchte ich mit dir zusammen bleiben, Emanuel. Wir haben schon so viel auf unseren bisherigen Reisen gemeinsam durchgestanden, und ich habe mich so sehr an dich gewöhnt, dass ich mich ohne dich verlassen und fremd fühlen würde.“ Es klang wie eine Bitte, ein wenig schüchtern.

 

Emanuel strahlte. Er freute sich über die liebevollen Worte und umarmte Elbrich herzlich.

 

„Was den Orden anbelangt“, kam Elbrich auf ihre vorigen Überlegungen zurück, „nehme ich an, dass der „Orden der Schmutzigen“ ein Teil einer größeren Organisation ist, die wahrscheinlich auch noch andere Namen hat und nur in der tieferen Ebene dort unten so heißt. Der Rest des Ordens, der hier irgendwelchen Aufgaben nach kommt, ist sicher völlig anders. Sie haben gewiss in einer anderen Ebene auch andere Situationen und Zielsetzungen.“

 

Sie unterbrachen ihr Gespräch und blickten aufmerksam zu der Türe des Aufenthaltsraumes, die sich gerade öffnete. Es war der Mönch, und der rief ihnen schon vom Weiten zu:

„Euer Freund hat die Stiegen geschafft und befindet sich jetzt hier oben im Asyl“.

Sofort sprangen beide auf und eilten dem Mönch, der schon wieder kehrt gemacht hatte, in das Haus nach.

 

Johann saß im Vorzimmer und man sah ihm die Anstrengung an. Die Stiegen, so erzählte er, waren für ihn unglaublich mühselig gewesen. Oft hatte er sich niedergesetzt, um durch Stunden auszuruhen. Sein Körper habe sich zentnerschwer angefühlt, und die Mühe, sich nach oben zu schleppen, war unbeschreiblich gewesen. Ohne die Unterstützung des Mönches, der ihm immer wieder unter die Achsel gegriffen und ihn gestützt und aufgemuntert hatte, hätte er es nie geschafft.

Dennoch, aller Erschöpfung zum Trotz, strahlte Johann glücklich. Er umarmte seine zwei Freunde, in Freude sie wieder zu sehen.

 

Als die drei Freunde überschwänglich zu reden begannen und dies aussah als könnte es länger dauern, räusperte sich der Mönch. Er nickte allen zu und nahm Johann am Ärmel. Freundlich und nachdrücklich geleitete er ihn in ein helles, mit Blumen geschmücktes Zimmer, wo sich Johann auf das Bett legte. Jetzt empfand er wieder die bleierne Müdigkeit und schlief innerhalb kürzester Zeit ein.

 

Sobald Johann eingeschlafen war, folgten Elbrich und Emanuel dem Mönch in den Aufenthaltsraum. Vor einer ausladend breiten Terrassentür setzten sich alle drei an einen der einfachen Holztische. Ein Ast hing direkt vor der Tür und erweckte den Eindruck, als wären sie im Freien. Auch im Raum standen überall Blumen und die Grenzen zwischen „innen“ und „außen“ schienen sich aufzulösen.

 

„Elbrich und ich haben uns vorhin, als wir im Garten saßen, über euren Orden unterhalten“ sprach Emanuel den Mönch an. „Elbrich meinte, dass es sich bei dem Orden der Schmutzigen um ein spezielles Aufgabengebiet einer größeren und komplexeren Organisation handeln könnte.“

 

„Ja, das stimmt“, meinte der Mönch. „Wir sind eine größere Gemeinschaft, die sich der Nächstenhilfe widmet. Sie wird von Ordensangehörigen aus höheren Ebenen geleitet.“

 

Meine Gruppe ist darauf spezialisiert, in der nächst tieferen Ebene Ausschau nach Leuten zu halten, die schon genügend gereinigt sind und Sehnsucht nach einem sinnvolleren Leben haben. Oder nach Leuten, die Trost und Stärkung brauchen. Um solche Menschen zu finden, ist eigentlich nicht viel mehr zu tun als durch die Straßen zu gehen, aufmerksam zu beobachten und eventuell ein Gespräch mit dem einen oder dem anderen Passanten zu führen.

Es gibt in unserem Orden auch Gruppen, die sich anderen Aufgaben widmen. Wenn ihr noch ein wenig hier bleibt, werdet ihr sicher etliche Angehörige aus anderen Abteilungen kennen lernen und die könnt ihr dann befragen. Sie werden euch sicher gerne Auskunft geben.

Tatsächlich ergab sich einige Male eine solche Gelegenheit und die Freunde machten hiervon ausgiebig Gebrauch. Alles in allem entsprach es jedoch nicht ihren Lebensbedürfnissen.

 

 

In der Tempelstadt

 

 

Johann hatte sich bald erholt, und die Freundesgruppe schien wieder mobil zu sein. Sie waren bislang im Ordensasyl geblieben und hatten von der Umgebung noch nichts gesehen. Jetzt war es an der Zeit, sich über die Zukunft Gedanken zu machen.

 

„Auf und weg von hier, die Welt ist groß“, rief Emanuel und schon hatten sie sich von den Mönchen verabschiedet und waren sie auf der Straße, das Asyl hinter sich lassend. Fröhlich ineinander eingehängt sangen sie und weil sie kein gemeinsames Lied kannten, sang einer nach dem anderen, während die restlichen zwei durch allerlei Geräusche rhythmisch das jeweilige Lied begleiteten. So durchwanderten sie einige Gassen und brachten Leben in die sonst so ruhige Gegend. Als die Reihe zu singen an Johann kam, erzählte er stattdessen:

„Als ich endlich die Treppe geschafft und mich dann oben im Asyl erholt hatte, habe ich mit einem von diesen Ordensleuten geplaudert. Ich wollte wissen, was ihn derart motiviert Tag und Nacht zu arbeiten, und das ohne Lohn“, lachte Johann. „Die arbeiten ja wirklich Tag und Nacht, denn wie mir dieser Ordensmann erklärte, benötigt ihr Astralkörper keine Regenerationsphasen. Schlafen, so meinte er, sei ein unnötiger Luxus und käme nur für Patienten in Frage. Nun, sei es wie es wolle, er erzählte mir, dass er in seiner Inkarnation eine materialistische Weltanschauung hatte. Für ihn hatte eine materialistische Weltanschauung Hand und Fuß, im Gegensatz zu unbewiesenen Religionen. Was in der Wissenschaft behauptet wurde, ließ sich nachweisen. Zudem befasste sich die materiell orientierte Ausrichtung in erster Linie mit den Problemen des Lebens und das war zu diesem Zeitpunkt aktuell. Es war zu dieser Zeit für ihn pragmatisch und zweckdienlich. Jedenfalls, als er verstorben war, und er sich im Jenseits wieder fand, war er ziemlich perplex, als er mitbekam, dass hier das Leben auf andere Weise weitergeht. Übrigens: nach seinem Tod ist er im Ordens-Sanatorium gelandet. Nun gut, als er seine Situation erfasst hatte, ist er gleich dort geblieben, hat sich diesen Ordensleuten angeschlossen und bei denen weiter gemacht. Unter uns gesagt, für mich ist er ein Mensch, der Kontinuität und Ordnung liebt und es bevorzugt, die Welt in ihren naheliegenden Aspekten zu erkennen und in ihr zu wirken.“

 

„Und jetzt worauf ich hinaus will: Unter anderem hat er mir erzählt, dass manche Leute, die im irdischen Leben felsenfest von den materialistischen Lehren überzeugt waren, hier, sobald sie den Irrtum ihrer früheren Anschauungen mitbekommen haben, weltanschaulich so richtig ins Schleudern kommen. Sie schwanken in das andere Extrem. Als Wahrheitssucher tauschen sie den früher gehuldigten Materialismus gegen eine nun aktuellere und richtiger erscheinende Heilslehre aus. Es wimmelt hier von solchen Leuten und wie ich von dem Mönch gehört habe, soll es nicht weit von hier, genau diese Richtung hier weiter, eine Stadt geben mit einem ziemlich großen Viertel, in dem sich Kirchen aller Richtungen, Tempel und Versammlungshallen den Platz streitig machen und dicht an dicht nebeneinander stehen. Und als ob jene Tempel die Masse an Publikum nicht fassen könnten, setzt sich das Predigen und Werben auf der Straße fort. Es muss ein Jahrmarkt aller Religionen und unzähliger Weltanschauungen sein.“

 

„Der Mönch sprach abschätzig darüber, weil alle nur reden und nichts Produktives leisten, im Gegensatz zu den Ordensangehörigen, die die Ärmel aufkrempeln und helfen wo es notwendig ist. Ich will ja zugeben, dass er Recht hat“, sprach Johann weiter, „dennoch liebe ich es mit euch den gemeinsamen Weg einer unbekannten Bestimmung entgegen zu gehen.  Ich würde mir diesen Jahrmarkt riesig gerne anschauen.“

 

Elbrich und Emanuel waren von dem Vorschlag begeistert. Alle drei fühlten prickelnde Unternehmungslust. Sie beschleunigten ihre Schritte, mitten auf der Straße gehend, als wäre diese einzig und allein für sie erbaut. Elbrichs Interesse wurde noch zusätzlich durch seine tiefe Liebe zu Kirchen und sakralen Bauten gesteigert, das aber verschwieg er seinen Freunden.

 

Sie folgten der Hauptstraße und bald ließen sie das Dorf hinter sich. Die Straße führte nunmehr durch freie Natur. Für die drei Freunde war dies ein schon lange vermisster Anblick. Immer wieder wichen sie vom Weg ab, um einfach parallel zur Straße durch die grünen Wiesen zu gehen. Als sie einen Föhrenwald durchquert hatten, standen sie unvermittelt vor der Stadt. Zwischen den Häusern sah man zahlreiche Kirchtürme aufragen. Wie eine Krone erhob sich zudem aus ihr ein Felsenkamm mit phantastischen Prachtbauten. Das Panorama war wunderschön. Sie blieben wie gebannt stehen und genossen den Anblick.

 

Bald durchquerten sie die ersten Gässchen. Eigentlich hätten sie die schönen Häuser und Gärten genießen müssen. Stattdessen aber drängten sie voll Ungeduld zum Hügel im Zentrum. Sie durcheilten etliche Gassen. Es war kein flachgebügeltes Gelände, wie es so oft in monoton konstruierten Städten vorzufinden ist. Nein, es war ein belebendes Auf und Ab, kurvige Straßen, die nach ihren Biegungen unerwartete Schönheiten präsentierten. 

 

Da, endlich erreichten sie das Zentrum und standen vor einem ca. 50 Meter hohen Felsenkamm. An manchen Stellen war kahler nackter Fels, an anderen Stellen war er abgerundet und lieblich von Föhren und Rasen bekleidet. Bisweilen schlängelten sich Stiegen und manchmal blumenumsäumte Wege hinauf. Manche Kirche, die unter anderen Umständen einen nur durchschnittlichen Eindruck gemacht hätte, wurde, auf diesem Felsen thronend, imposant und beeindruckend. Der Felsenkamm, einmal höher und einmal weniger hoch und zusätzlich noch von Schluchten oder sanft verlaufenden Einschnitten aufgegliedert, gab jedem Bauwerk einen individuellen Platz, hob es in seiner Einmaligkeit hervor.

 

Die drei Freunde kletterten einen steilen, von Stufen unterbrochenen Kiesweg empor. Er führte sie zu einem herrlichen Kuppelbau. Er war aus weißem Marmor, mit einer zentralen Kuppel. Davon abgesetzt in vielen Rundungen und Nischen, kleinere Zubauten mit weniger hohen Kuppeln. Im Inneren der Kirche mochten sie  möglicherweise Seitenaltäre bilden. Die strahlend helle Außenfassade der Kirche war reichlich verziert mit steinernen Ornamenten. Kupferne Girlanden, die sich durch ihr Dunkel wunderschön abhoben, färbten durch ihre Patina Teile des Gesteins grün, und hoben so manche Stelle auf ihre Art hervor.

 

Der Weg mündete oben in ebenes Gelände, das einige Meter breit das Bauwerk umsäumte. Die Fläche mochte für Prozessionen gut geeignet sein. Immer wieder war der weiße Kies von flachen, abgeschliffenen Felsplatten durchzogen, zwischen denen manch grünes Pflänzchen dem Stein trotzte.

 

An der Wand eines kleinen Nebengebäudes vor der Kirche, offenbar ein Karner, fanden sie eine Tafel. Es war der Grabstein des Baumeisters. Sie blieben stehen und lasen die Inschrift:

 

 

Aus Stein erhebt sich mein Gebet

empor in Säulen und Bögen.

Wohlklang der Maße,

Schönheit des Herzens,

ewig Dir zugewendet.

 

Nach dem sie diese Zeilen gelesen hatten erfasste sie Ehrfurcht. War die Kirche zuvor in ihren Augen ein wunderschönes Bauwerk, dessen Ästhetik sie bewunderten, so war sie jetzt mehr. Sie atmete die Inbrunst und Frömmigkeit ihres Erbauers und schien gleichsam dadurch zum Leben erwacht.

 

Nach wenigen Schritten standen sie vor einem kupfernen, mit grüner Patina überzogenen Nebentor. Seine verzierten Flügel waren weit geöffnet. Fast zierlich wirkte ein dahinter sichtbares großes Tor aus Holz. Es war durchbrochen von vielen Rosetten und um diese rankten sich vergoldete Figuren.

 

Aus der Kirche tönte Gesang, von Orgelmusik begleitet. Die drei Freunde traten ein und setzten sich etwas abseits auf eine Bank. Die Musik war sehr schön. Alle Gläubigen sangen begeistert mit, nirgendwo sah man die schlaffen Gesichter von Kirchgängern, die aus gesellschaftlichem Zwang eine Kirche betreten. Sogar Emanuel und Johann, die zu irdischen Lebzeiten bei weitem kein frommes Leben geführt hatten, fühlten sich wohl und in gehobene Stimmung versetzt. Es war, wie sie alle feststellten, eine mitreißende Frömmigkeit. Sie erhob, stärkte und glich geistiger Nahrung.

 

Dann folgte die Predigt. Sie wurde mit großer Begeisterung vorgetragen, war jedoch naiv und lehnte sich sehr an kaum verstandene Dogmen an.

 

Johann beugte sich zu seinen zwei Freunden und wisperte: „Wenn jener Mönch aus dem Asyl eine ähnliche Predigt gehört hatte, kann ich mir vorstellen, weshalb er wieder zum Sanatorium umkehrt ist. Der Orden konnte seinem Leben einen Sinn verleihen.“

 

Der Prediger hielt kurz inne und sah die drei strafend an. Auch etliche Kirchgänger drehten sich um und blickten zu den drei Freunden. Diese erhoben sich und verließen das Gebäude.

 

Sie hatten ein anderes Tor als Ausgang genommen. Draußen betraten sie einen kleinen Platz.

Sie setzten sich nieder, an die Kirchenmauer gelehnt. Sie hatten das Bedürfnis, die widersprüchlichen Erfahrungen zu besprechen.

„Wie ist es möglich, dass die Erhabenheit des Gebäudes im Niveau nicht in Einklang mit der Predigt steht? Du hast uns einmal erklärt, Elbrich, und oft konnten wir dies auch nachprüfen, dass die Menschen mit ihrer Aura das von ihnen bewohnte Gebäude prägen. In diesem Fall scheint dies nicht zu gelten.“

Elbrich, ebenfalls nachdenklich, versuchte eine Erklärung wobei nicht zu erkennen war ob er zu sich selber oder zu seinen Freunden sprach. „Eigentlich waren Kirchgänger und Prediger von tiefer Religiosität und Gottesliebe geprägt. Das sind großartige Eigenschaften. Aus dieser Warte haben sie schöne und reine Seelen, also passt dies zum Gebäude. Sie haben uns in der Gefühlstiefe manches voraus. Es schien auch, als wäre die Gedankenkraft und Religiosität des Baumeisters dominant geblieben, so dass das Gebäude nicht so leicht umgeprägt werden kann.

 

„Ja, aus dieser Warte habe ich es gar nicht gesehen“. Jetzt war es Johann, der wieder sprach. „Vielleicht war ich noch zu sehr durch die Schilderung des Mönches voreingenommen. Der Mönch beschrieb mir die Tempelstadt als ein Forum unterschiedlichster religiöser Dogmen und neu erfundener Spekulationen. Ihn erinnerte dies alles an den Turmbau zu Babel, nur dass in diesem Fall nicht Sprachen sondern religiöse Ansichten zur Verwirrung führen. Aber vielleicht sind die vielen religiösen Spielarten die extreme Reaktion auf die Erkenntnis, dass es ein Leben im Jenseits gibt. Es erweckt Interesse und ein Suchen nach Ordnung und Regeln in dieser neuen Welt. Aber welche Ordnung und welche Regeln sollten sein? Viele der alten Postulate vertrauter Religionen stimmen nicht mehr. Dadurch verlieren sie an Halt und beginnen zu spekulieren. So greifen sie zurück auf unterschiedliche Aussagen diverser Religionen und privat-philosophische Spekulationen.

 

Nachdenklich erhoben sich die Freunde. Sie blickten sich um und sahen seitlich von der Kirche eine breite Straße, die am Kamm des Hügels entlang zu laufen schien. Schon hatten sie die Straße betreten. Es war gleichsam die Hauptstraße dieses zentralen Tempelbezirkes. Sie war wunderschön, geziert durch prächtige Vorderfronten verschiedenster Sakralbauten, unterbrochen durch kleine Plätze. Immer wieder sah man größere und kleinere Gruppen, die sich um einen Prediger scharten. Obwohl stark bevölkert, hörte man zwar Gemurmel und Gespräche aber kein Geschrei. Ein großer Kontrast zu den Städten der unteren Dämmerwelten. Hier war den Menschen eine freudige Aufbruchstimmung und Zufriedenheit anzusehen.

 

Einige Schritte weiter kamen sie zu einem Tempelbau im neugriechischen Stil. Auf der Fassade waren verschiedene, ihnen allerdings unbekannte Symbole. In der Mitte war ein Dreieck mit jeweils einer Säule links und rechts im Halbrelief, einige verschlungene Ornamente und geometrische Zeichen. Das Gebäude war einfach im Stil, doch höchst ästhetisch und schön.

 

Die drei Freunde betraten den Tempel. Im Inneren befand sich eine große Halle mit seitlichen Säulen. Weiße Marmorwände waren mit Goldverzierungen geschmückt. Dem Eingang gegenüber, am anderen Ende, war die Andeutung einer Pyramide durch einen mehrstufigen Sockel, auf dem sich ein reich verziertes Buchpult befand. Hinter dem Pult stand ein Prediger in weißem Ornat. Der Prediger oder Priester erklärte den Anwesenden den Bauplan der Schöpfung, die vielen Reiche darin, sprach über gute und böse Heerscharen, über die Macht der Magie und vieles mehr. Er gliederte alles in Hauptgruppen und Untergruppen, alle schön nummeriert. Worüber er sprach, war so kompliziert, dass alle drei den Ausführungen letztlich nicht mehr zu folgen vermochten. Diese Inhalte der Predigt standen ganz im Gegensatz zur naiven Frömmigkeit in der vorigen Kirche. Waren es in der ersten Kirche die Gefühle, die vorherrschten, so war es hier der Intellekt. Sie fühlten sich alle drei nicht wohl und verließen das Gebäude.

 

Alles in allem zeigte sich, dass die Predigten in ihren Aussagen genauso vielfältig wie die Sakralbauten waren. Viele der Ausführungen mochten mentale Kunstwerke sein und glichen in gewisser Hinsicht dem ornamentalen Reichtum der Gebäude. Was die drei Freunde jedoch suchten war nicht Kunst in Worten und in Stein, sondern die tieferen Wurzeln des Seins, die Wahrheit hinter dem Äußeren. So beschränkten sie sich im Weiteren auf die Besichtigung der einzelnen Gebäude und verzichteten darauf die Predigten anzuhören.

 

Ein Monumentalgebäude nach dem anderen gingen sie ab, ließen auch gelegentlich ein kleineres außer Acht. Sie kamen nur langsam vorwärts, zu viel gab es zu sehen. Da fiel ihnen in einiger Entfernung ein Turm auf. Er war nicht, wie gewohnt, ein Turm, der sich in gewohnter Weise rund oder eckig Stockwerk für Stockwerk in den Himmel erhob. Er stellte eine übergroße, monumentale Ritterfigur dar. Die Turmfigur endete in einem eisernen Helm und betonte damit das Martialische. Das dazugehörige Gebäude war aus einfachem, schmucklosen Kalkstein und ebenfalls ein Kontrast zu den übrigen Bauwerken. Die drei Freunde standen gerade noch weit genug entfernt, um alles in seinen Details überschauen zu können. Fast furchteinflößend sah es aus. Es passte in seinem schmucklosen, fast primitiven Baustil so gar nicht in diese Welt des Überschwangs.

 

 

 

Sie gingen näher. Wie sich zeigte, war der Ritter die turmartige Vorderfront einer gotischen Kirche. Kirche und Turm lagen ein Stück hinter der Straßenfront. An der Basis des steinernen Ritters war ein Tor. Auf diesem war eine Kupfertafel und darunter ein merkwürdiger Spruch:

 

 

Wir sind Schmiede des Schicksals!

Unter unseren Hammerschlägen

formt sich das Leben,

unter Freuden und Jauchzen,

unter Ächzen und Stöhnen.

 

Feuer und Glut

macht biegsam und formbar,

scheidet dunkle Schlacke

von glänzendem Metall.

 

Aus des Schmiedes fester Hand

wird aus Grobem Feines

und was einst dunkel

spiegelt glanzvoll das Licht!

 

„Kannst du dir vorstellen, was der Spruch bedeuten soll“, wandte sich Johann an Elbrich.

„Nein“, war die nachdenkliche und zögernde Antwort.

„Dann lass uns hinein gehen und nachsehen“, entschied Emanuel in erfrischender Neugierde.

 

Das Tor ließ sich leicht öffnen. Sie traten ein und standen in einer großen Halle mit einer schmucklosen Galerie, hoch oben entlang zweier Seitenschiffe. Diese waren statt durch Säulen durch Ritterfiguren vom Hauptschiff getrennt. Die Steinritter waren von ernstem und wehrhaftem Aussehen, streng, aber nicht dämonisch. Welch ein Kontrast zu den religiös verspielten Tempeln und Kirchen, die sie zuvor gesehen hatten. An der Stelle, an der üblicherweise der Altar steht, war hier ein großer Steinsarg. Auf diesem waren tanzende Figuren abgebildet und über diesen Blumen und Henkerbeile. Links und rechts am Ende der Halle waren hölzerne, geschnitzte Eingangstüren zu sehen. Als die drei Freunde die linke Türe öffneten, sahen sie eine breite Stiege nach unten führen. Die rechte Türe war verschlossen.

