Tochter der Sachmet, Teil 1

 

Reise durch den Duat (Unterwelt)

 

 

 

 

Alfred Ballabene

 

alfred.ballabene@gmx.at

gaurisyogaschule@gmx.de

 

 

Tochter der Sachmet, Teil 1:

In dem hier vorliegendem Band durchwandert Atnife, die Tochter der Sachmet, mit dem Krieger Atmedef die Unterwelt wie sie uns in der Mythologie der alten Ägypter dargestellt wird. Hierbei muss sie durch die Welt von Apophis wandern, einer altägyptischen Entsprechung des Teufels. Beinahe wäre sie ihm unterlegen, doch Atmedef gelingt es Atnife zu retten.

 

Tochter der Sachmet, Teil 2:

Atmedef findet sich hier in einer neuen Inkarnation als Zuse. Atnife gelingt es Atmedef/Zuse wieder zu finden. Die neue Begegnung der beiden findet gerade in einer Umbruchszeit statt. Atnife gelingt es die Führung über einen kleinen Teil des alten Imperiums zu erlangen. Mit diesen Resten des alten Imperiums baut sie ein neues Reich auf.

 

Tochter der Sachmet, Teil 3:

Seit der letzten Begegnung zwischen Atnife, der Tochter der Sachmet, und Atmedef/Zuse sind 1000 Jahre vergangen. In der Zwischenzeit hat Atnife das solare Imperium aufgebaut und herrscht über dieses als Großregentin. In diesem Teil der Serie gelingt es Atnife neuerlich Atmedef zu finden, der sich als Schmiedgeselle Holger inkarniert hatte. Apophis gelingt es einen Teil des Reiches zu übernehmen. Ihn geht es jedoch nicht um die Macht, sondern um die Vernichtung von Atnife. Eine Existenz zweier getrennter Reichshälften ist dadurch nicht möglich und ein Entscheidungskampf ist deshalb unausweichlich.

 

Inhalt

 

Vorwort

Duat, die Unterwelt

Re-Atum und Sachmet

Die Göttin erzählt

Die Kundschafterin

2. Sphäre - Die fruchtbare Welt von Wernes

3. Sphäre - Gewässer des Osiris

4. Sphäre - Die Wüste von Rostau

5. Sphäre - Die Höhle von Sokar

6. Sphäre - Die Sphäre der Schatten

7. Sphäre - Die Welt von Apophis

8. Sphäre

9. Sphäre - Der Wadjettempel

10. Sphäre - Im Tempel der Zeit

11. Sphäre

12. Sphäre - Die Priesterin der Maat

Ende der Reise

Anhang

 

 

Vorwort

 

In dem vorliegendem ebook wird die Reise einer Göttin, der Tochter der Löwengöttin Sachmet geschildert,  die in Begleitung eines ehemaligen Priesterdieners durch die ägyptische Unterwelt reist. Die Darstellung der Unterwelt (Duat) ist in der Atmosphäre der Versuch einer Rekonstruktion alter Anschauungen, so wie die Welt beim Volk gedacht wurde und weniger aus der Sichtweise der Totenbücher, wie sie sich in den Grabkammern finden. Die Handlung selbst ist frei erfunden. Im Prinzip hat man sich damals die Unterwelt zur irdischen Welt spiegelbildlich verkehrt gedacht, teilweise der irdischen Welt sehr ähnlich und teilweise unverständlich andersartig. Der in späteren Religionen vorherrschende Glaube an eine Hölle gilt nur für die untersten Regionen, dem Reich des Apophis und den noch teilweise unter seinem Einfluss befindlichen benachbarten Reichen.

 

Der emotionelle Leitfaden des ebooks ist eine Liebesmystik, in der das Zueinanderfinden und Durchdringen des Irdischen mit dem Göttlichen in personifizierter Weise gebracht wird. Dieser Vorgang entspricht in keiner Weise den altägyptischen Vorstellungen, wenngleich es Hymnen und Gebete gibt, die eine Einswerdung mit Atum oder Re zum Inhalt haben, allerdings ein Privileg der Pharaonen.