 

Ratlos gingen sie noch einmal eine volle Runde die Halle entlang. Dann traten sie hinter die Figuren in das Seitenschiff. Als sie sich nach Aufschluss suchend umschauten, kam ihnen eine seltsame Gestalt entgegen. Weit über zwei Meter groß, mit breiten Schultern und herabhängendem Ledermantel, schwarz und weiß gestreift. An den Seiten des verbreiteten Schädels ragten zwei gezwirbelte Hörner seitlich weg.

Das Wesen blieb vor ihnen stehen. Sein Blick schien sie zu durchbohren.

 

 

 

 

Die drei Freunde hatten das Empfinden, einem geistigen Wesen gegenüber zu stehen, das nur noch wenig Menschliches an sich hatte. Es strahlte Macht und Wissen aus. Sein Blick drang wie Röntgenstrahlen tief in die Seele der vor ihm Stehenden. Es wurde ihnen mulmig, sie entschuldigten sich, das Gebäude irrtümlich betreten zu haben und eilten schleunigst dem Eingangstor entgegen.

 

„Dieses Wesen sah nicht nach Missionar oder Prediger aus!“ Emanuel war froh der Situation entkommen zu sein. Jetzt waren alle drei dankbar, dass die Straße so belebt war und schnell tauchten sie im Gewimmel unter. „Merkwürdig, äußerst merkwürdig. Das hatte sicher nichts mehr mit Religion, Orden, Heilern, oder sonst mir Bekanntem zu tun.“

 

„Ich kann jenes Wesen auch nirgends zuordnen“, bemerkte Elbrich, nachdem Emanuel zuerst Johann, der schwieg, und dann ihn angesehen hatte. Irgendwie hatte ihnen diese Begegnung etwas an Elan genommen. Es schien diese Ebene doch nicht ganz einem erholsamen Urlaub zu entsprechen, wie es die drei Freunde bislang empfunden hatten.

 

Kurze Zeit später war der Vorfall schon fast wieder vergessen. Wie schön war es doch, durch diese Stadt zu schlendern und all die Vielfalt in sich einzusaugen.

 

 

 

Die Frau vom Getränkekiosk

 

 

Die Freunde konnten sich an den vielfältigen Eindrücken des Tempelviertels kaum satt sehen. Es waren ja nicht nur Sakralbauten wie man sie in Europa oder Amerika kennt - neben manch kuriosen und schwer zuordenbaren Gebäuden fanden sich auch indische und chinesische Tempel, Pagoden, Stupas und vieles mehr. Manche der Tempel waren Lotusblumen, Himmelskuppeln, Laternen oder anderem Sakralen nachempfunden. Sie sahen auch Priester und Mönche in allen erdenklichen Kleidungen, bis hin zu Schamanen mit Federn, Knochen und einer Unzahl anderer Attribute.

 

Allmählich waren sie von der Fülle der Eindrücke gesättigt und hatten das dringende Bedürfnis, ein wenig abzuschalten. Sie mussten sich von der Vielfalt erholen und die Eindrücke verarbeiten. Zu viel schon war es, was sie gesehen hatten. Als sie in einer Seitengasse inmitten eines kleinen, gepflasterten Platzes einen Kiosk mit Tischen und Stühlen entdeckten, steuerten sie sofort darauf zu. Es war ein Getränkestand mit nur wenigen Leuten.

 

Sie gingen zur Theke und betrachteten das eher dürftige Angebot.

 

„Was soll es denn sein? Limonade oder Wasser“, wurde Elbrich von der Dame hinter dem Verkaufspult gefragt.

 

„Ein Glas Wasser wäre mir recht“, sagte Elbrich.

 

„Hast wohl kein Geld, weil du Wasser willst“, lachte die Dame. „In der Regel verlange ich dreißig Cent, aber dir schenke ich es und deinen Freunden auch“ und schon schob sie einem jeden von ihnen ein Glas hin. Johann bekam ein Glas Rotwein, die anderen Wasser.

 

Elbrich grübelte. Er dachte über den Preis nach. Nicht nur, dass es in Astralwelten kein Geld gab, eine Bezahlung somit ungewöhnlich war, so war es auch die Zahl dreißig, die ihn nachdenklich stimmte. Bei seinen Astralreisen war die Zahl dreißig oft der Zahlencode, mit dem sich seine jenseitigen Helfer zu erkennen gaben. Die Frau musste dies intuitiv erfasst haben oder es war purer Zufall.

 

 „Bist ein sehr nachdenklicher Typ“, sagte sie zu Elbrich und setzte sich zu den drei Freunden an den Tisch.

 

„Ha, ha, das war ein guter Witz“, entgegnete Johann.

Die Frau lachte „Hast recht“, erwiderte sie, „so vergeistigt schaut er nun auch wieder nicht aus. Wahrscheinlich ist er jetzt darüber fassungslos, dass er Wasser trinken soll. Das hat ihm die Sprache verschlagen.“

 

 „Hi, hi“, kicherte Emanuel, „es erinnert mich an das Wasser der reinen Denkungsart, das ist ihm sicher fremd. Willst du ihm nicht lieber einen knallroten Himbeersaft servieren? Das passt besser zu ihm.“

 

Diese Bemerkung gefiel der Frau prächtig und sie amüsierte sich köstlich. „Hast recht“, flüsterte sie so, dass Johann und Elbrich es hören mussten, „ich werde ihm einen Himbeersaft bringen, das wird ihm gefallen. Vielleicht glaubt er dann, dass er eine Eroberung gemacht hat! Er denkt wahrscheinlich ohnedies die ganze Zeit schon intensiv nach, wie er das bei mir einfädeln könnte.“

 

„Äh! Was redet ihr für einen Unsinn!“ Elbrich sah sich genötigt, das Ruder wieder herum zu reißen. „Ich habe über etwas nachgedacht, mit etwas mehr Bedeutung als eure Albernheiten.“

 

„Darf man fragen worüber, Kollege?“ insistierte Johann.

 

„Es war eine Erinnerung“, erwiderte Elbrich. Er war keineswegs dazu bereit, sein Codegeheimnis preis zu geben.

 

Die Frau musterte Elbrich mit ernstem Gesicht.

 

„Sie dürfte tatsächlich Interesse an mir haben“, dachte Elbrich, und, um dem Gespräch eine Wendung zu geben, sprach er sie direkt an: „Sie sehen sehr intelligent und vergeistigt aus, wie eine Frau, die in der Wissenschaft oder in der Kunst tätig war. Ich will ja nicht Getränkeverkäuferinnen herabsetzen, aber irgendwie passen Sie nicht in diese Berufsbranche.“

 

„Oh, wie förmlich,“ lachte sie. „Könnte schon sein, dass das nicht meine Haupttätigkeit ist, aber hin und wieder hinter einem Kiosk zu stehen ist unterhaltsam, wie jetzt soeben. Ich befasse mich noch mit anderem. Wenn ihr wollt, könnt ihr mich ja in meiner Wohnung besuchen. Hmmm, ein Besuch wäre ja einmal eine Abwechslung für euch. Wäre auch nicht schlecht, wenn ihr einmal seht wie Leute leben, die ein Dach über dem Kopf haben. Ihr tut mir ja leid, wenn ihr wie Obdachlose in den Straßen herumstreunen müsst.“

 

 

Emanuel und Johann schauten betroffen drein. Als Obdachlose hatten sie sich noch nie betrachtet, im Gegenteil, sie fanden es schön, in Freiheit und ohne Verpflichtungen zu leben.

 

„Wir sind keineswegs obdachlos“, erwiderte Johann protestierend. „Wir wohnen in einem schönen Haus mit Garten in der Nähe der Stadt.“

 

„Etwa in einem Kloster?“, fragte die Verkäuferin. „Ja, das muss es sein. Du schaust mir ganz wie ein Mönch in Ziviltarnung aus!“ Dann platzte sie vor Lachen lauthals heraus.

 

 

 

Sodashi

 

 

Die drei Freunde waren sprachlos - sowohl darüber, wie gut die Verkäuferin über sie Bescheid zu wissen schien, als auch über ihre Unverfrorenheit. Noch einmal fragte sie, ob alle drei zu ihr auf Besuch kommen wollten. Sie wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern sagte einfach: „Los, also gehen wir. Es ist nicht weit von hier, nur ein paar Gassen“.

 

Sie ließ den Getränkeladen wie er war und kümmerte sich nicht weiter um irgendwelche Kunden. Ratlos und verwirrt folgten ihr die drei Freunde.

 

Sie gingen ein Stück, bogen in eine nächste Gasse, die sanft bergab und wieder hinauf in Richtung eines weiteren Hügelkammes ging. Sie gelangten in eine weitere Seitengasse, welche sehr schön und romantisch war. Verzierte Häuser mit sich empor schlingenden Blumengirlanden, Bäume, die ihre Äste in die Straße streckten. Gelegentlich wurde die Häuserreihe durch Felsen unterbrochen, die sich teilweise wildromantisch senkrecht erhoben oder gar leicht über die Straße wölbten.

 

Wiederum schob sich eine Felsenwand bis dicht an die Straße. Ein Stück weiter, mit einem schmiedeeisernen Zaun zur Straße abgeschlossen, fand sich ein Hang, der steil zu einem kleinen Gipfel anstieg.

 

Die drei Freunde blieben stehen und ihre Augen blickten fasziniert auf den wunderbaren Zaun, der aus schmiedeeisernen in sich verschlungenen Paradiesvögeln und Blumen bestand. Langsam wanderte ihr Blick empor zu dem Gelände darüber. Zwischen Felsblöcken schlängelte sich eine steinerne Stiege. Wo immer es möglich war, bedeckten Blumenkissen die Felsen. Einzelne Schwarzföhren verschönten den Anblick mit bizarrem Wuchs. Darüber auf dem Gipfel leuchtete in strahlendem Weiß ein Schloss, mit Türmchen, Terrassen und großen Fenstern. Sowohl das Schloss als auch der Garten waren noch schöner als alles was sie bislang gesehen hatten.

 

Langsam lösten sie ihren Blick und wollten wieder weiter gehen, da sagte die Frau: „Hier wohne ich“ und zeigte zum Schloss hinauf. Sie öffnete das Gartentor und bedeutete den drei Freunden einzutreten.

 

Die drei waren perplex, allmählich verstanden sie überhaupt nichts mehr. Auch Elbrich rätselte und fand sich in einem Irrgarten paradoxer Gedanken: „Vielleicht ist die Verkäuferin hier als Dienstmädchen angestellt? Nein, nicht möglich, hier musste man kein Geld verdienen, also gab es auch keine Angestellten. In der ganzen Welt hier gab es keine Angestellten, alle machten das, was sie wollten! Vielleicht ist sie mit den Besitzern bekannt und darf hier ein, zwei kleine Zimmer beziehen“, dachte Elbrich weiter, „ja, das muss es sein!“ Aber sicher war er sich ganz und gar nicht.

 

Als ob die Frau ihm seine Gedanken abgelauscht hätte, sagte sie: „Ach ja, das ist mein standesgemäßer Besitz.“

 

Das war für Elbrich wieder ein starkes Stück zum Verkraften. „Seit wann gibt es hier reich und arm?“ fragte er.

 

Die Frau lachte auf. „Wo in der Welt hast du je eine gleichmäßige Güterverteilung gesehen? Überall gibt es Starke, Schwache, Große, Kleine, Arbeitsame und Faule. In Bezug auf die Natur finden es ja alle richtig, dass es starke und schwache Tiere gibt, Gejagte und Jäger. Alles hat da seinen Platz, seine spezifischen Vorteile und Möglichkeiten. Warum soll es hier anders sein? Wir sind ja auch ein Teil der Natur. Was hier in diesen Welten den Unterschied macht, ist nicht die Muskelkraft oder Erbschaft oder sozialer Status. Es wird hier alles aus der Vorstellung und aus der inneren Kraft erschaffen. Diese Welt ist eine Welt der Illusionen. Warum sollten diejenigen, die über eine kraftvolle Vorstellungsfähigkeit, über Willen und Wissen verfügen, sich nicht das selbst schaffen können, was ihrem Geschmack entspricht? Sie haben hierbei niemandem etwas genommen, wenn sie so leben wie sie leben wollen.“

 

Die Logik dieser Worte war nicht abzustreiten, aber die irdischen Prägungen und Gewohnheiten saßen bei den drei Freunden tief, speziell bei Emanuel und Johann, weshalb die Worte der Frau auch nur Worte blieben und keine überzeugende Wirkung hatten.

 

Mittlerweile waren sie oben angekommen. Sie überquerten eine Terrasse aus spanischen Fliesen in sternförmigem Muster. Wo die Felsen etwas steiler abfielen, waren schneeweiße Balustraden. Die Hausseite bestand aus einer großen Glasfront mit weit offenen Türen. Sie traten ein und waren in einem Raum, der fast so groß wie eine Halle war. In der Nähe des Fensters befand sich eine sehr große, bequeme Sitzgarnitur. Dahinter und eine Seite der Sitzgarnitur begrenzend, waren direkt in den Parkettboden eingelassene Biotope, durch einen Steinrand vom Boden und den Teppichen abgegrenzt. Exotische Bäume und blühende Sträucher erhoben sich aus diesen Pflanzeninseln, und von den Zweigen hingen blühende Orchideen herab. Bunte, tropische Vögel flogen durch den Raum und belebten ihn mit ihrem Gezwitscher.

 

Die Verkäuferin oder Schlossherrin oder wie immer man sie einordnen wollte, setzte sich in einen weiten Polsterstuhl, und die drei Freunde taten es ihr nach. Sonst nicht um Worte verlegen, blieben sie schweigend sitzen. Jetzt fühlten sie sich angesichts dieser Pracht wirklich wie Obdachlose, die sie ja eigentlich auch waren.

 

„Nun, erzählt mal, was ihr so alles erlebt habt“, begann sie, „ich höre so selten spannende Geschichten hier in meiner Einsiedelei.“

 

Zuerst stockend, dann flüssiger erzählten sie ihr einiges von dem, was sie erlebt hatten. Allerdings achteten sie darauf, sich selbst in gutem Licht darzustellen. Mit anderen Worten: die weniger edlen Passagen ihres Daseins in der Dämmerwelt ließen Emanuel und Johann einfach aus. Sie begannen einfach dort, wo sie Elbrich kennen gelernt hatten. Ausführlicher erwähnten sie die Begegnung mit dem Mönch und mit Begeisterung ihre Erlebnisse in den diversen Kirchen und Sektentempeln der Stadt.

 

„Das ist ja traurig, wie sich die Menschen in Illusionen verirren“ hörten die drei Freunde die bedauernden Worte am Ende ihrer Erzählungen. „Sie machen sich krank in ihren Gewohnheiten und Phantasien, laufen obstrusen Gedanken nach über Gott und die Welt, und bauen sich schon wieder damit eine verrückte Welt auf. Auf Erden sind sie ja genauso irrational ihren Wünschen nachgelaufen: nach vergänglichen Gütern oder nach sozialem Status - und kaum hatten sie sich die heißumkämpften Wünsche erfüllt, waren sie auch schon alt oder krank, und es hat den ganzen Aufwand nicht gelohnt.“

 

Nicht ganz überzeugt von seinen Worten erwiderte Elbrich: „ist dieses Schloss hier nicht auch eine Illusion?“

 

„Ja“, sagte die Frau, „aber eine Illusion an der ich nicht hafte, ein Spiel. Es ist nicht einmal ein sinnloses Spiel, denn es erfüllt auch eine Aufgabe.“

 

„Welche Aufgabe“, fragte Elbrich.

 

„Es ist eine Demonstration. Sie zeigt dir, dass alles in dieser Welt aus Vorstellungskräften erschaffen wird, wie in einem Traum; und dass es in unserer eigenen Entscheidung und Kraft liegt, diesen Traum zu steuern. Ob dieser Traum schön oder hässlich wird, hängt von uns ab. An uns liegt es, ob wir es steuern können, oder ob wir hilflos dem Spiel unserer inneren Kräfte unterliegen.“ Noch während des Sprechens beugte sie sich vor und berührte Elbrich an der Schulter.

 

Elbrich schien in Leblosigkeit zu fallen. Seine Freunde starrten verwundert zu ihm, vor allem, als sie Tränen seine Wangen hinab fließen sahen. Dann wachte Elbrich wieder auf, wie aus einem Schlaf. Jetzt hatte sein Gesicht einen weichen, ja, einen liebevollen Ausdruck bekommen. Er sah der Frau tief berührt in die Augen.

 

 „Ich kann mich noch nicht an alles erinnern, aber allein das wenige überwältigt mich“, sprach er in für seine Freunde rätselhaften Worten.

 

„Es wird schon noch kommen, wichtig ist, dass du nach Hause gefunden hast“, sprach sie. In diesem Augenblick schien die Sonne beim Fenster herein zu leuchten, denn der ganze Raum hellte sich in goldenem Licht auf. „Ich nenne mich Sodashi und ihr seid hier willkommen.“

 

 

 

Energiearbeit mit Carla

 

 

Die drei nahmen die Einladung von Sodashi an und blieben im Schloss. Elbrich und natürlich auch seine Freunde bekamen ihre eigenen Wohnräume, und diese waren derart schön dekoriert und ausgeführt, wie sie es in der irdischen Welt nie gesehen hatten. Johann ist durchaus oftmaliger Gast in Schlössern gewesen und hatte manch schönen Raum gesehen, aber nichts war mit dem Schloss von Sodashi vergleichbar. Sie fühlten sich hier, als seien sie plötzlich im Paradies.

 

Während Elbrich so oft wie möglich Sodashis Nähe suchte, zogen es Emanuel und Johann vor, Ausflüge kreuz und quer durch die Umgebung zu machen. Sie wollten all die Merkwürdigkeiten und Sehenswürdigkeiten kennen lernen, die sich boten. Das Schloss aber war ihr eigentliches Zuhause, und sie kehrten immer wieder dorthin zurück.

 

Sodashi war die spirituelle Begleiterin von Elbrich, war es schon immer gewesen. Durch Jahrhunderte oder Jahrtausende waren beide, Elbrich und Sodashi in Liebe, aber auch in Hoffnung, Enttäuschung und Leid miteinander verbunden gewesen. Wenn es Sodashi war, die sich inkarniert hatte, beschützte Elbrich sie vom Jenseits aus, dann wieder war es umgekehrt. Nie ließen sie einander in Stich. Sie teilten gemeinsam Freude und Leid auf dem beschwerlichen Weg zunehmenden spirituellen Wachstums.

 

Sodashi streckte sich in ihrem Stuhl und lächelte Elbrich an: „Hättest du nicht Lust, einmal einen Abstecher zur Erde zu machen?“

 

„Nicht im Geringsten, ich fühle mich hier wohl“, gab Elbrich zur Antwort.

 

Sodashi blieb unbeirrt. „Ich versuche dort eine Frau im Yoga zu führen. Sie hat hellseherische Fähigkeiten, die es ihr ermöglichen mich wahrzunehmen. Dadurch kann ich sie als ihre jenseitige Lehrerin unterrichten und führen. Zugleich hat sie einen irdischen Lehrer, der mein Kooperationspartner ist. Nun, hast du schon je von einer solchen Möglichkeit gehört?“

 

Elbrich war platt vor Staunen. Nein, die Gelegenheit, eine derart seltene Yogaführung zu sehen, wollte er sich nicht entgehen lassen.

 

„Wir werden zu Carla reisen. Carla begibt sich gerade in Entspannung. Sie geht hierbei in einen Halbtrancezustand. In diesem verfügt sie über eine verfeinerte Wahrnehmung. Wenn sie sich in diesem Zustand befindet, ist es möglich, mit ihr zu sprechen. Es ist eine Kommunikation, die ähnlich wie innere Vorstellungen oder Gedanken bei Carla abläuft. Noch wichtiger und auch wesentlich besser für Carla wahrnehmbar als verbal-telepathische Kommunikation sind praktische Vorgänge, wie etwa Korrekturen von Energiebahnen. Hierbei können wir ihr zeigen, wie sie so manches an sich selbst und anderen Menschen durchführen kann. Dieses Wissen braucht sie, wenn sie lehren und helfen will.“

 

Elbrich war fasziniert: „Damals, als ich inkarniert war, habe ich über Medien eine Menge gelesen und gehört. Ich bin auch etlichen von ihnen begegnet.

Es gab welche, die Stimmen hörten und mit Verstorbenen Kontakt herstellten. Dann gab es auch solche, die Verbindung zu Wesen in höheren Ebenen hatten. In diesem Fall aber war das Empfangen der Botschaften weniger deutlich und oft von eigenen Vorstellungen schwer zu trennen. Das, was bei Carla geschieht, scheint einerseits ähnlich und andererseits doch auch anderes zu sein. Zumindest für mich ist es neu. Ich freue mich sehr darüber, dass ich dabei sein darf.

Noch etwas, woher weißt du, dass sich Carla in Entspannung begibt?“

 

„Siehst du den Stein an meiner Halskette? Carla hat einen ähnlichen Stein. Sie trägt ihn immer bei sich. Die Wirkweise ist eine astrale Sympathiemagie. Die Steine sind mit aurischen Elementen der jeweils anderen Seite aufgeladen. Dadurch entsteht eine Verbindung, die ermöglicht, die Schwingung und das Befinden des anderen zu erfühlen. Wenn Carla eine Gefahr drohen würde, so wäre ich vermittels des Steines augenblicklich gewarnt. Über ihn würde ich einen Teil von Carlas Emotionen empfangen. Ein von ihr kommender emotioneller Energiestoß würde mich erreichen. Solcherart kann ich sofort zur ihr eilen oder Hilfe herbei rufen.

Carla wiederum empfängt durch ihren Stein die Liebesschwingung, die ich zu ihr habe, und die höheren Schwingungen dieser Ebene. Das fördert ihre innere Entwicklung.“

 

„Die Wirkungsweise der Verbindung leuchtet mir ein. Bezüglich der Hilfe habe ich aber noch eine Frage. Einmal hast du mir gesagt, dass die einzige Verbindung zu verkörperten Menschen die Telepathie sei. Wie willst du da helfen? Mit tröstenden Gedanken ist in einer Notsituation sicher nicht viel geholfen.“

 

„Nun, alles habe ich dir ja noch nicht erklärt. Es gibt noch andere Möglichkeiten des Eingreifens und Wirkens, vor allem über ein Energienetz innerhalb der Yogis und Yoginis dieser Gruppe. Hierbei wird in wichtigen Fällen mit deren prinzipieller Genehmigung Amrita übertragen. Amrita ist eine besondere und hohe Energie.

 

„Schließ mal deine Augen und gib mir die Hand, ich werde dich hin bringen. Das Reisen geht für dich unter meiner Führung im Moment noch besser. Mit geschlossenen Augen bist du nicht so sehr auf deine Umgebung und deinen Astralkörper fixiert. Es fällt dir dann leichter, dich von der momentanen Umgebung zu lösen. Solcherart ist dein Bewusstsein dann freier, denn es ist nicht dein Körper, sondern dein Bewusstsein, das reist. Später wirst du auch ohne meine Hilfe reisen können. Ich werde dir das im Laufe der Zeit beibringen.“

 

Elbrich war schon einige Male mit Sodashi in seiner jetzigen Umgebung gereist. Aber Sodashi hatte Recht: von sich aus konnte er es noch nicht. Unter ihrer Führung war es möglich, große Entfernungen in Sekundenbruchteilen zurückzulegen. Sie hatten solcherart schon so manchen interessanten Ort oder auch Bekannte besucht. Diese Art zu reisen nannte Sodashi „Projektion“. Bisher war es Elbrich noch nicht gelungen zu durchschauen, wie das vor sich ging. Jedenfalls aber ging es schlechter bis gar nicht, wenn er die Augen offen hielt. So weit er es bislang erfasst hatte, war der Vorgang folgender: Wollten sie an einen bestimmten Ort, so dachten sie an ihn. Dann lebten sie sich in diesen Ort hinein und die Vorstellungen des Ortes wurden immer detaillierter und plastischer, bis sie ihn zu erspüren vermochten. Dann ging

alles sehr schnell und sie waren schon dort. Soweit wusste er das ungefähr, aber es eigenständig durchzuführen gelang ihm dennoch nicht. Sodashi half ihm, indem sie ihn in einer Art Sog mitnahm.

 

Sie reichten einander die Hände und ehe es sich Elbrich versah, stand er mit Sodashi vor Carla.

 

Sie saß auf einer Holzbank im Garten. Es war für Carla nicht nötig, sich in einen stillen Raum zu begeben, um ungestört in Trance versinken zu können. Manche, die sich schwerer taten, benötigten, zumindest am Anfang, Trance induzierende Kassetten oder CDs. Carla konnte sich jederzeit in einen tranceartigen Zustand versetzen, wenngleich dieser nicht so tief war. Dennoch reichte es, um astrale Präsenzen und Botschaften auf feine, gerade noch erkennbare Art, wahrnehmen zu können.

 

Wie üblich am Anfang einer solchen Yoga Schulung, begann Carla damit, ihren Energiekörper durchzuarbeiten. Elbrich beobachtete aufmerksam.

 

Den physischen Körper von Carla sah er als dunklen Schatten. Um diesen herum erblickte er farbige Lichtwolken und Strahlen. Im Inneren des physischen Körpers gewahrte er Ansammlungen und Ströme von Licht. Im Bauchbereich war eine schwach leuchtende, aber überaus dichte Substanz von nebeligem Weiß zu erkennen. Sie war nicht scharf abgegrenzt und wurde in den benachbarten Regionen zusehends dünner. In der Brustregion war eine pfirsichgroße goldene Kugel. Sie erweckte den Eindruck als wäre sie aus flüssigem Licht. Diese zwei Essenzen waren dichter und weniger beweglich als die Lichtströme, welche den Körper durchzogen.

 

Beide, sowohl Sodashi als auch Elbrich standen schweigend vor Carla und beobachteten. Allmählich, mit tiefer werdender Entspannung und besserer Einstimmung in Gefühle der Liebe und Verbundenheit, wurden die Lichtströme heller und die Aureole weitete sich.

 

Elbrich sah, dass sich der Astralkörper von Carla belebte. Sie hatte ihr Bewusstsein zunehmend in diesen verlagert. Der physische Körper dagegen lag, wie im Schlaf, vollkommen regungslos. Allmählich begann sich der astrale Körper leicht vom physischen Körper zu lösen. Er schwebte nun einige Fingerbreit über dem materiellen Körper. Er wurde immer lebendiger und machte auch eigenständige Bewegungen. Zuletzt setzte sich Carla mit ihrem Astralkörper auf und lächelte Sodashi an. Sie konnte Sodashi sehen, das war nun klar.

 

Carla kannte Sodashi offenbar bereits und hatte sie schon erwartet. Die Aura weitete sich und zwischen beiden Frauen entstand eine Lichtbrücke von wunderschönen Farben in Orange, Rubin, Violett und Gold.

 

Nun verbanden sich die zwei Frauen mental. Elbrich konnte von diesem Gedankenaustausch nur so viel mitbekommen, dass er wusste, dass es sich um irgendetwas bezüglich des Energiekörpers handelte. Aufmerksam geworden, betrachtete er diesen genauer. Bauchregion und Brustraum hatten sich bei Carla sehr erhellt. Unterhalb des Halses jedoch schien sich die innere Lichtwolke zu stauen. Auch die Energieströme endeten dort.

 

Sodashi senkte ihre Hand in den Astralkörper von Carla, holte eine dunkle Masse aus dem Hals und verbrannte sie mit einem Lichtstrahl, der aus ihrer Handfläche entstand. Die Stelle an Carlas Hals wurde heller, jedoch nicht leuchtend.

 

Nun beugte sich Sodashi zu Carla, hielt die rechte Hand über ihren Kopf und weißglitzernde Energie strömte aus ihrer Handmitte in den Scheitel hinein. Mit ihrer Linken griff Sodashi in Carlas Brustmitte und ließ von dort aus goldene Energie in Richtung Scheitel fließen. Zwischen beiden Händen bildete sich eine Lichtbrücke, die wie ein reinigender Strom die dunklere Halsregion aufhellte. Inzwischen hatte der Hauptstrom aus Licht, der entlang der Wirbelsäule verlief, begonnen, zu einem breiten Energiestab zu werden. Er floss vom Damm bis zum Scheitel, trat oben aus dem Scheitel heraus, um dann wie eine Flüssigkeit aus Licht die Körperoberfläche entlang wieder zur Körperbasis zurück zu fließen.

 

Die Energieflüsse erinnerten Elbrich an die Magnetlinien eines Stabmagneten. Nur war dies hier schöner und eindrucksvoller.

 

Carlas Energiekörper war offenbar nun in Ordnung. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Umfeld zu und bemerkte Elbrich. Interessiert blickte sie zuerst zu ihm und dann fragend zu Sodashi. Sodashi erklärte ihr die Beziehung und wechselte zum Abschied noch einige liebevolle Worte.

 

Ein Beben durchzuckte Carlas astralen Körper und dann war er wieder mit dem physischen Körper verschmolzen. Sodashi und Elbrich nahmen einander bei der Hand, und augenblicklich waren sie wieder zu Hause.

 

Natürlich stauten sich in Elbrich viele Fragen, die er während des Besuches nicht hatte stellen können. Auf der Terrasse sitzend, mit dem wunderschönen Ausblick auf die Kuppeln und Kirchenspitzen der Stadt, bemühte sich Sodashi die Fragen zu beantworten.

 

„Du hast bei unserem Besuch einige Male das Wort „Maha Yoga“ verwendet. Ich habe das Wort Maha Yoga nie zuvor gehört. Es wäre lieb von dir, wenn du mir die Grundprinzipien dieser Lehre erklären könntest.“

 

Sodashi lachte: „ Maha Yoga kann dir kein Lehrgebäude bieten, es besitzt keine Dogmen, keine Übungssysteme; es wird von jedem Menschen in einer anderen Weise durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler haben zwar eine ungefähr gleiche Zielsetzung, widmen sich aber den unterschiedlichsten Aufgabengebieten. Es gibt welche, die sich als Heiler/innen ausbilden lassen. Manche von ihnen waren Schamanen vor dem Maha Yoga und bleiben ihrer Richtung auch dann noch treu. Du findest Angehörige der unterschiedlichsten spirituellen Lehrrichtungen, Yogis/Yoginis, Weißhexen, Buddhisten. Es gibt Leute, die sich dem Astralwandern widmen, auch Unabhängige, die nirgends dazu gehören. Die Schüler und Schülerinnen des Maha Yoga kommen von überall her.“

 

Elbrich runzelte die Stirn. „Klingt als würde im Maha Yoga das Chaos herrschen!“

 

Sodashi lachte. „Das Chaos herrscht nur in der irdischen Welt. Dort konkurrieren die einzelnen Lehren und versuchen sich in der Wahrheitserkenntnis zu überbieten. Hier sieht man das schon abgeklärter.“

 

Sodashi machte eine Pause. Elbrichs Gedanken wanderten weiter. Er dachte daran, mit wie viel Mühe er sich jeden kleinsten Fortschritt im Spirituellen hatte erkämpfen müssen. „Ohne schwere Arbeit an sich selbst kein Fortschritt“, so hatte es immer geheißen. Spiritueller Fortschritt musste erarbeitet und erkämpft werden.

Und wie lief es bei Carla? Soweit er herausfinden konnte, wurde ihr und wahrscheinlich auch den anderen alles geschenkt!

So dachte er: „Nach dem was ich gesehen habe gewinne ich den Eindruck, dass sich diese Yogapraktikanten keineswegs einer strengen Disziplin unterwerfen. Sie lesen beliebige Bücher, solche, die ihnen Freude machen, lernen nicht nach Skripten, machen nur wenige Übungen, ja, meditieren nicht einmal. Sie legen sich einfach hin, die meisten sogar ins Bett und warten, bis ihr Helfer oder eine Gottheit sie aufpäppelt und sie erleuchtet. Es stellt alles bisher Gelernte auf den Kopf.“

 

„Weißt du“, sagte Elbrich nun laut – und seine Stimme war leicht erregt - „dies alles ist paradox! Wenn ich davon ausgehe, wie schwer die meisten auf ihrem spirituellen Weg an sich arbeiten müssen, dann kommt mir die ganze Situation um Carla herum ungerecht vor.“

 

„Vereinfacht ausgedrückt gibt es drei Möglichkeiten zu lernen.“ Sodashi kannte die Mentalität von Elbrich und brachte ihm deshalb ihre Erklärungen nach Ordnung und System.

„Der schwerste Weg ist es aus der Erfahrung zu lernen, also durch das Schicksal.

Ein besserer Weg ist es, sich durch harte Arbeit und Training weiter zu vervollkommnen.

Der dritte Weg ist der schönste Weg. Es ist der Weg von Liebe und Zuwendung zu allem was uns umgibt. Es ist ein Weg des Selbstvergessens und der Aufopferung.

Allerdings muss man einiges mit bringen, um diesen Weg gehen zu können. Wenn wir diesen Weg gehen, treten wir in Resonanz mit himmlischen Kräften. Dadurch ist es jenseitigen Helfern möglich Zustände zu übertragen und Erfahrungen durch tiefe Einblicke in Schicksale anderer Menschen zu vermitteln.“

 

„Was hat dir von allen inneren Fähigkeiten oder Erwerbungen in deinem irdischen Leben am meisten gegeben?“

 

„Das Astralwandern!“ Elbrichs Antwort kam spontan. Darüber musste er keine Sekunde nachdenken. Das Wissen aus diesen Erfahrungen hatte ihn nicht nur zu irdischen Zeiten den Sinn des Lebens aus einer anderen Warte erkennen lassen. Auch im Jenseits war es ihm eine große Hilfe gewesen. Er konnte nur vermuten, dass er ohne dieses Wissen noch immer in der Dämmerebene herumirren würde. Möglicherweise wäre er sogar in die Stadt mit dem roten Schein gegangen und vielleicht von dort aus in noch tiefere Sphären abgerutscht. Ihn schauderte bei diesem Gedanken.

 

„Sag mir einen ungefähren Schätzwert“, fügte Sodashi hinzu, „wie viele Jahre der Mühe hast du für diese dir wertvollste Fähigkeit aufbringen müssen?“

 

Etwas perplex und zögernd antwortete er: „Das habe ich schon in meiner Pubertät gekonnt. Es war einfach da - wie ich herausgefunden habe, ist die Disposition hierfür vererbbar. Die Leute können es spontan, egal, ob sie spirituelle Interessen haben oder nicht. Sie machen etwas daraus oder bagatellisieren es oder fürchten sich davor. Es hat nichts mit spiritueller Entwicklung zu tun!“

 

„Sooooo?“ Sodashi dehnte das Wort vieldeutig.

 

„Nun ja, ich gebe zu, für meinen inneren Weg war es ausschlaggebend. Es hatte mehr Einfluss als alle Bücher und Lehren“, fügte Elbrich hinzu, „war eben eine Begabung, etwa wie Musikalität. Ich habe diese Begabung gefördert und nicht verkümmern lassen“.

 

Gespielt gekränkt murmelte Sodashi: „Auch wohl ungerecht, dass manche musikalisch sind und manche nicht, gell?“

 

Elbrich dachte angestrengt nach: „Nun ja, es ist anzunehmen, dass diese Fähigkeiten sich im Laufe der Inkarnationen entwickelt haben. Menschen mit hoher Musikalität inkarnieren sich zumeist in entsprechend veranlagten Familien. Das gibt die günstigsten Voraussetzungen, um diese Begabung weiter fördern zu können“

 

Sodashi lachte. „Könnte das auch für spirituelle Errungenschaften gelten?

Bezüglich traditioneller Systeme möchte ich dich auf etwas aufmerksam machen“, fügte sie hinzu. „Als die Menschen nicht mehr in kleinen Dorfgemeinschaften lebten, sondern sich Städte und Reiche bildeten, da entwickelte sich auch auf religiösem Gebiet ein Spezialistentum heraus. Es war ein Beruf, der Macht und Geld einbrachte und vererbt wurde. Einen lukrativen Erwerb an den Sohn weiter zu geben war wichtig, denn schließlich wurde man ja im Alter vom Sohn erhalten. Es war die Pensionsversicherung vergangener Zeiten.“

 

    „Es wäre sehr unpraktisch gewesen, wenn das Können des Nachkommen vom Entwicklungsstand seiner früheren Leben abgehangen wäre und man solcherart keine Garantie für seinen Status und sein Einkommen gehabt hätte. Das wäre ein Unsicherheitsfaktor für die Altersversorgung gewesen. Also musste sich das System nach anderen Richtlinien orientieren. Etwa geheime Zaubersprüche und Rituale, die von Mund zu Ohr weitergegeben wurden. Das schaffte einen Vorsprung an Wissen und Macht gegenüber etwaiger Konkurrenz und erst recht solchen gegenüber, die auf keine Tradition verweisen konnten. Erlerntes kann man an seine Nachkommen weiter geben, im Gegensatz zu Begabungen. Aus derlei Erwägungen entstanden Systeme, Dogmen und Geheimlehren.“

 

Elbrich war verdutzt. Eine derart sachliche Argumentation hätte er hier in Sodashis Umfeld nicht vermutet. Er fühlte sich hier immer wie auf Wolken schwebend und plötzlich wurde er mit einer derart pragmatischen Denkweise konfrontiert.

 

Sodashi lachte. „Die wenigen Idealisten auf Erden haben am Hungertuch genagt. Die Mehrheit der Menschen war auf ihr eigenes Wohl mehr bedacht als auf das Himmelreich, auch wenn sie über das Himmelreich sprachen.“

 

„Denke einmal zurück, hast du nicht auch zu Autoritäten hoch geblickt? Je berühmter jemand als religiöser oder spiritueller Lehrer war, desto höher ist er von dir eingestuft worden. Waren es viele Menschen die ihm oder ihr nachgelaufen sind, so waren sie/er Heilige. Gib zu, du hast nicht die Seele geprüft, sondern dich auf das Urteil anderer Menschen verlassen.“

 

„Noch etwas zum Maha Yoga. Sehr, sehr viele Menschen bringen im Prinzip die Fähigkeiten hierfür mit, aber sie blockieren sich durch falsche Lebensorientierung, Zweifel und Erwartungen. In Zukunft, wenn die Menschen innerlich freier sind, wird es viele geben, die diesen Weg gehen können und daran Freude haben.“

 

Beide schwiegen. Elbrich gab sich seinen eigenen Gedanken hin und Sodashi ruhte in sich.

 

 

 

Die Entscheidung

 

 

Elbrich und Sodashi besuchten Carla nun jeden Tag, und das nicht nur zu den Zeiten, in denen Carla sich in Versenkung begab. Hin und wieder waren sie auch während des Alltages bei ihr. Wie es ihr Sodashi gezeigt hatte, hatte Carla begonnen, an sich selbst Energiearbeit durchzuführen. Es stellten sich gute Erfolge ein. Ihr Energiekörper wurde kräftiger, heller, und die Energieströme breiter. Gleichzeitig mit dem Anwachsen ihrer Energie wurde Carla selbstbewusster. Die früher häufigen Depressionen wurden selten. Carla ging die Aufgaben des Lebens nunmehr mit Zuversicht und Tatkraft an.

 

Auf der Terrasse, unter einem blühenden rosa Kirschbaum, äußerte Elbrich sein Erstaunen über die schnelle Entwicklung bei Carla.

 

„Es sind nur wenige, welche diese Begabung mitbringen“, erwiderte Sodashi ernst. „Diejenigen, die es schaffen, kommen in wenigen Monaten weiter als andere in vielen Jahren. Die meisten aber wagen es nicht, sich für diesen Weg zu entscheiden. Sie haben Angst, mit gesellschaftlichen Normen in Konflikt zu geraten.

Begabung ist also nicht ausreichend. Es gehören dazu auch Selbstbewusstsein und Mut, einen eigenen Weg zu gehen und vor allem die Sehnsucht nach einer spirituellen Heimat und tiefe Liebesfähigkeit.“

 

„Nun, was Carla anbelangt, ist sie ja voll auf dem Weg, und nichts kann sie mehr bremsen“, lächelte Elbrich. Es war ihm eine große Freude, all diese Fortschritte mitzuerleben und zu sehen, wie ein Mensch von Tag zu Tag glücklicher wurde. „Ihre Kopfchakren sind geöffnet, sie kann dich und mich wahrnehmen und spricht mit dir. Sogar die göttliche Allkraft ist ihr in Gestalt von Tara bereits erschienen. Durch sie wird Carla noch einmal auf ganz andere Art und Weise ein Erleben und Verstehen kosmischer Einheit und Liebe zuteil. Ihre Versenkungsübungen sind für sie zu einem täglichen Bedürfnis geworden, und ich sehe keine Hindernisse mehr.“

 

Sodashi blieb ernst. „Ihr Erfolg selbst ist es, der sie vom Weg abbringen kann. So problemlos wie du glaubst, ist ein spiritueller Entfaltungsprozess praktisch nie.“

 

Alarmiert hob Elbrich den Kopf: „Ich sehe es dir an: du machst dir Gedanken – Meinst du es mir sagen zu können?“

 

Sodashi sah auf das herrliche Panorama der Stadt. Liebevoll glitt ihr Blick über die weißen Marmorkuppeln, bunt glasierten Ziegeldächer und spitzen Türme, die sich Flammen gleich in den Himmel erhoben. „Ich liebe die Schönheit dieser Stadt“, Sodashi tastete sich langsam an das heran, was sie sagen wollte, „oft habe ich hier Trost gefunden. Täusch dich nicht, Elbrich: im Maha Yoga können die Erfolge zum Hindernis werden. Carla ist ein gutes Beispiel.“

 

„Carla war Zeit ihres Lebens ein schüchterner, zurückgezogener Mensch. Sie war sozial schlecht angepasst, konnte sich nicht gut darstellen. Immer, wenn sich eine Gruppe zusammen tat, und die üblichen Spielchen um die Rangordnung begannen, zog sie den Kürzeren. Weil sie erfolglos war, zog sie sich zurück - weil sie sich zurückzog und bereits diese Erwartungshaltung hatte, blieb sie auch ohne Erfolg. Aus unserer Sicht der Dinge war dies alles für Carla von Vorteil. Weil es in der Welt für sie nichts zu holen gab, wendete sie sich einer anderen Welt zu, der inneren Welt, der Welt der Phantasien, der Gefühle und des stillen Betrachtens der Natur, mit ihren Blumen, Wolken und Bachrauschen. Sie begann zu malen, gab in Farben wieder, was sie erschaute. Das Malen war auch gleichzeitig Therapie – es lenkte sie vom Grübeln ab, von der Verbitterung über ihre scheinbare Erfolglosigkeit im Leben und verminderte ihre Depressionen.“

 

„Jetzt, nach den Erfolgen im Maha Yoga und der damit verbundenen Persönlichkeitsentfaltung hat sich die Situation geändert. Die Menschen reagieren auf das Glänzen ihrer Augen, sie spüren die Ausstrahlung ihrer inneren Kraft. Ohne dass Carla durch laute Worte und lange Reden die Blicke auf sich lenken muss, wird ihr Aufmerksamkeit entgegen gebracht. Man empfindet sie als starke Persönlichkeit und Carla ihrerseits gewann durch den zunehmenden Respekt sehr an Selbstbewusstsein und gibt dies auch zu erkennen: Sie sucht sich die für sie interessanten Menschen aus, spricht sie an oder braucht auch nur in deren Nähe zu kommen, und schon baut sich ein Kontakt auf. Diese Strategie ist nicht nur erfolgreicher, sondern auch attraktiver als das Bemühen, in einer gemischten und anders denkenden Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken. Mit den durch sie ausgewählten Menschen kann sie mit Leichtigkeit über interessante und tiefe Themen sprechen.

Kurz gesagt, sie hat nun Erfolg, wird beachtet, und alle Wege stehen ihr offen. Die Männer finden sie attraktiv, und beruflich fühlt sie sich zu höheren Leistungen imstande als früher. Sie kann ins Volle greifen und es sich aussuchen. Sie ist plötzlich in der Situation eines in Armut aufgewachsenen Menschen, dem du ein Bündel Geldnoten in die Hand drückst, um ihn dann vor die überquellenden Auslagen einer Geschäftsstraße zu führen. Solch ein Mensch wird nicht mehr wissen, welchen seiner bislang unerfüllten Wünsche er sich zuerst erfüllen soll, er kann in einen Kaufrausch kommen und fast durchdrehen. Ähnliche Situationen können sich auch im Maha Yoga ergeben. Auf einmal können die Yogapraktikanten viele der bislang unerfüllbaren Wünsche verwirklichen. Sie haben nun ein großes Nachholbedürfnis. Während sie früher in sich gekehrt waren, stürzen sie sich jetzt in die Welt.“

 

„Ich bin überrascht!“ Elbrich konnte sich eines lauten Ausrufens nicht enthalten. „Offenbar ist es bedeutsam, aus welchen Ursachen ein Mensch in sich gekehrt ist. Kann man in der Praxis unterscheiden, ob eine scheinbare Verinnerlichung aus Frust oder Veranlagung entstanden ist? Gibt es denn keine Anzeichen, die erkennen lassen, ob ein Mensch, nachdem seine Persönlichkeit erstarkt ist, sich dem Erfolgstreben oder dem Spirituellen zuwenden wird? Eigentlich hätte ich gedacht, dass sich eine solche Frage überhaupt nicht stellen würde, sobald einmal ein Mensch Kontakt mit dem Göttlichen hatte. Wo in der Welt findet man denn eine derart hingebungsvolle Liebe als die der Allmutter? Was könnte die Welt auch nur annähernd Gleichwertiges bieten?“

 

„Ich verstehe jetzt, warum du sie auch tagsüber aufsuchst - und weshalb du manchmal nachts bei ihr gestanden und Dich mental in ihre Träume eingeschaltet hast.“ Stockend sagte er dies, als wäre er nicht davon überzeugt. Ratlos und verwirrt schwieg er dann letztlich. So logisch Sodashis Erklärungen klingen mochten, in seinem Herzen konnte er dem nicht mehr folgen.

 

„Wir neigen dazu zu glauben, dass der Mensch eigenständig alle seine Entscheidungen trifft. Dies trifft nur teilweise zu. Der Mensch ist andauernd Ratschlägen, Empfehlungen und Angeboten ausgesetzt. Ob beim Einkaufen, vor dem Fernsehapparat, im Gespräch oder wo auch immer. Diese Einflüsse hämmern auf den Menschen nicht nur aus der irdischen, sondern auch aus den jenseitigen Welten auf ihn ein. Ein Mensch muss stark sein, um all dem Widerstand zu bieten und nach Vernunft und Herz entscheiden zu können.“

 

„Die Macht unserer Gegenspieler wird oft unterschätzt. Sie haben kein Interesse an der Schmälerung ihres Einflusses durch einen Menschen, der stärker wird. Das Erwachen ist es, was sie stört, weniger das Licht. Die Vertreter der dunklen Seite sind Pragmatiker, keine fanatischen Gegner des Guten, wie manche glauben. Es geht ihnen um Macht. Solange die Menschen blind und beeinflussbar sind, sind sie auch leichter als Vasallen zu unterwerfen oder dienen unwissentlich als Verstärker ihrer Energien. Jedenfalls ist auch diese Seite über den Stand der Dinge bei Carla bestens informiert. Sie wissen, was los ist und werden versuchen, es in ihre Richtung zu regeln. Sie vermögen viel, denn ihre höheren Hierarchien sind Könner in der Magie, virtuose Beherrscher des Bewusstseins. Sie sind uns Yogis ebenbürtig. Was den Anhang und irdischen Einfluss anbelangt, sind sie sogar mächtiger.“

 

„Carla hat jetzt neue Möglichkeiten. Sie will ihrer finanziellen Not entfliehen und eine Arbeit haben, die ihr Freude macht, und in welcher sie viel Gutes bewirken kann. Insofern bin ich konform, auch ich wünsche ihr das, vorausgesetzt, die Arbeit ist nicht aufreibend und beraubt sie nicht der Ruhe und Zeit, die für Maha Yoga nötig ist. Leider kann man sich das oft nicht aussuchen. Es ist schwer in der gegenwärtigen Zeit eine gute Arbeit zu finden. Zumeist bedeutet es Stress, und die Emotionen werden hin und her geschaukelt. Leicht verabsäumt der Mensch, hierbei nach innen zu horchen und entscheidet sich vorschnell.“

 

„Die Gegenseite hat die Situation ausgenützt und war eifrig bemüht Carla auf telepathischem Weg eine Selbstüberschätzung zu suggerieren: Wie groß ihre Möglichkeiten wären Gutes zu tun, sofern sie sich in die hierfür nötigen Machtstrukturen eingliedern würde. Die Carla zugeflüsterten Suggestionen klangen edel und griffen. Sie waren auf einen ‚karitativen’ Job ausgerichtet. In derselben Weise war es ihnen möglich, einflussreiche Leute auf Carlas Ansuchen positiv einzustimmen. Wenn die Gegenseite diesen Job ermöglicht, kannst du dir vorstellen, dass er doch nicht so karitativ ist, wie es den Anschein erweckt. Aber wer sollte das auf Anhieb erkennen? Auch Carla konnte das nicht. Nur in der Versenkung und Verbindung hätte Carla eine Warnung empfangen können, aber zu dieser Zeit war sie wegen der Jobsuche zu sehr gestresst und zu einer feinen Einstimmung nicht fähig.“

 

„Du sprichst ja so, als ob das alles schon geschehen wäre“, sprach Elbrich alarmiert. „Einstweilen sehe ich nichts davon.“

 

„Es ist bereits gelaufen! Bevor sich die Geschehnisse auf der Erde abspielen, werden sie meist bereits auf astraler Ebene und im Bewusstsein der Beteiligten geregelt. Das ist geschehen, der Rest ist nur noch ein automatischer Ablauf. Du wirst sehen, innerhalb von 14 Tagen hat sie den Job ihrer Träume, ihrer von den Dunklen suggerierten Träume“, fügte Sodashi noch leise hinzu.

 

„Das begreife ich nicht! Wie kann das bereits entschieden sein, bevor sie ihr endgültiges Ja dazu gesagt hat?“

 

„Eine Entscheidung ist oft eine Folge der Gewichtung. Stell dir den Menschen als ein Bündel verschiedenster Kräfte vor. Kräfte, die in gleicher Richtung ziehen und solche die in die gegenteilige Richtung oder woanders hin wirken. Eine jede Eigenschaft des Menschen, jeder Wunsch, jede Angst, jede von Emotionen behaftete Erinnerung übt eine innere Kraft aus, die ihr Ja oder Nein bei einer schicksalsbestimmenden Entscheidung in die Waagschale wirft. Es ist nicht ein Ich, das entscheidet, sondern eine Summe innerer Kräfte. Diese psychisch verankerten Kräfte ändern sich nicht von einem Tag zum anderen. Sie haben eine gewisse Trägheit.“

 

 „Das kann doch nicht wahr sein“, rief Elbrich. „Ich dachte es gibt eine göttliche Ordnung! Die Allmutter selbst hatte sich doch um Carla bemüht, sie wird das doch nicht zulassen!“

 

„Was stellst du dir unter der Allmutter vor? Eine Despotin? Sie ist wie die Sonne, die allem Licht gibt, ob Unkraut oder Getreide. Sie ist reine Liebe und protegiert nicht. Sie greift in keine Interessenskonflikte ein. Der Mensch selbst muss entscheiden.“

 

„Du hast mir ja einmal von den Lipikas, den Meistern des Karmas erzählt, die für Schicksalsgerechtigkeit sorgen, an die müssen wir uns wenden und den Fall vortragen“, empörte sich Elbrich.

 

Sodashi lächelte, „ich gehöre auch zu den Lipikas“, sprach sie und sah dem verblüfften Elbrich ins Gesicht.

 

Es verschlug ihm die Sprache. In seinen Augen waren Lipikas die obersten Regenten, die sich um Gerechtigkeit und förderliche Schicksalsentwicklung bemühten. Sie gehörten den obersten Ebenen an und kaum jemand bekam sie je zu Gesicht. Und zu ihnen gehörte Sodashi?

 

Sodashi las seine Gedanken und lächelte. „Es stimmt, die Entscheidungsträger sind entwickelte und erleuchtete Wesen. Auch da gibt es noch Abstufungen und Vertreter aus den verschiedensten Bereichen.

Die Lipikas sorgen für Gerechtigkeit. Das aber beinhaltet, dass sie die Forderungen und Ansprüche einer jeden Seite berücksichtigen. Es gibt Regeln – sie achten darauf, dass diese eingehalten werden, ebenso, wie sie selber daran gebunden sind. Dies ermöglicht ein Zusammenspiel der dunklen und der hellen Seite der Schöpfung. Die Einteilung in eine „dunkle und helle Seite“ ist eine flache Vereinfachung der Situation, entschuldige, dass ich bisweilen solch simple Vereinfachungen verwende. Simplifizierungen erleichtern das Verständnis und das zählt oft.

Die Lipikas sind jenseits von dem, was wir gut und böse nennen. Aber bleiben wir einstweilen bei unserer polaren Denkweise. Das Dunkle und Helle ergibt durch das Wirken der Lipikas ein Zusammenspiel wie bei einem Schwarz-Weiß Film – bei diesem gibt es nur durch beides, Licht und Schatten, eine Handlung auf der Leinwand zu sehen. Ebenso ist es in der Schöpfung. Ein Bekämpfen und Zerstören innerhalb der Schöpfung wird durch das Wirken der Lipikas in Grenzen gehalten und so gelenkt, dass Wachstum und Entwicklung möglich sind. Dies wollen ja letztlich alle, nur sind sie sich nicht in der Richtung einig.“

 

Elbrich ereiferte sich: „Ich gehöre nicht zu den Lipikas und unterliege nicht ihren Gesetzen des Gleichgewichtes. Also ist es mir erlaubt alles daran zu setzen, um diese Zukunft von Carla zu verhindern“.

 

„Ja, das ist dir erlaubt. Unter den Lipikas gibt es auch Angehörige, welche die Interessen der dunklen Seite vertreten. Sie sind keineswegs böse oder destruktiv, wie man meinen könnte. Es wäre eher angemessen, sie als kosmische Staatsanwälte oder Vollzugsrichter zu bezeichnen. Was das Schicksal von Carla anbelangt, sind im Augenblick sie am Zug.“

 

„Woher weiß man, wann wer ‚am Zug’ ist?“ Elbrich wurde die Situation immer rätselhafter.

 

„Vorher waren die Yogis am Zug. Dadurch war es möglich, dass ich Carla den Maha Yoga beibrachte, sie die kosmische Einheit und Allliebe erkennen konnte und ihrem Leben ein spirituelles Ziel vor Augen geführt wurde. Es ist so: der Mensch kann nicht einfach unbegrenzt gefördert werden. Von Zeit zu Zeit muss er sich auch beweisen. Auch muss er Altes aufarbeiten und der neuen Situation anpassen. Er muss mittels Entscheidungen und Verzicht beweisen, welchen Stellenwert er der spirituellen Entwicklung beimisst.  Hierbei ist die andere Seite am Zug. Sie darf prüfen!“

 

„Wenn du der Ansicht bist, dass eine Prüfung zu verfrüht oder unangemessen ist, kannst du dich ja an die Lipikas wenden. Hier gebe ich dir eine Tafel, in welcher ein astraler fingerprint von Carla enthalten ist. Das ist notwendig. Nach einem weltlichen Namen kann ein Lipika schwer jemanden ausfindig machen. Ein fingerprint jedoch ist eine Kennung, die eine astrale Verbindung zu Carla ermöglicht – damit ist es für sie eine Leichtigkeit Carla anzupeilen. Die momentan zuständigen Lipikas findest Du in der Halle hinter dem Turm, der wie ein Ritter aussieht. Du bist ja damals solch einem Lipika begegnet.“ Damit reichte sie Elbrich eine gelbe Tafel, und sah ihn interessiert an, in Erwartung der Entscheidung, die er treffen würde.

 

Elbrich zögerte nicht und erhob sich aus dem Stuhl, um sich auf den Weg zu machen.

 

„Einen Augenblick noch“, rief Sodashi, „du kannst diese Wesen nicht so einfach ansprechen. Sie kommunizieren nur telepathisch. Ich hoffe du schaffst das!“

 

„Ich habe doch Telepathie bei dir geübt und mit Carla verständigen wir uns fast ausschließlich telepathisch.“

 

„Das ist eine andere Art von Telepathie“, ergänzte Sodashi. „So wie es einfache Worte gibt und ‚Worte der Kraft’, Mantras, wie es die Inder nennen, so können auch Gedanken von unterschiedlicher Qualität sein. Hinter jedem Gedanken steht eine Persönlichkeit und die Kraft dieser Persönlichkeit.

Sei vorsichtig. Bloße Telepathie genügt hier nicht. Aus reiner Gewohnheit schon werden sie versuchen, dich auszuloten bis in deine geheimsten Winkel. Du musst deshalb in absolute Gedankenstille eintauchen, nichts darf sich in dir regen, auch nicht die kleinste Emotion. Bilde beim Kommunizieren keine Vorstellung, die du ihm nicht klar und bewusst entgegen sendest. Er wird in dein Bewusstsein eintauchen wollen. Umgib dich mit einer Mauer aus Willensstärke und steinerner innerer Reglosigkeit. Sonst kannst du in arge Schwierigkeiten kommen.“

 

Nun doch etwas bedächtiger als ursprünglich vorgehabt, begab sich Elbrich auf den Weg. Er stieg den felsigen Hang hinunter, öffnete das schmiedeeiserne Gartentor und ging zum Zentrum der Stadt, das sich langgestreckt auf dem felsigen Kamm erstreckte. Bald stand er vor dem Turm im Aussehen eines steinernen Ritters. Er öffnete das Tor und betrat die leere Halle. Das kühle Dämmerlicht der Halle erschien ihm jetzt von anderer Aussage als damals und gemahnte zur Vorsicht.

 

Elbrich schritt entlang der Arkaden, die von den steinernen Figuren getragen wurden und deren Nischen sich im Dämmerlicht verloren. Aus dem Schatten trat eine mächtige Gestalt hervor, gut zwei Köpfe größer als Elbrich. In bodenlangem schwarz-weißen Umhang gekleidet, trug sie auf dem Kopf seitlich ausladende, in sich gedrehte Widderhörner. Elbrich fasste sich in Ruhe und versuchte, die Ausstrahlung dieses Wesens auszuloten. Nichts Diabolisches haftete ihr an. Eher war es eine erhabene, nicht-irdische Erscheinung, jenseits des menschlichen Auf und Ab der Gefühle. Langsam dämmerte Elbrich, dass die Erscheinung Bezug haben könnte zu Chnum, jenem altägyptischen Gott, der den Leib des Menschen auf der Töpferscheibe formt. Der des Menschen Seele in diesen irdischen Leib bindet und solcherart den Wogen des Schicksals unterwirft. Weder dunkel noch hell war dieser Lipika und dies zeigte er durch helle und dunkle Streifen auf seinem Umhang.

 

 

 

Die Erscheinung des Lipikas stand vor ihm, schweigend, und  wieder versuchte ihr Blick wie Röntgenstrahlen tief in Elbrich einzudringen. „Wer bist du, dass du es wagst... „, Er sprach keine Worte sondern Elbrich fühlte die Frage in sich. Sollte ihn die Frage aus dem Gleichgewicht bringen, Emotionen aufwühlen? Ausloten, ob er stark oder ängstlich wäre? Es war keine Bedrohung zu fühlen, sondern nur ein Lauschen auf seine Reaktionen. Elbrich verblieb in innerer Stille, zeigte keine Regung, weder Angst noch gekränkte Eitelkeit, er blieb in seinem inneren Gleichgewicht. Nunmehr fühlte er eine höhere Akzeptanz durch jenes Wesen.

„Was willst du“, war das nächste was er fühlte; es war wie ein Bohren nach Wünschen, Sehnen, Hass, Rache oder sonstigen Empfindungen. Auch hier blieb Elbrich innerlich unbewegt. In Gegenwart dieser Macht erhob sich der innere Wille Elbrichs im Aufgebot aller Kräfte zu selten erlebter Stärke, zum eigenen Schutz dem fremden Willen trotzend.

 

„Das Schicksal einer mir nahestehenden Person hat sich durch den gezielten Einfluss missgünstiger Wesen in eine Richtung entwickelt, die sie einer jeden Hoffnung auf Weiterentwicklung beraubt. Sie verliert ihre große Chance, ein höheres Ziel im Leben zu erreichen. Ich übergebe dir mit dieser Tafel ihre aurische Kennung.“ Damit überreichte Elbrich dem Lipika die gelbe Tafel.

 

War es Erstaunen, das Elbrich wahrnahm? Er war nicht sicher, zu wenig gab dieses Wesen von sich zu erkennen. Wortlos wurde die Tafel angenommen, in reglosem Schweigen blieb das mächtige Wesen stehen. Weder sah man es auf die Tafel blicken, noch sah man auf seinem Antlitz Konzentration oder Versenkung. Der Lipika stand lediglich still, sein Blick allerdings weniger bohrend als zuvor. Einige Augenblicke später blickte er Elbrich wieder bewusster an und sprach: „Sie hat ohne Zögern das angenommen, was ihr geboten wurde. Hinter den Argumenten von Edelmut und Aufopferung für die Mitmenschen steckt in ihr unbewusst der Wunsch nach Selbstbestätigung durch eine einflussreiche Karriere. Eitelkeit und Streben nach Achtung und Anerkennung sind stärker als der Wunsch zu helfen. Ich werde nicht einschreiten, noch sonst eine Änderung bewirken.“ Damit wendete er sich von Elbrich ab und verschwand im Schatten hinter den Arkaden.

 

Elbrich war sehr niedergeschlagen, als er zu Sodashi zurückkehrte. Sodashi ihrerseits war keineswegs überrascht. Sie war nur sehr nachdenklich.

 

 

 

Die Wende

 

 

Carla hatte die Stelle tatsächlich bekommen. Es war ihre Aufgabe, für eine karitative Organisation Spendengelder aufzutreiben. Sie machte viele Überstunden um sich einzuarbeiten, sie musste zu Veranstaltungen gehen, um dort Kontakte zu knüpfen. Die Bezahlung war nicht sonderlich hoch. Aber sie hatte Zugang zu gehobener und einflussreicher Gesellschaft, war in diversen Events von Wirtschaft und Botschaften, sprach mit Künstlern, Politikern und Managern - mit Leuten, die sie früher nicht einmal von weitem gesehen hatte. Sie lernte sehr viel im Umgang mit anderen, wurde gesellschaftlich versiert, beherrschte bald den small talk, wurde allmählich eine Könnerin im Schreiben von Briefen und Zeitungsartikeln. Unabhängig von ihrer Tätigkeit - oder gehörte es doch dazu, so genau konnte man das nicht mehr trennen - bekam sie Karten zu Konzerten und Opern, Einladungen zu Vernissagen und den verschiedensten Veranstaltungen. Auch vermittels dieser Anlässe bildeten sich wertvolle Kontakte. Zwar waren diese meist nicht sehr tief, dafür aber zahlreich. Etliche Kontakte waren nicht nur geschäftlicher Natur, sondern es entwickelten sich gegenseitige Sympathien. Manche Bekanntschaft versorgte sie mit sonst geheimen Informationen und war beruflich hilfreich.

 

Carlas Maha-Yoga-Ambitionen begannen zu versiegen. Sie hatte keine Zeit mehr dafür und war viel zu erschöpft. Abgesehen davon fühlte sie kaum mehr Bedürfnis danach. Ihre Tage waren ausgefüllt, ihre Tätigkeiten brachten ihr Genugtuung und Erfüllung.

 

Elbrich war enttäuscht und hatte jede Hoffnung begraben. Er hatte Carla abgeschrieben. Sofern Sodashi Carla besuchte, lud sie ihn nicht mehr ein, und er bat sie auch nicht darum, aus Angst vor neuerlichen Enttäuschungen. Elbrichs Informationen wurden spärlicher, allerdings konnte er sich kaum vorstellen, dass Sodashi jeden Kontakt abgebrochen hätte und nicht zumindest hin und wieder bei Carla vorbei sehen würde. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie überaus treu Sodashi war. Brachte er jedoch das Gespräch auf Carla, gab Sodashi nur kurze Antworten über den gegenwärtigen Stand der Dinge. Umso erstaunter war er, als Sodashi eines Tages von sich aus das Gespräch auf Carla lenkte.

 

„Carla hat einen anderen Zukunftsweg eingeschlagen“, eröffnete Sodashi das Gespräch. Elbrich war wie vom Donner gerührt.

 

„Es ist jetzt ein ganzes Jahr, seit Carla die Tätigkeit in dieser karitativen Organisation begonnen hat. Die Tätigkeit war zwar zeitintensiv, erfüllte jedoch jede von Carlas Erwartungen. Sie wurden sogar übertroffen! Carla avancierte zur stellvertretenden Chefsekretärin und wurde mit verantwortungsvollen Aufträgen betraut. Hierzu gehörten, bei großzügiger Freizeitbemessung, Auslandsreisen, in denen sie Geldbeträge zu Vertretern verwandter Organisationen brachte oder großzügige Spenden in bar übernahm. Sie fühlte sich durch das große Vertrauen geehrt und war zudem erfreut, fremde Städte und Länder kennen zu lernen.

 

 

„Carla hatte sich in der Firma gut eingelebt. Ihre Position in der Verwaltung war anerkannt und respektiert. Zudem fand sie unter den Mitarbeitern eine gute Freundin. Eines Tages hatte Brigitte, Carlas Freundin, einen Unfall. Ein Knie wurde derartig beschädigt, dass eine Entzündung schwelte, der mit keinem Medikament beizukommen war. Sie musste im Rollstuhl sitzen. Obwohl die Organisation, in der beide Frauen arbeiteten, karitativ ausgerichtet war, wurde Brigitte gekündigt. Das versetzte Carla einen tiefen Schock. Ihr eigenes Verständnis von Menschlichkeit hatte sie ebenso von ihrem Arbeitgeber erwartet.

 

In der Freizeit kümmerte sich Carla um ihre Freundin, kaufte für sie ein und räumte ihre Wohnung auf. Mit der Beschäftigung in der Firma endeten für Brigitte die Gehaltszahlungen, bald auch das Arbeitslosengeld und es blieb nur die Notstandshilfe. Die beiden Frauen entschieden sich, eine der zwei Wohnungen aufzulösen und zusammen zu ziehen. Carla versprach sich dadurch auch eine Entlastung – musste sie doch nicht mehr hin und her pendeln und zwei Wohnungen gleichzeitig versorgen. Ihr Leben wurde immer schwerer. Einige Auslandsaufträge musste sie ablehnen und öfters auch Einladungen zu Veranstaltungen, wollte sie Brigitte nicht zu sehr sich selbst überlassen. Der Chef, das sah man ihm an, war mit der Entwicklung nicht glücklich, er behielt aber Carla weiterhin in seiner Organisation. Nach wie vor vertraute er ihr Auslandsaufträge an, zahlte Flugtickets und Hotels und Carla überbrachte ihm wiederum so manche Barschaft unter Umgehung von Formalitäten. Schließlich sollten dadurch Abgaben erspart werden und die frei gewordenen Beträge wiederum guten Zwecken zufließen.“

 

 „Es war ein Gespräch, das Carlas Leben von Grund auf änderte. Ein Wirtschaftskapitän, ein sympathischer Mann, war bei einer der Veranstaltungen ihr Tischnachbar an einem Nebentisch. Wie sich zeigte, hatte er sehr gute Einblicke in ihre eigene Organisation, bessere als Carla selbst. Wenn sie ihm glauben durfte – und sie tat es - vollzog sich hinter der Kulisse karitativen Handelns Geldwäscherei in großem Stil. Niemand wusste ja genau wie viel an Spenden einging, beziehungsweise aus welchen Quellen und Motivationen jene Spenden kamen. Niemand wusste, ob jeder bezahlte Firmenauftrag auch wirklich durchgeführt wurde. Was an echten Hilfestellungen geleistet wurde, kam allerdings ganz groß in die Presse, sowohl zu Werbezwecken, als auch um legale Spender zu mobilisieren. Carla war genau an der Publicity legaler Leistungen ganz groß beteiligt, und ihr Chef war diesbezüglich sehr zufrieden mit ihr, denn Carla machte ihre Arbeit gut, sehr gut sogar. Die Zufriedenheit mit Carlas Arbeit war auch berechtigt, teilte ihr der Wirtschaftskapitän mit. Je mehr Werbewirbel um die Organisation gemacht wurde und je höher der Spendenumsatz war, desto mehr Geld konnte unauffällig mitgewaschen werden.“

 

„Carla war über diese Informationen entsetzt. In der folgenden Zeit verfolgte sie die firmeninternen Vorgänge mit anderen Augen. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken und spielte nach wie vor die Naive. Aus Angst, immer tiefer in die Machenschaften hinein gezogen zu werden und irgendwann nicht ungefährdet aussteigen zu können, kündigte sie eines Tages.

Carla dachte viel über die für sie neue Situation nach und begann sich wieder auf alte Werte zu besinnen.“

 

Nach einer kurzen Pause fuhr Sodashi fort: „Jetzt leben beide in ziemlicher Bescheidenheit in einer Kleinwohnung. Carlas Arbeitslosengeld wird bald auslaufen. Brigitte bezieht weiterhin Notstandshilfe. Carla nutzt die Zeit, sich weiter im Malen auszubilden und stellt mit bescheidenem Erfolg ihre Bilder in Kaffeehäusern und Banken aus. Selbst eine Vernissage brachte sie schon fertig. Sie begann auch wieder mit Maha Yoga – zum einen, weil sie jetzt wieder mehr Zeit hat, zum anderen als neu erwachte Sehnsucht und in Ergänzung zu ihrer Kunst.“

 

„Da beide, Carla und Brigitte zusammen wohnen, ergibt es sich, dass sie vieles gemeinsam tun. Das betrifft auch das Üben und den Wissensaustausch im Yoga. Brigitte hatte früher eine Yogaschule besucht und dort einiges an Basiswissen erworben. Carla brachte Brigitte die Vorgehensweise mittels Tiefentspannung nahe, ein Übungsweg, der Brigitta bislang unbekannt war. In gemeinsamer Tiefentspannung versucht Carla nun an Brigitte Energieübertragungen und kleine Astraloperationen durchzuführen. Astraloperationen sind Korrektureingriffe in Energiekanäle und Chakras.

Komm, wir reisen zu beiden hin, sie beginnen gerade eine Entspannungsübung.“

 

Elbrich hatte die Neuigkeiten kaum verkraftet, als sie schon bei Carla waren.    

 

Carla und Brigitte lagen beide am Boden, nahe beieinander. Jede von ihnen hatte ein kleines Kissen unter dem Kopf. Elbrich stand in etwa zwei Meter Entfernung und beobachtete. Die Energiekörper von beiden hellten sich auf. Dann sah er, wie Carlas Astralkörper unter Mithilfe von Sodashi aus dem physischen Körper herausstieg und sich Brigitte zuwendete. Sie betrachtete Brigitte. Ihr Hauptkanal hatte in der Mitte der Wirbelsäule eine Engstelle. Bis hierher, von der Basis der Wirbelsäule aufwärts, war er leuchtend, darüber dünn und lichtschwach. Carla hatte plötzlich mit einem Mal einen Bergkristall als astrales Objekt  in der Hand, der von seiner Spitze sehr viel Licht ausstrahlte. Sie setzte ihn vor die Engstelle und fuhr den Energiekanal damit entlang hinauf. Der Kanal wurde breiter und heller, jedoch nur bis zur Brustmitte. Weiter schaffte sie es nicht, trotz aller Mühe. Letztlich gab sie sich damit zufrieden. Dann hielt sie ihren Arm vor sich gestreckt. Auf der Handfläche bildete sich eine goldene Kugel, die sie in die Brustmitte von Brigitte setzte. Jetzt hellte sich der gesamte Brustraum schwach mit goldenem Licht auf und blieb so. Brigitte beendete als erste die Übung, blieb noch liegen, ließ alles in sich nachwirken und wartete bis Carla ihrerseits die Entspannung beendet hatte. Immer noch leuchtete ihre Brust in schwachem Gold.

 

Sodashi nahm Elbrich bei der Hand und sagte ihm: „Jetzt zeige ich Carla noch, wie alle Menschen miteinander verbunden sind, wie niemand für sich allein existiert und wie einander geholfen wird, indem dort, wo eine innere Entflammung möglich erscheint, Energien von anderen beigesteuert werden. Dadurch, dass du meine Hand hältst, kannst du die Vision, die ich Carla übermittle, miterleben.“

 

Elbrich versetzte sich in Stille und machte sich bereit, Sodashis telepathische Aussendungen zu empfangen.

 

Er fühlte sich in einem unendlichen All schweben. In der friedlichen, grenzenlosen Schwärze flimmerten zahllose Sterne in hellen Farben des gesamten Spektrums. Während Elbrich das Sternengefunkel in seiner Pracht bestaunte, wuchs in ihm das Empfinden, dass all diese Sterne lebten, dass sie unendlich reich an Schicksalserfahrungen und tiefsten Gefühlen waren. Dann hatte er das Empfinden, mit all diesen Lichtern in Verbindung zu stehen. Von ihnen floss tiefe Liebe zu ihm und das Empfinden, durch uralte Zeiten miteinander verbunden zu sein. Das, was er für Sterne hielt, waren Menschen, erkannte er, die, erhaben über egoistische Motivationen, bereit waren, andere an ihrem Zustand eines glückseligen Friedens teilhaben zu lassen. Und jetzt sah Elbrich, wie dünne Fäden einen Stern mit dem anderen verbanden und viele Fäden auch zu Sternen gingen, die noch blass leuchteten – er hatte sie anfangs kaum beachtet. Auch zu ihnen hin waren diese Lichtfäden geflochten und ließen diese Sterne mehr und mehr in Licht aufglühen. Das Universum, ein unendlicher Bewusstseinsraum, war ein pulsierendes Energienetz, ein lebendiges Wesen, in seiner göttlichen Größe nicht mehr fassbar, und dennoch jedes kleinste Fünkchen in Liebe umfangend.

 

Dann verengte sich das gesamte Bild. Elbrich sah sich selbst als einen dieser Sterne, als eine kleine Sonne, die mit ihrem Licht anderen aus der Dunkelheit des Universums entstehenden Sonnen Kraft und Licht gab, bis auch diese in vollem Leuchten erglühten. Und wie in einem Feuerwerk begann sich das ganze Universum mehr und mehr zu entflammen.

 

Wieder zu Hause setzte sich Sodashi mit Elbrich zum Gespräch und begann die Situation der zwei Frauen zu analysieren.

 

 „Bei Brigitte ergibt sich eine neue, interessante Situation. Die Energien beginnen bei ihr zu strömen und werden stärker. Im Yoga bezeichnet man das als erwachende Kundalini. Das ist auf das gemeinsame Wohnen mit Carla zurückzuführen. Die Kundalinienergien übertragen sich unter gewissen Umständen auf andere Menschen. Eine solche Übertragung kann auch bewusst gefördert werden. Das ist einer der interessantesten Aspekte des Maha Yoga.“

 

„Kurz einige allgemeine Worte darüber, welche Vorgänge die Aktivitäten der Kundalini steigern können: Die sexuelle Triebkraft ist der eigentliche Ursprung der Kundalini. Es mag noch andere Auslöser geben, jedoch reichen diese in ihrer Bedeutung bei weitem nicht an jene der Sexualität heran. Dies wurde im Tantra-Yoga erkannt, der sich im Laufe der Jahrhunderte leider in zwei Richtungen gespalten hat. Eine Richtung sieht in Orgasmen den unmittelbaren Ausdruck des schöpferischen Prinzips, und glaubt, hierdurch bei gleichzeitiger Bewusstseinsausrichtung auf das Göttliche, der Erleuchtung näher zu kommen. Die andere Richtung ist der gegenteiligen Auffassung. Hier wird ein asketischer Weg propagiert. Beide Einstellungen sind extrem und von daher nicht für einen harmonischen Weg der Mitte geeignet.“

 

„Was die Kundalini aktiviert, ist ein Geschehen, das sich teilweise im Körper abspielt und teilweise im Gehirn. Endorphine und andere Botenstoffe, wie Hormone und manches mehr sind Auslöser euphorischer Glückszustände. Damit das Erregungsmuster weite Teile des Gehirns erfassen kann, ist es von Vorteil, wenn der gesamte Körper bei der sexuellen Erregung mit einbezogen wird. Ein Schauer, Zittern, Prickeln etc sollte den ganzen Körper erfassen und zwar für längere Zeit. Einige Sekunden, wie beim Orgasmus, sind zu wenig. Das erregte Körpergefühl muss durch viele Minuten und länger aufrechterhalten werden. Damit kann der Zustand im Gehirn stabilisiert und mit religiösen Vorstellungsbildern vernetzt werden. Eine Erregung aus purer Leidenschaft kann am Beginn wohl die Kundalini in Gang setzen. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass dies nicht von Dauer ist. Besser ist, wenn eine Spannung erhalten bleibt, in der ein tiefes Gefühl der Liebe den Erregungszustand stabilisiert. Eine Yogini oder ein Yogi sollte also darauf achten, das sexuelle Verlangen nicht auf körperliches Geschehen einzuengen, sondern es zu einer Gefühlstiefe zu verfeinern, die letztlich das gesamte Umfeld einzuschließen imstande ist. Die gesamte Umwelt sollte in diesen veränderten Bewusstseinszustand mit einbezogen werden. Ein durch Sexualität gesteigertes  Bewusstsein fördert Liebesbereitschaft und verklärte Wahrnehmung, es erhöht die Wachheit und Aufmerksamkeit. Naturliebe und/oder künstlerische Tätigkeiten sind ergänzende und fördernde Tätigkeiten.

 

Im Unterschied zum „In-Spannung-halten“ durch ganzkörperliche erotische Gefühle, fällt bei einem Orgasmus die Energie abrupt ab. Tiefe Sehnsuchts- und  gehobene Liebesgefühle, für eine Person, Gottheit oder lebendigen Umwelt, sollten durch lange Zeit gehalten, gefestigt und gesteigert werden. Dies ist nicht nur für den Yoga förderlich, sondern macht das Leben auch schöner. Farben werden intensiver, Formen plastischer, die ganze Welt scheint belebter zu werden und verliert ihre graue Flachheit.

Ich möchte noch einmal auf die Bedeutung des partnerschaftlichen Auslebens der Sexualität kommen. Dieses kann den Anstoß für das Erwachen der Kundalini geben. Es ist jedoch mit einem Feuerstein vergleichbar. Ein Feuerstein kann eine Flamme entzünden, er kann sie aber nicht nähren. Dazu bedarf es eines anderen Materials, z.B. Holz. In unserem Fall ist es die liebevolle Zuwendung zu allem was lebt. Solcherart versuchen wir den Funken zu einem immer währenden Feuer zu entzünden.

 

    Bei Brigitte ist der Kundalini Prozess in Gang gekommen. Unter günstigen Umständen ist dies ein Regelkreis, der die Energien zusehends verstärkt. Unsere Aufgabe wird es sein, durch astrale Eingriffe diese Energien optimal in ihren Bahnen fließen zu lassen und so zu leiten, dass sie in ein höheres Gefühlsleben einfließen. Außerdem werden wir versuchen, die Kundalini so zu aktivieren, dass Brigitte hellfühlend oder hellsehend werden kann und damit befähigt ist, den Maha Yoga durchzuführen. Das motiviert und Brigitte wird sich umso mehr bemühen, ihre Entwicklung voran zu treiben.“

 

    Elbrich bekam durch die Ausführungen Sodashis ein tieferes Verständnis für die Wirkungsweise der Kundalini, die in seinem irdischen Leben in keinem ihm bekannten Buch aus der Warte der Neurologie des Gehirns beleuchtet wurde. Sodashis Ausführungen machten ihn darauf aufmerksam, dass Körper, Seele und Geist gleichermaßen wichtig für die Entfaltung der Kundalini sind.

Jetzt wartete er begierig auf den nächsten Besuch. Er wollte einiges von dem Gehörten überprüfen. Deshalb freute er sich, als ihm Sodashi einige Zeit später zu rief: „Komm, lass uns Carla und Brigitte aufsuchen!“

 

 

 

Die Befreiung aus dem Kokon

 

 

Sodashi und Elbrich standen vor Carla und Brigitte. Die zwei Frauen begaben sich gerade in Tiefentspannung. Carla begann wie gewohnt mit Energiearbeit und es zeigten sich gute Erfolge. Ihre Aura war leuchtender und bestand weniger aus unregelmäßigen Farbwolken. Statt dessen schienen sich mit Brust und Kopf als Zentrum konzentrische Lichtaureolen zu bilden. Brigitte lag diesmal in ihrem Bett.

 

Brigittes Erfahrungen während ihrer Versenkungsübungen hatten ihr bislang lediglich ein tiefes Gefühl von Frieden gebracht. Zusätzlich hatte sie das für sie sehr neue körperliche Empfinden, von warmen Strömungen durchflutet zu werden. Jetzt kam sie in eine neue Phase. Sei es durch das bisherige Training, sei es, dass sie im Bett halb eindöste – oder sei es eine Kombination aus beidem: Ihr Körper wurde ihrem Empfinden nach sehr schwer. Er fühlte sich an als sei er aus Blei. Ihr Yogalehrer hatte ihr empfohlen, ihren Konzentrationsschwerpunkt nie auf den Kopf, sondern immer auf Bauch und/oder Körper zu legen. Trotz ihres leichten Dahindämmerns gelang ihr dies.

 

„Dies ist eine neue Phase von Brigitte“, sprach Sodashi zu Elbrich. „Diesmal ist es ihr gelungen, sich sehr tief zu entspannen. Die Körperschwere, welche bei einer gelungenen Tiefentspannung oft empfunden wird, hängt mit der Schlafparalyse zusammen“, fuhr sie fort. „Im normalen Traumschlaf, dem REM Stadium, wird man sich der Schlafparalyse nicht gewahr, weil es keinerlei Körperwahrnehmung mehr gibt. Anders in diesem Fall, einem Stadium zwischen Wachen und Schlafen.

Brigitte beginnt bei dieser ersten gelungenen Tiefentspannung mehr und mehr in den Schlaf abzusinken. Normalerweise führt dies durch Traumprojektionen des Unterbewusstseins zu einem Albtraum. Lass uns weiter beobachten.“

 

Als sie sahen, wie sich die Aura von Brigitte einschnürte und fahl wurde, vertieften sie sich in das, was Brigitte wahrnahm: Da war ein tiefschwarzes Wesen, das sie anstarrte und dessen Blick sie zu lähmen schien. Es schien so real, dass Brigitte in Panik geriet. Sodashi sendete ihr, so stark sie konnte, Mut und Selbstvertrauen zu. Das half. Die Halb-Träumerin begann sich zu fassen. Jetzt versuchte sie aufzustehen, um sich gegen die Bedrohung zur Wehr setzten zu können. Sie versuchte mit aller Kraft, die sie hatte, sich zu bewegen - eine Zeit lang allerdings vergebens. Ihr physischer Körper war im derzeitigen Zustand starr und so suchte und fand die Kraft ihres Willens eine andere Bahn: schon mit dem Bewusstsein im feinstofflichen Körper, ohne es zu ahnen und ihn mit dem physischen Körper verwechselnd, versuchte sie diesen zu bewegen. Schwer, als wöge er Zentner, begann der feinstoffliche Körper sich langsam aus dem physischen Körper zu erheben. Wie aus einem Schlafmantel stieg Brigitte aus ihrem Leib und entfernte sich schleppenden Schrittes vom Bett weg. Im selben Moment war die Bedrohung wie weggeblasen: nirgends war dieses oder ein anderes Wesen für sie zu sehen. Sie ging durch den Raum, der so real wie sonst immer im Leben war. Schritt für Schritt fiel die Schwere von ihr ab. Jetzt erst bemerkte sie, dass die Bewegungen ihres „Körpers“ sich anders anfühlten als gewöhnlich. Ihr Interesse an der neuen Situation stieg. Sie wurde sehr aufmerksam und konzentriert.

 

„Siehst du diesen Nebel um Brigitte“, fragte Sodashi Elbrich, „diese Nebel sind aus sehr dichter Energie. Diese Energie steht der materiellen Welt näher als der astralen. Sie wird Äther, Fluidal- oder Vitalenergie genannt, oder in Asien Chi. Sie wird durch aktive Bauchchakren gebildet. Brigitte kann jetzt hellsehend wahrnehmen, allerdings nur Wesen mit dichtem Astralkörper. Uns kann sie nicht sehen. Ich weiß aber einen Trick, von dem ich allerdings nur sehr selten Gebrauch mache. Beobachte bitte, wie ich einen Teil dieses Nebels von ihr nehme, um meinen astralen Körper damit zu umkleiden. Wenn wir Glück haben, wird sie mich dann sehen können.“

Aus der Sicht Elbrichs verdunkelte sich Sodashi.

 

Brigitte blieb auf einmal stehen und schaute zu Sodashi. Noch war sie sich nicht sicher, ob sie jene anfänglich empfundene Bedrohung vor sich hätte oder einen jenseitigen Helfer. Trotz ihrer Unschlüssigkeit blieb sie innerlich ruhig. Sodashi lächelte ihr zu und schickte ihr so viel Liebe, wie möglich. Auch Brigitte lächelte nun - sie schien sehr glücklich zu sein. Elbrich fühlte wie tiefe Liebe in ihr entstand. Ihre Aura leuchtete auf. Im nächsten Augenblick war sie jedoch schon wieder in ihrem materiellen Körper. Die starken Emotionen hatten sie aus dem Zustand der Tiefenentspannung herausgeworfen.

 

Brigitte war zutiefst aufgewühlt. Sie war einem liebevollen jenseitigen Wesen begegnet. Das erste Mal in ihrem Leben. Zudem hatte sie erstmals erfahren, dass man auch ohne materiellen Leib weiter existieren konnte. Sie hatte es nun erlebt und war auf bloßes Glauben nicht mehr angewiesen. Den gesamten restlichen Tag über war sie überschwänglich glücklich. Nun hatte sie selbst eines dieser wunderbaren Ereignisse erlebt, von denen ihr Carla so oft erzählt hatte.

 

Sodashi und Elbrich kehrten wieder zu ihrem Heim über der Stadt der Tempel zurück. Sie waren beide zutiefst zufrieden. Obwohl der Albtraum von Brigitte ein unvorhergesehenes und zunächst unerwünschtes Ereignis gewesen war, hatte Brigitte durch Mut und Willensstärke diesem scheinbar unglücklichen Beginn eine unerwartete Wendung verliehen. Weder Sodashi noch Elbrich hatten damit gerechnet. Die meisten Menschen meiden nach Albträumen alles, was sie in ähnliche Situationen bringen könnte, fürchten sich sogar vor dem Einschlafen. Elbrich bewunderte Brigitte. Nunmehr begann er auch ihren Lebenskampf nach dem Verlust des Jobs mit anderen Augen zu sehen. Brigitte war ein tapferer Mensch. Sodashi hatte ihm einst erzählt, dass Brigitte all die schwierigen Lebensumstände ohne Verzweiflung und Hader durchgestanden hatte.

 

Sie saßen nicht lange auf der Terrasse, als sich Emanuel und Johann zu ihnen gesellten. Die zwei Freunde konnten nicht lange ihre Erlebnisse bei sich behalten. Schon sprudelte Johann heraus: „Wir waren beim Orden der Schmutzigen und sind in Mönchskutte die Wendeltreppe hinab in die tiefere Ebene gestiegen.“

 

Johann machte eine Pause und ergötzte sich am verblüfften Gesicht von Elbrich. Diesen Augenblick musste er genießen!

 

Elbrich fasste sich aber schnell und lachte: „Willst mich mit einem Witz herein legen, nichts wäre absurder für mich als euch zwei Ganoven in Mönchskutte zu sehen!“

 

Die Heiterkeit von Emanuel und Johann schmälerte sich um nichts. „Ja, wie man sich selbst in den besten Freunden täuschen kann“, lachte Emanuel, „es stimmt tatsächlich, was Johann gesagt hat“.

 

Die zwei Freunde machten eine Pause und fixierten Elbrich, der vor einem Rätsel stand. Es war ihm anzusehen, wie seine Gedanken wild kreisten. Letztlich, fast flehentlich, bat Elbrich um eine Erklärung.

 

„Nun, ich will ja zugeben, dass wir uns nicht zur Frömmigkeit bekehrt haben“, begann Johann, „aber mit Frömmigkeit hat der Kapuzenmantel auch nichts zu tun. Er diente in erster Linie als Schutz gegen die negative Schwingung der tieferen Sphäre. Zumindest wenn man nicht übertreibt und es vermeidet noch tiefer hinab zu steigen. Er war so etwas wie ein Schutzschild. Wir haben das erprobt! Wir sind zwei Ebenen tiefer gestiegen, ohne dass unsere innere Stimmung so düster wurde wie die Ebene selbst. Und nicht nur das! Weil wir im inneren Gleichgewicht und bei voller Kraft geblieben sind, konnten wir auch besser helfen.

    Nun, ja, zugegeben“, Johann schlug die Beine gemütlich übereinander, „in Wahrheit wollten wir eher spazieren gehen, uns neugierig umsehen – du kennst uns ja. Dann sahen wir wie sich einige Tröpfe abquälten – so sinnlos, sage ich dir, und das tat uns leid! Wir mussten einfach etwas tun.“ Nach einer kleinen Pause fügte er noch hinzu: „Fromm im eigentlichen Sinn sind die Brüder vom Schmutzigen Orden ja auch nicht. Da ist ein großes Zugehörigkeitsgefühl zum Orden, ja, aber über ihr religiöses Bekenntnis weiß ich eigentlich gar nichts. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sie überhaupt eines haben. Die Hauptmotivation dürfte sein anderen zu helfen.“

 

„Als wir in der unteren Stadt waren“, setzte Emanuel die Erzählung fort, „sind wir zum Palais gegangen. Dort gingen wir die Stufen hinunter, an deren Ende uns damals Johann begegnet ist. Wir haben uns die Umgebung da einmal näher angesehen. Als wir so herumgingen, sahen wir neben einer Pfütze zwischen Betontrümmern fast eingeklemmt eine gefesselte Frau. Sie hatte eine Unmenge von Stricken wild um sich geschlungen.

 

 

 

Zunächst schaute sie uns voller Panik an. Sie dachte, wir würden ihren wehrlosen Zustand ausnützen und sie quälen. Wir bemühten uns, sie von unserer Hilfsbereitschaft zu überzeugen – dabei leistete die Kutte gute Dienste, denn sie schuf Vertrauen.“

 

„Haha“, lachte Elbrich, „es waren eure Kutten, durch die sie Vertrauen fand und nicht eure Gesichter!“

 

Emanuel überhörte es. „Als wir dann versuchten sie loszuschnüren, bildeten sich immer neue Seile. Dennoch - unter zufriedenen, suggestiven Ausrufen wie „na, endlich“, „prima“, „das hätten wir geschafft“, gelang es uns zumindest, ihre Beine und teilweise einen Arm aus dem Wirrwarr zu befreien. Zwar hingen noch allerlei Stricke an ihrem Körper, auch der Arm war eingeschränkt in der Bewegung – aber, so spärlich das Ergebnis auch klingen mag, für die Frau war es eine enorme Erleichterung! Was immer es gewesen sein mochte, wovor sie sich so gefürchtet hatte – Ratten oder anderes - sie fühlte sich nun nicht mehr derart ausgeliefert: Jetzt war sie imstande sich zu bewegen, um einen besseren Schutz aufzusuchen und in der Lage, sich wenigstens mit einem Arm zu wehren. Wir haben sie gestützt und Schritt für Schritt geführt und gehalten – es ist uns tatsächlich geglückt, sie zur Stiege zu führen. In einem kleinen Raum neben der Eingangshalle hat sie sich dann in eine Ecke gesetzt. Weißt du, es wurde jetzt erst klar, dass es ihre eigenen Ängste gewesen waren, die ihr die Fesseln angelegt hatten. Deshalb gaben wir ihr einen Stock – wir fürchteten einen Rückfall. Und mit diesem Stock hatte sie das Gefühl, sich gegen die von ihr gefürchteten Ratten zur Wehr setzen zu können. Wir blieben noch eine Weile bei ihr und plauderten, damit sich der neue Zustand während dessen stabilisieren konnte.“

 

Emanuel erzählte weiter, was sie im Laufe des Gespräches über die Frau erfuhren und wie sie sich dadurch ein Bild machen konnten, welche Vorstellungen und Ängste für den jetzigen Zustand verantwortlich waren:

„Nachdem die Frau mehr Vertrauen zu uns gewonnen hatte, begann sie über ihr Leben zu erzählen. Sie war in ihrem irdischen Leben von Beruf Lehrerin gewesen. Ihre Eltern waren ungemein hart in der Erziehung ihrer Tochter und duldeten keine Fehler. Der Schuldirektor war sehr despotisch und legte sehr viel Wert auf Disziplin. Die Atmosphäre in der Arbeit war um nichts anders als die ihrer Kindheit. So gab sie den Druck an die ihre anbefohlenen Schulkinder weiter, weil sie nichts anderes kannte. Die Schüler hatten Angst vor ihr. Sie ihrerseits fürchtete sich ebenfalls, denn sie hatte große Angst, dass die Schüler ihre Autorität durch Lärm und mangelnde Disziplin untergraben und den Unwillen des Direktors heraufbeschwören könnten. Schon bei kleinsten Vergehen erteilte sie Nachsitzen, Strafaufgaben, Vermerke an die Eltern oder schlechte Betragensnoten. Niemals zeigte sie irgendeine Gefühlsregung. Ihre Strenge ängstigte etliche ihrer Schüler. Für manche waren die Stunden bei dieser Lehrerin ein Albtraum – alle waren jedes Mal froh, wenn wieder eine Stunde vorbei war.

Als sie starb, fand sie sich gefesselt in besagter Ebene vor. Die Fesseln hatte ihr eigenes Gewissen um sie gelegt. Sie waren die Folge der Strenge und Lieblosigkeit, mit der sie Vitalität und Gefühle der ihr anvertrauten Kinder in Fesseln gelegt hatte. Gleichzeitig waren sie äußere Attribute der Angst, von der sie eingeschnürt wurde. Eigentlich ein tragischer Fall eines Menschen, der im Prinzip Gutes wollte und in diesem Bemühen versagt hatte.“

 

„Wir trösteten die Frau und erzählten ihr nun über unser Leben. Zuerst reagierte sie schockiert – beinahe hätte sie begonnen, sich wieder zu fürchten. Ist ja auch kein Wunder“, lachte Emanuel, „wir haben uns ja wesentlich mehr geleistet als jene arme Lehrerin. Nun, dann war sie doch beruhigt. Allmählich wurde sie im Gespräch wortkarger und zeigte Müdigkeit. Für uns ein gutes Zeichen, denn wir kannten solches vom Anpassungsschlaf her. Ich glaube es wird nicht lange dauern, und sie wird fähig sein, die Stiegen hoch zu kommen.“

 

„Ich muss zugeben“, ergänzte Johann, „dieser Erfolg hat uns beiden sehr viel gegeben, und da wir nun mal keine bescheidenen Leute sind, haben wir es den Ordensleuten oben weiter erzählt. Die waren begeistert und haben unseren Mut bewundert, in diese noch tiefere Ebene hinab zu gehen. Ich muss sagen, sie waren ja immer schon sehr entgegenkommend zu uns, diese guten Mönche, aber jetzt betrachten sie uns als ihresgleichen, umarmen uns sobald wir kommen, und wir fühlen uns bei ihnen fast zu Hause. Von Verpflichtung oder Erwartung uns gegenüber ist keine Spur. Wenn wir kommen, freuen sie sich, und wenn wir nicht da sind, ist es für sie auch in Ordnung.“

 

 

Die Frau beim Bildstock

 

 

Sodashi setzte sich zu Elbrich in den Garten. „Ich war auf der Erde, einen meiner Schüler besuchen. Du kennst ihn noch nicht. Er heißt Emil. Der hatte ein interessantes Erlebnis. Weil es sich hierbei um eine Begegnung mit Wesen handelt, die dem irdischen Plan angehören, will ich dich daran teilhaben lassen. Und zwar hatte er eine Begegnung mit einem Ortsgeist.“

 

„Emil lebt im Osten Österreichs in einem Landhaus, hinter dem gleich die Felder beginnen. Er liebt es dort spazieren zu gehen. Ungefähr vor zwei Wochen wurde mit Vorbereitungen für eine Autobahnbrücke begonnen, die dort über einen Fluss führen soll. Es wurden Sträucher gerodet, Erde ausgehoben, Feldwege erweitert und eine kurze Schotterstraße wurde neu angelegt. Nicht weit von dieser Baustelle, etwa 200 Meter weiter, befindet sich ein steinerner Bildstock undefinierbaren Alters. Er dürfte schon mehr als hundert Jahre alt sein, ist ziemlich hoch und massig gebaut, mit zwei Nischen, in deren einer eine tönerne Marienstatue steht. Gleich daneben steht eine Birke, welche ihre Äste wie beschützend über den Bildstock lehnt. Von dem Bildstock aus sieht man über einen weiten Teil der Felder mit ihren goldenen Getreidehalmen. Eine Baumgruppe gleich in der Nähe des Bildstockes sorgt für fröhliches Vogelgezwitscher.

 

Schamanen würden sagen, dieser Bildstock ist ein Ort der Kraft. Tatsächlich ist dies der Lieblingsaufenthalt eines Ortsgeistes. Emil hatte sich schon öfters mit jenem Ortsgeist, der in Gestalt einer alten Frau erschien, verbunden. Dieser Ortsgeist oder Ortsfee hatte ihm bei früheren Begegnungen in einer Vermischung von Gefühlen und Bildern gezeigt, wie Stille und Kraft diesen Ort durch viele Jahrhunderte erfüllt hatten, wie in ungestörter Ruhe Gräser, Bäume und Sträucher gewachsen waren. Wie das Land einmal endlos weit war, nur von Baumgruppen unterbrochen und der nahe Fluss mit seinen hohen Eschen und Pappeln den Rehen, Hasen und zahllosen anderen Tieren Schatten und Leben spendete. Durch Jahrhunderte hatte sie, jene Ortsfee, über dieses Land gewacht und durch ihre geistige Kraft Not und Unruhe fern gehalten. Seit damals hatte sich an diesem Ort nicht viel geändert. Statt Steppengras gibt es  jetzt Felder, aber auch diese haben noch immer Ähnlichkeit mit den baumlosen Steppenwiesen. Auch ist es hier nach wie vor still, denn die Felder werden nur gelegentlich von Bauern aufgesucht. Die Traktoren und Maschinen erledigen ihre Arbeit sehr schnell und die Bauern sind mit ihrer Arbeit bald fertig. So ist die Störung an diesem abgelegenen Platz nicht lang. Nach den kurzen Besuchen der Bauern breitet sich wieder ein Tuch der Ruhe über das Land.

 

Neulich lenkte Emil seine Schritte geradewegs zum Bildstock. Er verband sich mit der Ortsfee. Zuerst stand sie beim Bildstock, begrüßte ihn, jedoch nicht allzu herzlich. Vielleicht hatte sie gefühlt, dass dies ein besonderer und nicht erfreulicher Anlass wäre. Zudem war ihr das Wesen von Emil nach wie vor fremd. Er ist mehr intellektuell veranlagt und somit grundverschieden von den eher gefühlsbetonten Naturgeistern. Als sie den Eindruck hatte, dass er die Absicht hätte, ein längeres Gespräch zu führen, setzte sie sich auf einen hölzernen Schemel beim Stamm der Birke.

Emil fragte die Ortsfee, ob sie wüsste, was eine Autobahn wäre. Sie wusste es nicht, die Vorstellung davon war ihr vollkommen fremd. Als nächstes fragte er sie, ob sie wüsste, dass Bautätigkeiten für eine Autobahn, nicht weit von ihrem Bildstock entfernt, begonnen hätten. Darüber war die Ortsfee sehr erstaunt. Natürlich hatte sie die Erdarbeiten und Rodungen bemerkt, aber diese hielten sich in einem kleinen Rahmen und waren nicht viel anders als frühere Tätigkeiten der Menschen an Feldwegen, Au und Hecken. Dass dies jetzt anderes sein würde, war ihr nicht in den Sinn gekommen. Emil war erstaunt. Konnte sie es nicht aus den Gedanken der Bauarbeiter ablesen? Dann dachte Emil, dass diese ihre Aufmerksamkeit ja nur auf das Fleckchen ihrer Tätigkeit lenken, darauf achten, dass sie genau die Spur halten, die Maschinen den richtigen Klang haben, gut laufen und Ähnliches. Dazu kommen etwa Gedanken über körperliche Bedürfnisse wie Durst und Müdigkeit. Vielleicht dachte auch der eine oder andere an ein kommendes oder vergangenes Fußballspiel. Keiner von ihnen hatte sich Gedanken über die Zukunft der Landschaft gemacht, diesbezüglich konnte man fast sicher sein. Eigentlich würden sich die Gedanken, so dachte Emil weiter, kaum von jenen der Bauern unterscheiden. Also, woran sollte die Ortsfee erkennen können, dass hier etwas anders lief.

 

So erklärte Emil der Ortsfee, dass in der Autobahnspur, nicht weit von hier, unabsehbar viele Menschen aus fernen Ländern vorbei fahren würden, denn es würde sich um eine wichtige Hauptroute eines ganzen Teiles Europas in Richtung Nord/Süd und Ost/West handeln. Die Ortsfee war alarmiert. Sie rief aus der ganzen Umgebung die verschiedensten Geistwesen herbei. Diese versammelten sich nun um den Bildstock.

 

In Bildern erzählte Emil der Versammlung noch einmal alles von vorne, diesmal genauer. Er zeigte ihnen in Vorstellungsbildern, wie die Menschen vom Süden Europas bis nach Estland hinauf diesen Weg benützen würden, alle in ihre eigenen Gedanken versponnen, mit Wolken von Gefühlen, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen.

Die lokalen Geistwesen wurden erregt, manche waren empört und Hass gegen die Menschen stieg in so manchem dieser Wesen auf. Emil hatte nicht mit einer derart vehementen Reaktion gerechnet. Noch weniger damit, dass man ihn auch gleich als Feind betrachten würde, weil er in den Augen dieser Geister ein Mensch und damit mitverantwortlich wäre.

Mühselig versuchte Emil ihnen zu erklären, dass dies zwar einerseits die Natur beeinträchtigen würde, es aber auch eine Möglichkeit wäre zu lernen. Tausende Menschen würden hier vorbei eilen, eine unglaubliche Fülle von unterschiedlichsten Schicksalen.

Es hätte keinen Sinn über Unabänderliches zu hadern und am Alten fest halten zu wollen. Die Zeit ändert alles und es ist gut, wenn man sich anpassen kann.

 

Die wenigsten dieser ortsansässigen Geistwesen waren bereit, eine für sie unverständliche und ungewisse Zukunft gegen das Vertraute einzutauschen. Sie waren mit Pflanzen und Tieren verbunden, gewohnt das Wachsen und das stille Leben in Blatt und Stamm zu fühlen. Sie befassten sich damit, die Ströme der Energien zu lenken, Heilkraft und Vitalität zu fördern. Die Intellektualität, das Denken in Besitz und vieles mehr, wie es die Menschen kennzeichnet, war ihnen immer schon fremd gewesen.

 

Die Frau vom Bildstock war die einzige, die Emil voll verstand und um sie einige wenige, die zwar nichts von all dem begriffen, aber in Treue und Vertrauen hinter ihrer Ortsfee standen. Im Laufe der vielen Jahrhunderte, in welchen sie über diese Gegend herrschte, hatte sie oft die Menschen beobachtet und diese waren ihr durchaus vertraut. War doch auch der Bildstock, bei dem sie wohnte, menschliches Werk und oft wurden hier Gebete zum Himmel gesandt.“

 

Sodashi machte eine Pause und setzte dann fort. „Das wollte ich dir erzählen. Es soll dir auch zeigen, wie alles miteinander verwoben ist und wie kompliziert oft die Vernetzungen sein können. Allein schon die unterschiedlichen Lebensbedürfnisse schaffen Kollisionen. Es ist nicht nötig, die Ursachen der Konflikte durch das Wirken „guter“ und „böser“ Geister zu erklären.“

 

„Ich sehe, es interessiert dich“, Sodashi lachte. „Nun, wenn schon Erzählungen angesagt sind, will ich dir kurz einiges über Ortsgeister erklären und dir dann eine weitere Geschichten erzählen.“

 

Elbrich war begeistert.

 

„Die Ortsgeister bilden ein sehr großes, abgestuftes Reich. Es beginnt bei etwas weiter entwickelten Naturgeistern, die vielleicht nur eine kleine Waldlichtung, Wiese oder Baumgruppe als Lebensbereich betrachten und hier ordnend wirken. Dort leiten sie die dort lebenden jüngeren Naturgeister. Teilweise übermitteln sie ihnen auch höhere Schwingungen, welche die Naturgeister in ihrer Entwicklung fördern und sie auch glücklich und froh machen. Die kleinen Ortsgeister sind höheren Ortsgeistern untergeordnet, welche viele solche Areale leiten. Und über diesen stehen noch höhere Ortsgeister, bis zu solchen von ganzen Landstrichen und Ländern, bis hinauf zu dem göttlichen Planetengeist, den wir Gaia oder „die Göttin“ oder „die große Mutter“ nennen. Wenn du willst, kannst du auch Tara oder Kuan Yin als die Seele unseres Planenten betrachten. Und es geht noch weiter in noch höhere Ordnungen, die jenseits unseres Horizontes und Vorstellungsvermögens liegen.

 

Die höheren Ortsgeister sind nicht nur mit der Natur sondern auch mit den Menschen vertraut. Die Menschen haben das Land besiedelt, haben Dörfer und Städte gebaut. Auch das wurde in dieses System miteinbezogen.

Unter diesen höheren Ortsgeistern gibt es welche, die Städte verwalten. Sie sind in ihrer Art völlig anders als Ortsgeister von Bergen oder Wäldern. Über sie wird in der Regel in Büchern, wie du sie früher gerne gelesen hast, selten berichtet. Meist wird über die Natur und die sie bewohnenden Wesen geschrieben, aber nicht über die Wesen, welche in Städten wirken. Von solchen Stadtgeistern handelt ein Tagebuchauszug einer Yogini. Den ich möchte dir jetzt bringen. Sie schreibt darin über die mächtige Wesenheit einer Großstadt, die schon durch Jahrtausende den ihr obliegenden Aufgaben nachkommt. Die Kabbalisten nennen solche Wesen „Ortsengel“.

 

Die Ortsgottheit, um die es sich hier handelt, ist eine sehr erhabene Wesenheit, einer alten Metropole mit hoher Kultur. Die Stadt war das Zentrum eines Reiches, von dem aus viele Völker und Länder regiert wurden.

Der Yogini, von welcher der Bericht stammt, sind die verschiedensten Wesenheiten, wie auch Ortsgeister, aus ihrer Religion heraus bekannt. Umso überraschender war für sie die folgende Begegnung, die den Rahmen der ihr bekannten Überlieferung überschritt. Hierzu möchte ich sagen, dass in Altreligionen eher lokal gedacht wurde. Ein globales Denken gab es in früheren Zeiten nicht. Insoferne waren die globalen Aspekte der Ortsgottheiten für die Yogini neu. Letztlich bildet der gesamte Kosmos eine Einheit.

 

Das Netz der Ortsgeister:

Dann besuchte ich wieder die Stadtgottheit. Es ist ja stets eine Freude,

dieses erhabene Wesen aufzusuchen. Der Ort, an dem ich sie aufsuche, ist immer der Dom. Als ich das schwere Tor geöffnet hatte, stand die Stadtgöttin schon da, nahe beim Tor. Ich musste also gar nicht bis hin zu dem Kerzeneck gehen, wo sie normalerweise steht. Ich wollte sie umarmen wie immer, aber gerade als ich mich etwas vorbeugte, fast augenblicklich, ging sie in weißem Rauch auf und absorbierte sich in meinem Herzen. Von da aus nahm sie mich dann in voller Größe ein. Ich war sehr erstaunt, eigentlich verdattert. Mein Intellekt wollte sich einschalten, Einspruch erheben:

"Ist das bei Ortsgottheiten üblich?"

"Dürfen die das überhaupt?". Ich sagte ihr auch, dass ich mich etwas ungewohnt fühle, das ist ja so, als würde die Stadt und ich zu einer Einheit werden, dermaßen verbunden. Ich wollte mich fast wehren dagegen, war mir mit mir selbst uneins, ob ich das will. Ich verstehe mich doch als Weltbürgerin, oder jedenfalls als übernationale Europäerin, damit kann ich mich identifizieren.

 

Da die Ortsgöttin in mir absorbiert war und ich nach außen hin niemanden zum Ansprechen hatte, ging ich einfach voran, immer weiter bis zum Altar und drehte überhaupt einige Runden in dem ganzen Dom. Dabei hatte ich ein Zwiegespräch mit der Ortsgöttin. Ich ließ wieder meine Zweifel anklingen, ob es recht sei, dass sie mit mir verschmilzt. Ich sagte, ich habe die Stadt zwar lieb und bin von hier, aber ich habe mich woanders zu Hause gefühlt, und will auch selber woanders "vom Ort" sein und mein Echo dort genauso finden. Die Stadtgöttin war mir zum Glück nicht böse, sondern völlig verständnisvoll und sanft. Sie sagte mir und das war mir neu: "Man muss eins mit einem Ort sein, um Zugang zu anderen Orten haben zu können."

 

Während sie es sagte und ich durch den halbdunklen Dom schritt, verstand ich ihre Worte bedeutend vielschichtiger, als es sich hier lesen mag. Ich hatte gleichzeitig bildliche Eindrücke, während sie sprach und konnte gefühlsmäßig nachvollziehen wie weit reichend der Sinn dieser Worte war: Ich sah eine Art

Verschachtelung von Räumen/Strukturen vor mir. Das Prinzip bestand darin, dass man nur weiterkommen konnte, wenn man einen Ausgangspunkt in einem Raum hatte.

 

Jetzt, durch die Verschmelzung mit der Stadtgöttin, sah ich wie all die vielen anderen Räume sich miteinander verbinden. Die Stadtgöttin zeigte mir dies während unseres Gespräches in aller Geduld. Zugleich konnte ich das Gespräch in tieferer Weise fühlen, weil mir dieses Wissen durch die Verschmelzung direkt zugänglich war. So zeigte mir die Stadtgöttin, dass man einen Ort erschlossen haben muss, ihm ganz zugehörig sein muss, um sich in der Verschachtelung weiter fortbewegen zu können, und um dann zu den anderen Orten von innen heraus eine Verbindung herstellen zu können. Es funktioniert die Verbundenheit mit dem einen Stammort wie ein Meisterschlüssel zu allen anderen Orten, und hilft, dass man dann bei den jeweiligen Ortsgottheiten willkommen ist. Als sie mir das so zu verstehen gab, wusste ich zugleich, dass es sich bei den "jeweiligen Ortsgottheiten" nicht um unbedeutende, kleine Gottheiten handelt, sondern um Wesen, deren Bedeutung ich bisher überhaupt völlig unterschätzt hatte. Denn mit dem Zutritt zu einem Ort erhält man Verbindung zu einem globalen Netz. Und das, so zeigte mir die Ortsgöttin, wird durch die Verschmelzung mit ihr erleichtert.

 

Es kam mir so ungewohnt und seltsam vor, dass diese Ortsgottheit mich ganz einnahm. Da hat man ein Leben lang die Verschmelzung mit tantrischen Gottheiten als das Wichtigste angesehen, und dann stellt sich die Verschmelzung mit einer Ortsgottheit als die Aufnahme in ein System heraus, durch das der Zutritt zu anderen Orten in globalem Rahmen möglich ist. Wie ich das so niederschreibe, fällt mir erst wieder die Bedeutung der Orts- und Richtungsgottheiten in den Mandalariten des Mahayana ein, die jede Initiation begleiten.

 

Die Ortsgöttin sagte mir: "Durch diese Verbindung wird deine Energie in die weiteren Räume fließen können." Hierbei sah ich, dass die anderen Räume andere Städte, Länder, Kontinente, Welten waren. Wie sie es sagte, da begann zugleich der Prozess. Ich erfühlte ein Ineinandergleiten ohne Ende, jedoch kein Labyrinth: Wer in einem Raum als Ausgangspunkt steht und von diesem Raum getragen wird, weil er mit ihm vollkommen verbunden ist, dessen Energie läuft ohne Hindernis von diesem Raum durch eine „Tür“ in einen anderen Raum und immer weiter und weiter. Und er hinterlässt in diesen Räumen ein wenig seiner Energie, hinterlässt eine Spur, wie ein Faden, der sich weiterwebt ins Unendliche.“

 

 

Als Sodashi ihre Erzählung beendet hatte, war Elbrich sprachlos. Oft schon hatte er während seines irdischen Lebens Plätze aufgesucht und ihre besondere Wirkung verspürt. Er verstand diese Plätze als Kraftorte, wie es im Schamanismus üblich ist und schenkte seine Beachtung nur der Energie. Wie üblich waren seine Gedanken hierbei sehr egozentrisch, indem er erwog, was ihm die Energie bringen könnte oder auf welche Art sie wechselwirken würde. Dass mehr dahinter stehen könne, nämlich vielfältiges Leben, auf diese Idee war er gar nicht gekommen.

Die Erzählungen Sodashis erinnerten ihn an seine Kindheit, als die Gefühle der Einheit und Schönheit selbstverständlich waren und er stundenlang an seinen Lieblingsplätzen träumend verbrachte und Leben um sich erfühlte, von Bienen, Schmetterlingen und Blumen. Alles war für ihn beseelt von Zwergen und Elfen. Es gab keine logische Trennung in hier und dort, alles war eine einzige Welt, ob sichtbar oder unsichtbar. Es war damals ein unmittelbares Erfühlen und der analytische Intellekt war noch nicht erwacht.

 

 

Höllenwelten

 

 

Nach wie vor liebte es Elbrich, zusammen mit seinen Freunden größere Exkursionen zu machen. Allmählich wurde er mit der Ebene, auf der sie jetzt lebten, gut vertraut und auch mit etlichen darunter liegenden Ebenen. Tiefe Ebenen oder Höllenwelten waren ihm und seinen Freunden nicht zugänglich. Sie empfanden tiefere Schwingungen als geradezu schmerzhaft. Allerdings kam Elbrich, wenn er die Erde aufsuchte, gelegentlich mit Wesen aus Höllenwelten in Kontakt. Dies war deshalb möglich, weil es auf dem irdischen Plan nicht nur vielfältige Nischen unterschiedlicher Schwingung gibt, sondern auch die Menschen durch ihre oft wechselnde Aura so etwas wie Sog und Abstoßung gegenüber jenseitigen Wesen unterschiedlichster Herkunft ausüben.

 

Einmal hatte er bei einer solchen Gelegenheit einem dunklen erdnahen Geist helfen wollen, der in einem Lokal am Nachbartisch von Brigitte hinter einem Gast stand. Dieser Geist konnte mit jenem Menschen gut in Resonanz kommen und nutzte dies, um ihn negativ zu beeinflussen. Elbrich, der in jenem Geist eher ein Wesen sah, das des Mitleids und der Hilfe bedurfte, strahlte ihm Liebe und Licht entgegen. Wie war er überrascht, als das Wesen schmerzhaft aufschrie. Erschrocken sah Elbrich, wie Teile des Astralkörpers des Geistes regelrecht verbrannten. Im nächsten Augenblick hatte dieser die Flucht ergriffen, um einer vermeintlichen weiteren Attacke zu entgehen.

 

Durch diese Erfahrung und ein anschließendes Gespräch mit Sodashi lernte Elbrich, dass sich Energien stark unterschiedlicher aurischer Qualität gegenseitig auslöschen können. Jetzt war ihm auch klar, dass es für ihn schon aus diesem Grund nicht möglich war, tiefste Ebenen mit seinem Astralkörper aufzusuchen. Elbrich bedauerte dies sehr, denn er fand, dass eine Kenntnis dieser tiefen Ebenen ihm wertvolle Einsichten verschaffen könnte.

Umso erstaunter war er, als er von Sodashi eines Tages hörte, dass ein Bereisen tiefer Ebenen dennoch möglich wäre. Sie erklärte ihm, wie man das Bewusstsein in tiefere Ebenen versetzen könne, ohne gleichzeitig mit einem Astralkörper präsent zu sein. Es gab sogar mehrere Möglichkeiten hierzu, je nach Kraft und Fähigkeit.

 

Eine Möglichkeit bestand darin, mittels eines inneren, hellsehenden Erschauens jene Ebenen wahr zu nehmen. Der Vorgang erinnerte an ein Fernrohr, dessen Linsen man so einstellen kann, dass immer größere Entfernungen herbei gezoomt werden können. Bei diesem Vorgang stellte sich Elbrich innerlich auf die Wahrnehmung einer dichteren Schwingung ein. Die feineren Schwingungen werden bei diesem Vorgang unsichtbar, was auch für die dazwischen liegenden Ebenen gilt, die sich gleichsam vor dem Blick auflösen.

 

Elbrich erlernte diese Fähigkeit nicht auf Anhieb und es bedurfte zunächst eines Hilfsmittels. Es war eine von Holz umrahmte Scheibe in der Art eines magischen Spiegels. Wahrscheinlich sollte das Aussehen dieses Objektes den inneren Vorgang der einengenden Fokussierung unterstützen. Wie auch immer, wenn er in dieses Objekt blickte, konnte er diverse Szenen sehen. Allmählich schaffte er es unter Anweisung von Sodashi, davon unabhängig zu werden und seinen Blick direkt in die Ebenen hinein zu versetzen. Anfänglich erschien ihm das Erschaute wie sehr weit weg. Die Szene war ein kleiner, heller Scheibenausschnitt, umgeben von Dunkel. Allmählich wurde die Fähigkeit zu sehen immer besser und weitete sich zu einem gleichzeitigen Raumempfinden aus. Es erforderte viel Konzentration, doch lohnte es sich dies zu trainieren, denn es boten sich Elbrich dadurch neue und interessante Möglichkeiten zu lernen.

 

Noch später lernte Elbrich sich mit den Menschen, die er sah, telepathisch zu verbinden. Allerdings konnten seine Gedanken von jenen nur sehr schlecht empfangen werden, meistens gar nicht. Dennoch konnte er manchen auf diese Art Hilfestellung leisten. Es war eine ähnliche Art der Verbindung, wie er sie in den Anfängen seiner Wanderungen hatte – eine Art hilfreicher Intuition: ähnlich mochten jetzt Menschen auf tiefen Ebenen seine telepathischen Zusendungen empfinden.

 

 

In einigen Höllenwelten machte Elbrich eine merkwürdige Beobachtung. Hier gab es Orte, wie Inseln eingestreut, die in ihrem Charakter anders waren als die restliche Ebene. Es schien, als würden sich um einzelne Menschen wie aus Nebel Räume bilden. Manche dieser Räume schienen von farblosen, rauchartigen Gestalten belebt. Es drängte sich der Vergleich mit Bühnen auf: Der Regisseur - eine sich selbst bestrafende Person – umgab sich mit schattenartigen, mentalen Phantomen. Ohne zu merken, dass sie eigenen psychischen Produkten gegenüber standen, betrachteten jene Menschen diese als Teufel, als eigenständige Individuen oder als die von Gott verstoßenen Dunkelengel, denen sie nun ausgeliefert waren.

Der Glaube an religiöse Jenseitsdarstellungen war in manchen Menschen derart fest verankert, dass sie ihre Schuldgefühle im Rahmen solch selbst erschaffener Kopien eingeimpfter Glaubensdogmen auslebten.

 

Elbrich stellte fest, dass diese Bühnen oder Örtlichkeiten nicht so dicht und farbig waren wie die Astralebene außerhalb solcher Bereiche. Sie erschienen seinem Auge wie eine Umgebung, die sich aus Dampfschwaden bildet. Selbst die Teufel, die dort in Erscheinung traten, waren nur schwach farbige, wolkenartige Erscheinungen mit einer Pseudointelligenz. Sie waren Scheinwesen, die nicht aus eigenem Antrieb handelten. Sie waren wie Marionetten, die vom Unterbewusstsein der sich selbst quälenden Menschen geführt wurden. So waren auch die Vorgänge, die sich um solch einen Menschen abspielten, überaus monoton: sie hatten ja nur den einen Zweck, dessen Erwartungshaltung eines Abbüßens von Sünden zu erfüllen.

 

Nur in wenigen Fällen hatte Elbrich hier einer armen Seele helfen können. Am hinderlichsten war, wie sich herausstellte, dass die Menschen sich derart in eigene Vorstellungen hinein gelebt hatten, dass sie von außen nicht mehr ansprechbar waren.

 

Einmal gelang es Elbrich durch große Geschicklichkeit und fast aus Versehen, einem Büßer die Halluzination einer Erscheinung zu suggerieren. Eigentlich hatte er sich nur mittels eines inneren Bildes der anderen Person sichtbar machen und ein Gespräch mit ihr führen wollen. Doch dann kam alles anders.

Die arme Büßerseele konnte seinen Kontakt unbewusst wahrnehmen und projizierte das innere Bild in seine Umgebung. Dort empfand er die neu auftauchende, helle Gestalt als einen von Gott gesandten Engel, der ihm durch sein Erscheinen zu verkünden schien, dass die Strafe nun abgebüßt und das Fegefeuer beendet sei. Elbrich war erstaunt, wie eine ungefähre Abbildung seiner selbst unbeabsichtigt und unerwartet in die Bühnenhandlung integriert wurde. Er wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass so etwas überhaupt möglich war. Die Folge dieses Geschehens war erstaunlich. Als hätte der Büßer auf den Posaunenklang der Erlösung gewartet, richtete er dankbar seinen Blick nach oben. Es verschwanden die Mentalformen und die umgebende Szenerie. Als weißgraue Gestalt erhob er sich empor. Dann schien sich die weißgraue Form aufzulösen und es war nichts mehr zu sehen. Zurück blieb eine nichtssagende steinige Landschaft.

 

Elbrich machte sich Gedanken, was diesen jähen Umbruch bewirkt hatte. Hatte jene Seele schon das Empfinden genug gebüßt zu haben und wartete sie bereits auf eine Erlösung? Oder konnte er Gefühle wie Mitleid und Liebe übertragen und dadurch die destruktiven Psychomechanismen in diesem Menschen überwinden?

Was geschah nachdem sich die dichtere Form des Büßers aufgelöst hatte? Fand er sich in neuer Gestalt auf einer höheren Ebene wieder?

 

Jetzt beim gemeinsamen Gespräch versuchte Elbrich, nach wie vor hiervon fasziniert, seinen zwei Freunden solche Mentalhöllen zu erklären. Er erzählte:

„Ich war vor kurzem in einer Höllenwelt. Normalerweise  werden die Astralwelten von den kollektiven Vorstellungen ihrer Bewohner geprägt. Hier, in dieser Höllenwelt aber war es anders. Hier gab es individuell geprägte Inseln. In diesen lebten die Menschen isoliert und hatten keine Kontakte zu anderen Menschen. Sie grenzten sich ab und schufen auch ihre eigene Umgebung. Diese Inseln waren ähnlich kleiner Einschlüsse in der restlichen Astralwelt. Sie waren nicht nur anders im Aussehen als der Rest der Umgebung, sondern wie es schien sogar aus anderem Stoff gebaut. Sie wurden weniger durch Gefühle als durch mentale Vorstellungen geschaffen. Auch waren sie relativ klein, je nach der Kraft, über die ein solcher Mensch verfügte.“

 

„Ich erkläre mir dies folgendermaßen: Die Vorstellung einer Schuldbestrafung wurde vielen Menschen durch Religion und weltliche Gerichtsbarkeit tief eingeprägt. Oft wurden sie schon von den Eltern so erzogen. Genau genommen ist dies ein einfaches und primitives Gerechtigkeitsverständnis, da es mit einer dualen Beziehung von Täter und Opfer auskommt und nicht das Verständnis eines komplexen Netzwerkes von Beziehungen erfordert. Der Glaube „Gerechtigkeit durch Vergeltung“ führt zu der irrigen Vorstellung, dass ein Vergehen nur durch ein Abbüßen getilgt werden kann. Diese Vorstellung wird durch den Glauben verstärkt, dass nach dem irdischen Leben nur das Fegefeuer und das jüngste Gericht nachfolgen und es somit keine Chance gibt, durch gute Taten Verfehlungen wieder wett zu machen.“

 

Elbrich machte eine Pause und versank kurz in Gedanken. Die Freunde hatten das Empfinden, dass noch eine interessante Erzählung nachfolgen könnte und schwiegen.

„Es ist traurig, oft sind die „Verschuldungen“ nicht einmal Vergehen im ethischen Sinn, sondern nur Verstöße gegen eine zeitbedingte oder religiöse Moralvorstellung. Das sehen zu müssen, wie sich die Menschen hierfür selbst bestrafen, ist für mich besonders bitter. Ach, wie viel unnötiges Leid entsteht in der irdischen und auch in der jenseitigen Welt. Oft haben es Menschen, welche ihre inneren Konflikte in Aggressionen nach außen ausleben, leichter, als jene Menschen, die unter Einfluss wohlmeinender Moral die daraus entstehenden Konflikte und Aggressionen in sich selbst austragen.  

Solche Prägungen sitzen leider sehr tief und es ist sehr schwer, in solchen Fällen zu helfen. Meist versuchen diese Menschen sich vor Scham oder aus Angst vor Strafe zu verkriechen und sind nicht mehr ansprechbar. Wie selten kann man sie erreichen!“

Elbrich blickte traurig und hilflos in den Raum. Die Absurdität unnötigen, sinnlosen Leides war kaum zu verstehen.

„Dennoch gibt es auch hier Möglichkeiten zu helfen. Hierbei zeigt sich, dass religiös verursachte Schuldgefühle am wirkungsvollsten durch symbolisch-religiöse Handlungen von Priestern, Freunden oder Verwandten getilgt werden können. Ich habe gesehen, wie Ablassgebete, Seelenmessen, Anzünden von Kerzen und vieles andere Wunder bewirken konnten.

Interessanterweise haben jenseitige Büßerseelen diese ihnen zugedachten irdischen Handlungen immer deutlich wahrgenommen. Wahrscheinlich nahmen sie es nicht unmittelbar wahr, sondern empfingen die Gedanken und Gefühle der beiwohnenden Menschen. Wie es scheint, dürften sie zu verkörperten Menschen eine bessere Verbindung haben als zu Jenseitigen aus höheren Ebenen.

 

Wieder machte Elbrich eine längere Pause. Seine Freunde dachten nach, fühlten sich ein, lernten eine für sie vollkommen neue Welt und Sichtweise kennen. Im Versuch, dies zu verarbeiten, schwiegen auch sie.

 

„Ich will euch eines von meinen diesbezüglichen Erlebnissen erzählen. Es kann durchaus als Prototyp vieler ähnlicher Situationen bewertet werden, Situationen, in denen ich mich zumeist hilflos fühlte. Denn meistens konnte ich nur zusehen und das durch die Verbindung geförderte, gleichzeitige Mitfühlen verschlimmerte das Gefühl der Machtlosigkeit. Aber hin und wieder gibt es auch kleine Erfolge. Sie sind ein Ansporn, die Versuche zu helfen niemals aufzugeben.“

 

Johann grübelte in sich hinein. Offenbar erfordert alles Lernen und aller Fortschritt seinen Preis. Elbrich musste, wenn er durch Miterleben lernen wollte, auch miterleiden.

 

Elbrich erspürte Johanns Gedanken. „Wenn ich solche Orte aufsuche, so kann ich das nicht als abgehobener und neutraler Beobachter. Ich muss eintauchen. Ich nehme Gefühle und mentale Spannungen wahr. Es toben diese Konflikte zum einen Teil in mir; zu einem anderen Teil bleibe ich noch ich selbst und etwas distanziert. Letzteres muss so sein, sonst könnte ich es nicht ertragen. Diese Art des Reisens hat ihren Preis. Ich lerne hierbei auf schmerzvolle Weise.

Ich will euch nun die versprochene Erzählung bringen: Vor Kurzem versetzte ich mein Bewusstsein in eine der vorhin beschriebenen Welten. Dort befand ich mich in einer roh behauenen Felsenhöhle, die so etwas wie einen Vorraum bildete. Viele Meter unter mir lag ein mächtiges, roh in den Stein gehauenes Gewölbe. Stufen führten hinunter. In der Mitte war ein freier Platz. Dort stand ein zottiger Teufel, so wie wir ihn aus christlichen Büchern kennen, und schürte das Feuer eines steinernen Ofens. Der Ofen war oben offen, so dass man die Flammen herauslodern sah. Über den Flammen wogte ein grauer Qualm. Ich erschrak beim näheren Hinblicken, denn der Qualm, den ich sah, der lebte! Es war eine menschliche Seele, die von Zeit zu Zeit ihren Körper erkennen ließ, um unter Windungen und Wogen scheinbar wieder in unförmigen Qualm überzugehen.

Von Entsetzen und Mitleid übermannt betete ich aus ganzem Herzen um Erlösung der armen Seele. Es war ein Bittgebet im christlichen Sinne. Ich hörte nicht auf mit dem Gebet, wurde innerlich immer lauter dabei, ich rief geradezu zu Gott. Nach einiger Zeit hatte ich den Eindruck, dass mein Gebet erhört wurde. Der Qualm wurde heller und es formte sich daraus eine aufrecht stehende menschliche Gestalt, die sich langsam zur Gewölbedecke emporhob, um dann meinem Blick zu entschwinden. Da begann das ganze Gewölbe, einschließlich der Treppe zu erbeben und stürzte in sich zusammen. Meine Wahrnehmung von jenem Ort erlosch wie das Bild auf einer Filmleinwand. Nachdem sich das Bewusstsein der Büßerseele aus dieser Vorstellung gelöst hatte, war die Szene und mit ihr der gesamte Ort verschwunden.“

 

 

 

Die Traumebene

 

 

Elbrich und Sodashi saßen auf der Terrasse hoch über den Dächern der Tempelstadt. Da kamen Emanuel und Johann von einem Ausflug und setzten sich zu ihnen. So oft wie möglich waren sie zusammen. Wo man den einen sah, war der andere nicht weit. Wie üblich, wenn sich Freunde treffen, gab es auch hier einen regen Austausch über die zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen.

 

„Wenn wir Carla und Brigitte aufsuchen“, Elbrich begann zuerst mit seiner Erzählung, „so sieht die Wohnung jedes Mal etwas anders aus“. Mal sind die Altäre leuchtender, ein anderes Mal sehe ich dort Statuen, wieder ein anderes Mal Bilder. Auch ist die Wohnung manchmal mit Blumen fast überhäuft, ein andermal wiederum nicht. Dass die beiden so oft ihre Altäre ändern oder ihre Wohnung umgestalten, mag ich eigentlich nicht glauben. Sind weniger Blumen da und sieht es eher staubig oder dunkler aus, so ist zumindest bei einer von beiden die Stimmung getrübt. Ich glaube, dass ich nicht die physisch reale Wohnung wahrnehme, sondern eine astrale Entsprechung. Dieses astrale Abbild wechselt mit dem Zustand der Bewohner, so habe ich den Eindruck. Die großen Anordnungen, wie etwa die der Möbel, Fenster, Türen etc. bleiben gleich.“

 

Sodashi nickte. Sie freute sich. Sie genoss es sehr, die Lernfortschritte der drei Freunde zu beobachten. Am meisten genoss sie es bei Elbrich, der ihr so nahe stand. Wie selten war es gewesen, dass sie zur selben Zeit dieselbe Welt bewohnen konnten – sei es die irdische oder eine jenseitige. Und wie schnell er lernte! Sie war stolz auf ihn und glücklich, eine solche Seele als Gefährten zu haben. „Ja, Menschen prägen mit ihrer Energie ihr Umfeld.“

 

„Die materielle Welt umgibt sich mit mehreren Schichten und Qualitäten astraler Abbilder. Diese Kopien der irdischen Welt können nicht nur erschaut werden, sondern man kann sie auch betreten und empfindet sie dann als stofflich real. Sehr oft werden sie von Menschen aufgesucht, die imstande sind, ihren Astralkörper im Schlaf zu lösen und sich mit diesem frei zu bewegen. Diese Fähigkeit ist ein Kennzeichen eines Erwachens der Seele und häufig. Allerdings ist dies ein erstes, schwaches Erwachen. Wahrnehmung und Verarbeitung des Geschauten sind noch sehr getrübt. Teilweise nehmen sie ihre Umgebung wahr, teilweise überlagern sie diese mit Traumbildern. Ebenso häufig interpretieren sie ihre Wahrnehmungen anders oder nehmen selektiv wahr. Weil sich in jenem astralen Umfeld kaum Jenseitige, dagegen hauptsächlich Träumende finden, nennen wir diese astralen Abbilder der Erde Traumebene.“

 

Während der Ausführungen Sodashis, die eher zu Emanuel und Johann sprach als zu ihm, hatte Elbrich erkannt, dass der Begriff der Traumebene den zwei Freunden noch fremd war und sie begierig waren mehr darüber zu erfahren.

 

Als nach den kurzen Erklärungen eine Pause eintrat, wandte sich Elbrich den beiden Freunden zu, um Sodashis Ausführungen zu ergänzen. „Sodashi und ich haben sehr oft, vor allem nachts, Ausflüge in die nähere Umgebung von Carla und Brigitte gemacht. Ich konnte da etlichen kuriosen Geschehnissen beiwohnen.

Ich sah wie die Menschen scheinbar berufliche Tätigkeiten ausübten oder sich diversen Heimarbeiten oder Hobbys widmeten. Sie zeigten kaum Emotionen. Ihr Verhalten schien von Automatismen und Gewohnheiten geprägt zu sein. Sowohl das Denken als auch die Gefühlsregungen schienen reduziert und sehr ähnlich dem Traumschlaf zu sein. Sie zu beobachten erweckt den Eindruck, als sähe man ferngelenkte Puppen. Es scheint, dass ihre Handlungen Ähnlichkeit mit den üblichen Gedankenleerläufen während des Tages haben. In solchen wird oft eine Handlung vorweg genommen oder eine Situation immer wieder von neuem abgespult. Sodashi hat mir einmal erklärt, dass die Astralkörper dieser Menschen nach wie vor vom Bewusstsein des Gehirns geleitet werden. Das erklärt einiges. So kann man das Faktum, dass das logische Denkvermögen während des Schlafs stark reduziert ist, an diesen astralen Traumwandlern deutlich erkennen.“ Elbrich konnte sich eines breiten Lächelns nicht verwehren und man sah ihm an, dass ihm so manch kuriose Beobachtung durch den Kopf schoss.

 

„Als ich das erste Mal in Kontakt mit der Traumebene kam, hatten wir gerade eine Energiearbeit bei Carla und Brigitte beendet. Ich war zum Fenster gegangen, um auf die Straße zu schauen. Obwohl es tiefe Nacht war, war die Strasse mit ihren Mietshäusern an beiden Seiten taghell erleuchtet wie zur Mittagszeit. Interessiert schaute ich dem Treiben der Menschen zu. Es schien jeder mit sich selbst beschäftigt zu sein und kümmerte sich nicht um die anderen. Teilweise war das Geschehen unauffällig. Aber es gab auch so absurde Szenen, dass sie sich mir tief einprägten.

Einmal geschah Folgendes: Ein Auto fuhr die Straße entlang, erhob sich plötzlich in die Luft, flog zu einem offenen Fenster im zweiten Stock eines Hauses schräg gegenüber und schwebte hinein. Ich hatte den Eindruck, der Besitzer des Wagens betrachtete diesen als Teil seiner selbst. Es war, als wolle er ihn mit zu sich ins Bett nehmen.

Ein anderes Mal erhob sich ein Auto zu einem Fenster um dort zu parken und war dann kurz darauf nicht mehr zu sehen. Es hatte sich einfach aufgelöst.

Ich kam auf den Gedanken, dass sich die Interessen des schlafenden Besitzers nun anderen Dingen zugewandt hatten, oder dass er aufgewacht war.“

Dann wiederum sah ich nicht weit von mir, nur etwa zwei Meter entfernt, einen Mann an einem Seil in ein höheres Stockwerk klettern. Ich weiß nicht, in welcher Absicht er dies tat - irgendwie sah es jedoch absurd aus.“

 

„Oder dies: Ein roter Wagen war auf der Vorderseite weiß übersprüht. Das Auffallende war, dass die weiße Farbe teilweise bis zu ca. 1 m auch um die Vorderfront herum auf den Boden gesprüht wurde. Dieser Fleck bewegte sich mit dem Auto mit.

Während ich noch so am Fenster stand, kam plötzlich ein Installateur ins Zimmer. Er betrachtet das Heizungsrohr und wandte sich an Brigitte mit der Feststellung, dass eines der Heizungsrohre leck sei. Tröstlich meinte er, dass der Schaden noch in die Garantiefrist fallen und die Firma für die Kosten aufkommen würde. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er entlang des Heizungsrohres weiter und verließ das Zimmer durch eine Türe, die sich eben erst gebildet hatte und auch gleich darauf wieder verschwand.“

 

„All diese Geschehen liefen ruhig und ohne Eile ab! Ich war vollkommen fasziniert und bemühte mich, mir jedes Detail einzuprägen, um bei späterem Nachdenken besser Klarheit finden zu können. Es war mir nicht möglich, Absichten oder Gedanken dieser Menschen zu lesen - obwohl ich das ansonsten sehr gut kann.“

 

Emanuel und Johann kamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie diskutierten noch eine Weile, dann trat Stille ein. Jeder hing seinen Gedanken nach.

 

Dann setzte Johann das Gespräch fort: Bei einer ihrer letzten Wanderungen hatte sich für ihn und Emanuel die Gelegenheit zu einer sehr interessanten Beobachtung ergeben. Sie entdeckten eine Mensch-Tier Bindung, die als tiefe seelische Zusammengehörigkeit im Jenseits fortgesetzt wurde. Es ging um die Liebe zwischen einer Reiterin und ihrem Pferd. Beide waren verstorben und fanden im Jenseits wieder zusammen.

 

„Wir wollten zu einer uns bereits bekannten Stadt. Jedoch hatten wir es nicht eilig und zogen es vor, das Land auf dem Weg dorthin als Wanderer zu durchstreifen. Man sieht dann viel mehr, und gelegentlich trifft man auch auf völlig unerwartete Gegebenheiten. So auch hier. Wir gingen einen Naturweg entlang, in diesen großen Schwebeschritten. Ihr wisst schon, man gleitet in etwa fünf Meter weiten Schritten über dem Boden, ähnlich wie Astronauten auf dem Mond. Mitten in der flachen, eher langweiligen Landschaft kamen wir zu einem allein stehenden Reitstall. Es waren ein paar Pferde auf der Weide, frei herum laufend, ohne Koppelgitter. Hühner und Gänse liefen ebenfalls außerhalb des Hofes herum. Abgesehen davon sah das Anwesen eher verlassen aus. Schon wollten wir weiter gehen, da kam aus einem der Gebäude eine Frau heraus. Da sie zu uns blickte, gingen wir auf sie zu, um ihr wenigstens Guten Tag zu sagen. Und jetzt kommt das Merkwürdige! Die Frau trug ein Fohlen auf dem Arm. Das Fohlen war in seinem Aussehen in einem Prozess der Menschwerdung. Der Kopf war bereits abgerundet und leicht vermenschlicht, etwa so wie man das aus Zeichentrickfilmen kennt.

 

Zwischen beiden, der Frau und dem Fohlen, schien eine sehr große Liebeszuwendung und ein starker Gefühlsaustausch zu sein. Während die Frau mit uns sprach, hatten wir das Empfinden, dass das Fohlen an den Gefühlen und Gesprächen teilnahm, wenngleich es dem Gesprächsinhalt nicht folgen konnte. Aber die Gefühlswelt der Menschen, ebenso die Art der Kommunikation durch Worte, schien ihm bereits vertraut. Dadurch, dass es empathisch mit der Frau verbunden war, lernte es die Art und Weise kennen, mit der die Frau der Welt, den Tieren und anderen Menschen begegnete und diese empfand. Je mehr es innerlich „vermenschlichte“, desto mehr schien sich seine äußere Gestalt der eines Kleinkindes anzunähern.“

 

„Die Frau erzählte uns, dass sie, sobald der Anpassungsprozess abgeschlossen sei, dem Fohlen helfen würde, sich als Mensch zu inkarnieren.

Das Fohlen war einmal ihr Lieblingspferd gewesen. Es bestand damals eine innige freundschaftliche Beziehung zwischen beiden. Als das Pferd starb, ritt die Frau noch andere Pferde, aber immer seltener. Sie konnte keine so liebevolle Bindung mehr eingehen wie jene an ihr verstorbenes Lieblingspferd. Die anderen Pferde blieben ihr fremd. Für den Rest ihres Lebens behielt sie ihr Pferd in liebevoller Erinnerung.“

 

Es folgte eine lebhafte Debatte zwischen den Freunden. Sie freuten sich, dass sie so viele Erlebnisse austauschen konnten. Wie es schien, wurde es nie langweilig und gab es immer wieder überraschende Neuigkeiten.

Dass sich Menschen in tiefer Liebe mit Tieren verbinden, um eine beschützende Rolle selbst über den Tod hinaus zu übernehmen, war wieder eine neue Erfahrung.

 

„Die Tiere sind die jüngeren Brüder und Schwestern der Menschen“, Sodashi warf sich in die Diskussion, „und warum sollte die Möglichkeit sich weiter zu entwickeln ein menschliches Privileg sein? Ich glaube es ist sogar die Pflicht der Menschen, den Tieren diesbezüglich weiter zu helfen, sie auf diesem Weg zu beschützen. Speziell nach all dem, was die Menschen den Tieren angetan haben.“

 

Nachdenklich schwiegen alle. Dann erschien auf Elbrichs Gesicht ein Lächeln, er strahlte förmlich auf. „Ich hatte einmal ein Pferd namens Igor“, begann er mit verklärtem Blick, „es war ein Sommerrappe. Eigentlich gehörte er nicht mir, sondern dem Besitzer des Reitstalles. Igor war nicht zu reiten, er brannte durch oder warf die Reiter ab. Er akzeptierte nur mich. So bin die ersten acht Jahre nur ich allein auf ihm geritten. Später duldete er keine Reiter, die ihn unterwerfen wollten, wohl aber Kinder, die alles mögliche mit ihm anstellen konnten. Mich akzeptierte er voll, aber ich meinerseits tolerierte auch seine Eigenheiten. Bald waren wir gute Freunde. Es war eine Freundschaft, die von Jahr zu Jahr tiefer wurde.

Bei meinem letzten Ritt mit ihm war Igor schon durch viele Wochen hindurch an den Beinen krank, er humpelte stark und konnte nicht geritten werden. Die Stallbesitzer haben nur kleine Kinder bis höchstens 10 Jahre auf ihn gesetzt, und ihn dann im Schritt gehen lassen. Sie taten es, damit er wenigstens zu ein bisschen Bewegung kommen würde.

Ich war schon gut zwei Monate nicht mehr im Reitstall gewesen und es war höchste Zeit ihn wieder aufzusuchen. Als er mich in den Hof herein kommen sah, konnte man ihm die Erregung ansehen. Er warf den Kopf hoch, richtete sich auf und begann zu trippeln.

Natürlich merkten auch die Besitzer des Reitstalles, wie emotionell Igor auf mich reagierte. So machten sie eine Ausnahme, und meinten, ich möge auf Igor reiten. Im langsamen Schritt würde er es schon schaffen.

Doch zu aller Überraschung schien Igor auf einmal gesund. Es waren keine Anzeichen der Fußschwäche mehr zu sehen. Igor schien auf einmal komplett geheilt und ging fehlerfrei, ohne Schwierigkeiten. Es war wie ein Wunder, nein, es war ein Wunder. Als ich aufsaß, trippelte er vor Ungeduld und Freude, keine Spur, dass er die Belastung gefühlt hätte. Er war glücklich wieder mit mir zusammen zu sein und konnte es kaum erwarten den Hof zu verlassen. Das war sein schönstes Geschenk, das er mir je gab. Es hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt.“

 

    Elbrich machte eine Pause, einige Tränen rollten seine Wangen herab. „Eine Woche nach diesem Ausritt war Igor tot. Ein junger Hengst, hatte nach ihm getreten und ihm den Vorderfuß gebrochen. Da ein Pferd nicht zu lange liegen kann, bedeutet ein solcher Bruch den Tod. In der Regel verkürzt man das Leiden durch einen Gnadenschuss oder eine Injektion. Sie taten es und verschoben den Abtransport und ließen den toten Körper von Igor dort liegen wo er gestorben war. Sie wollten mir die Möglichkeit geben, mich am nächsten Tag von ihm zu verabschieden. Es war meine letzte Begegnung mit ihm. Ich habe seinen kalten Hals umarmt und sehr geweint.

Igor hat durch den Rest meines Lebens in meinem Herzen weiter gelebt. Die Liebe zu ihm ist nie abgeklungen, sondern blieb immer lebendig.“

 

 

Blutsbrüder

 

 

„Wenn wir schon alle so schön in einer Runde zusammen sitzen, wäre dies eine wunderbare Gelegenheit für ein Ritual!“ Natürlich drückte sich Sodashi unklar aus und wies auf kein Ziel hin. Das tat sie bewusst. Sie kannte die drei Freunde. Wenn sie einmal Neugierde und Forschergeist in ihnen erweckt hatte, so könnte sie mit ihnen in die Hölle gehen und alle drei wären begeistert. Nichts war für sie langweiliger als Fakten und nichts war für sie faszinierender als Verborgenes zu entdecken.

 

„Ritual?“ Elbrich hing bereits am Angelhaken. Ich dachte so etwas gibt es hier nicht. Hier kann man doch direkt wirken, sich mit jeder Seele und mit jeder Kraft verbinden. Wozu braucht man also Rituale?“

 

„Um Barrieren zu durchbrechen!“ Die Antwort erklärte zwar den Sinn des Rituals, aber nicht worum es ging. Emanuel und Johann wurden bereits unruhig.

 

„Ein echtes magisches Ritual mit spezieller Kleidung, an einem ausgesuchten Ort, mit geheimen Sprüchen?“ Johann konnte sich nicht mehr zurück halten. Jetzt durfte man nicht mehr locker lassen, wenn sich eine derlei spannende Gelegenheit bot.

 

„Nein, nichts von all dem. Das einzige was wir benötigen ist ein Band.“ Johann und Emanuel zeigten Enttäuschung. Bei Elbrich wirbelten unzählige Gedanken und Erklärungsmodelle durch den Kopf. Er war zu beschäftigt, um eine Emotion zu zeigen. Allerdings, warum musste es gerade ein Band sein?

 

„Nun, es ist kein gewöhnliches Band, sondern ein goldenes Band“. Wenn Sodashi wollte, war sie eine Meisterin in nichtssagenden Erklärungen.

 

„Ist in Ordnung, wir sind bereit dazu, sag uns worum es geht!“ Emanuel war für schnelle und klare Entscheidungen.

 

„Nicht so schnell!“ Sodsashi schien es ganz und gar nicht eilig zu haben. „Wozu könnte ein Band dienen?“

 

„Um eine Brücke, eine Verbindung zu etwas oder zu jemandem herzustellen.“ Elbrich gab zu erkennen, dass er der Ansicht sei, dass sie alle drei schon ein höheres Niveau erreicht hätten und solche Hilfsmittel nicht benötigen würden. „Wir haben schon eine Menge gelernt und können unser Bewusstsein direkt mit jemandem verbinden, ohne solche Hilfsmittel zu verwenden. Ich sehe nicht ein, wozu wir dazu ein Band benötigen!“

 

Sodashi lachte. Ihr Schüler hatte bereits eine etwas zu hohe Meinung vom eigenen Können entwickelt. Er wusste und konnte viel und dennoch war dies erst ein winziger Zipfel von all den Möglichkeiten, die es gab. Oh, es gab noch so viel zu lernen für ihn.

Wie ein Echo auf Elbrichs übersteigertes Selbstbewusstein kam die Anweisung von Sodashi: „Ist in Ordnung, dann verschmelzt euer Bewusstsein!“

 

Sodashi erntete tiefstes Schweigen. „Nun, was ist?“

 

Elbrich wusste, dass er zu patzig aufgetragen hatte. Sodashi konnte man nicht täuschen.

„Ich glaube, wir können es nicht. Nimm es mir nicht übel und zeige es uns, so wie du meinst, dass es am besten gehen würde.“

 

Sodashi gefielen die Worte. Elbrich hatte seinen Stolz ohne viele innere Kämpfe überwunden, war von seinem hohen Ross heruntergestiegen und bereit, auch in kleinen Schritten zu lernen. Hier in den jenseitigen Ebenen gab es kein überschnelles Vorpreschen mit dem Risiko entstehender Wissenslücken und schwachen Fundaments. Kein Lehrer würde das dulden.

 

„Kannst du dich erinnern, Elbrich, als du etliche Tage nach deinem Tod auf einmal in dem schwarzen Raum geschwebt bist und eine Stimme gehört hast? Damals hatte ich zu dir gesprochen“.

 

Elbrich nickte, es war ihm schon seit langem klar, dass Sodashi es war.

 

„Ich habe dir damals gesagt, dass du in eine Ebene gelangen würdest, um dort Freunden zu helfen. Nun, du hast sie gefunden. Es wäre nie so leicht gegangen, wenn ihr nicht schon seit langer Zeit in tiefer Liebe verbunden gewesen wäret.“

 

Sodashi fand zwar Zustimmung, sah aber, dass da noch gewisse Zweifel waren. Alle drei dachten an das Duell zwischen Johann und Elbrich in jenem vergangenen Leben.

 

„Seht es nicht zu einseitig“, führte Sodashi das Gespräch fort, auf die fühlbaren Gedanken Rücksicht nehmend. „Dein Leben, Elbrich, hatte sich damals nicht gerade zur edelsten Richtung hin entwickelt. Was war da schon verhaut, wenn es abgebrochen wurde. Wer weiß, welches Unheil du noch angerichtet hättest. Dennoch wart ihr schon immer Freunde und dies reicht viele Leben zurück. Eines dieser Leben will ich euch jetzt zeigen. Ihr wart alle drei in diesem Leben eng miteinander verbunden.“

 

Sodashi erhob sich und ging zu einer Isis Statue. Von dort nahm sie ein goldenes Band, das zu Füßen der Statue lag.

 

„Das Band hilft uns, das Bewusstsein eng miteinander zu verbinden.“ Alle vier setzten sich im Kreis auf den Boden und hielten das Band in den Händen und vereinten sich dadurch zu einem geschlossenen Kreis. „Wir werden still, ruhen in uns und verbinden uns mit dem höheren Selbst, um von diesem höheren Bewusstsein geleitet, in jene Vergangenheit vorzudringen, die wir alle gemeinsam erleben wollen.“

 

Schon bald waren alle vier in Versenkung und in ihrem Bewusstsein entfaltete sich eine Lebensgemeinschaft, in welcher jeder der drei Freunde seinen damaligen Platz einnahm.

 

Elbrich und Johann lebten als zwei Brüder zur Zeit der Ritter. Sie waren im Dienste eines Lehensherrn, lebten jedoch nicht in dessen Burg, sondern abseits von dieser in einer kleinen, jedoch bequemen Hütte. Für damalige Verhältnisse war die Hütte sogar groß und die zwei Brüder konnten es auch schätzen.

 

Elbrich war Bogenschütze und Johann war Schwertkämpfer. Das waren ihre Spezialgebiete, jedoch konnte jeder von ihnen beides. Sie legten keinen Wert auf Kriegsdienste und Beute, sondern bevorzugten zurückgezogen zu leben. Hier übten sie ihre Disziplin als Hilfsmittel für eine innere Geisteshaltung der Ruhe und Konzentration. Sie lebten wie Zenmönche.

 

Körperliches und geistiges Training ließ sie in ihrer Disziplin derart vollkommen werden, dass ihnen niemand gleichkam und ihr Ruf weit über die Landesgrenzen reichte.

 

Elbrich hatte einen Sohn. Das war Emanuel. Die Frau Elbrichs war schon lange gestorben. Die zwei Brüder und „ihr“ Sohn bildeten eine enge Familie ohne weitere Verwandte.

 

Es war selbstverständlich, dass die zwei Brüder ihrem geliebten Sohn alles Wissen und alle Geheimnisse ihrer Kunst weiter gaben. Sie liebten ihren Sohn dermaßen, dass ihnen sein Können mehr bedeutete als das eigene. Er war ihr geistiger Schüler und schon als kleines Kind wurde er im Schwertkampf und Bogenschießen geschult. Er sollte noch besser werden als seine zwei „Väter“. Ihr Sohn war auf dem besten Weg dazu.

 

Als ihr Sohn siebzehn Jahre alt war, gab es niemanden im Land, der ihm an Ethik, Kriegskunst und Geistesdisziplin gleich kam.

 

Eines Tages erschien der Lehensherr mit seinem Sohn in der Hütte der zwei Brüder. Das war sehr ungewöhnlich, denn in der Regel bestellte der Lehensherr die zwei Brüder zu sich. Der Sohn des Lehensherrn war ebenfalls um die siebzehn. Er war jedoch dicklich, verweichlicht und arrogant. Der Lehensherr eröffnete den zwei Brüdern, dass sein Sohn zum Schwager reisen solle, hierbei jedoch feindliches Land durchqueren müsse. Er hätte ihren Sohn als unauffälligen Begleiter ausgewählt. Sie sollten sich als Handwerksgesellen ausgeben.

 

Die zwei Brüder waren verzweifelt. Eine Ablehnung war nicht denkbar. Es gab keine Möglichkeit, dieser Pflicht zu entgehen. Wenn sie dies nur früher gewusst hätten, sie hätten sicher eine Möglichkeit gefunden, ihren Sohn davor zu bewahren und wenn sie ihn außer Landes geschickt hätten. Was half all das Wissen ihres Sohnes, wenn er diesem arroganten Dümmling keine Ratschläge geben durfte und statt dessen sich den Befehlen des eingebildeten und verwöhnten, jungen Adeligen beugen musste.

 

So geschah es: Ihr Sohn wurde als Begleiter auf die Reise geschickt. Die zwei Brüder fanden keine Ruhe mehr, hatten schlaflose Nächte. Tatsächlich erfüllte sich ihre Ahnung. Die zwei Jugendlichen wurden erkannt und gefangen genommen.

Der Lehensherr kaufte seinen Sohn frei. Für den Sohn der zwei Brüder war er nicht bereit, auch nur eine kleine Summe aufzubringen. Für ihn gehörte er zum bedeutungslosen Gesinde.

 

Sie hatten kein Geld, keine Möglichkeit und ihr Sohn wurde hingerichtet, wohl auch als Warnung und demonstrative Geste für spätere Gefangene, die man zum Freikaufen anbot.

 

Der Lebensinhalt der zwei Brüder war zerbrochen. Der Rest ihres Lebens war nur noch ein Uhrwerk, das ablief, ohne Freude, ohne Ziel, ohne Sinn.

 

Als Sodashi und die drei Freunde aus der Versenkung kamen, sahen sich Elbrich, Emanuel und Johann schweigend an. Es bedurfte keiner Worte. Tiefer Schmerz erfüllte die Freunde, Tränen standen in ihren Augen.

 

Nach langer Zeit sagte Antonio: „wir waren schon lange beisammen und wir werden immer beisammen bleiben.“

 

„Wie wohl unsere Zukunft aussehen mag“, fügte Elbrich sinnend hinzu.

 

„Niemand weiß es“, waren die Worte von Johann, „was die Zukunft betrifft, so birgt sie stets Überraschungen.“

 

 

Rechtshinweise

 

Erstausgabe Wien, 2007, überarbeitet 2017

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Alfred Ballabene