 

 

Hexagramm als Symbol für die aufsteigende irdische Liebe (rotes Dreieck) und dem herabsteigenden göttlichen Geist (blaues Dreieck), in der Mitte verschmelzend zur Sonne des Herzens

 

Von der Aussage her ist die hier gebrachte Erzählung, die im Rahmen altägyptischer Überlieferungen von Göttern und den Sphären des Duat handelt, eine Kulisse für den inneren Weg des Maha Yoga einer Variante des tantrischen Bhakti-Yoga. (Es gibt etliche andere Richtungen, die sich ebenfalls "Maha Yoga" nennen und keine Ähnlichkeit mit dem hier gebrachten Maha Yoga haben). Im Maha Yoga ist das Verschmelzen des göttlichen Bewusstseins mit dem des verkörperten Menschen das Ziel der Yogis = Einswerdung mit dem Göttlichen. Eine solche Begegnung ist von tief geistiger Natur. Sie enthält ekstatische Elemente, welche bisweilen auch eine erotische Färbung annehmen können - Verbindung des Yogis mit seiner Göttin/Shakti oder der Yogini mit ihrem Gott/Purusha. Die Erotik wird in den alten tantrischen Lehren positiv bewertet. Leider ist diese natürliche Einstellung im heutigen Indien und dem tibetischen Buddhismus verloren gegangen. Im Westen und Orient ist die religiöse Einstellung zur Erotik ohnedies ablehnend.

 

Vielleicht werden einmal in einer zukünftigen Zeit von den Religionen und anderen spirituellen Richtungen die Erkenntnisse der Gehirnforschung akzeptiert werden. Erotik ist aus neurophysiologischer Sicht der Schlüssel für Gefühlstiefe, Ekstase und Religiosität. Für eine individuell orientierte erlebte Religion ist das von großer Bedeutung.

 

 

 

Wenngleich die vorliegende Rahmenhandlung konstruiert ist und sich an die Überlieferungen des Am-Duat und an die altägyptischen Jenseitsvorstellungen orientiert, so ist der emotionelle Teil dem eigenen Erleben entnommen.

Die Basis für diese Beziehung zur Löwengöttin entstammt aus einer Sicht, die ich vor vielen Jahren hatte. Zusätzlich gab es auch viele Traumbegegnungen, mit eben dieser Tochter der Sachmet und Hinweise anderer Art.

 

 

Ausschnitt aus einer von der Yogini Gauri gezeichneten Trance-Botschaft

 

 

Duat, das Jenseits

 

 

Amduat ist das Buch vom Duat, dem Jenseits. Die Überlieferungen des Duat finden sich in altägyptischen Grabkammern und bestehen zumeist aus kryptischen Bildern und sparsamen Texten. Da sich die Jenseitsschilderungen meist auf Pharaonen beziehen und die Aufrechterhaltung ihrer Vormachtstellung auch im Jenseits, sind die Darstellungen eher tendenziös und lassen allgemeine, populäre Vorstellungen vermissen.

 

Die meisten Religionen schildern eine jenseitige Welt, oder Welten, als Spiegelbild der Erde. Die Jenseitswelt war in alten Zeiten gleichsam materiell gedacht und nur durch eine räumliche (Unterwelt, die Welt der Saligen) oder durch eine zeitliche Schranke (jüngstes Gericht) von dieser Welt getrennt. Da der Mensch in der Gegenwart die Erde und den Raum bis weit hinaus ins Universum verstehen gelernt hat, wird gegenwärtig das Jenseits, nicht mehr in einen anderen Raum unserer materiellen Schöpfung gedacht, sondern in eine andere Dimension (Astralebene) verlegt.

 

 

Wissen geht im Laufe der Zeit nicht verloren, sondern wandelt sich zu neuem Wissen

 

So wie früher im alten Europa das Jenseits gedacht wurde, nämlich als ein Ort, der anderswo räumlich existent ist, so scheint es auch bei den Alt-Ägyptern gewesen zu sein. Das Duat glich hierbei dem irdischen Land Ägypten.

 

Im Grunde genommen stellten sich die Alt-Ägypter die irdische und die jenseitigen Welten in der Art des Drei-Welten Systems vor, wie dies bei den meisten Völkern schon seit tiefster Steinzeit gedacht wurde. Viele schamanische Kulturen und Religionen denken heute noch so. Im Christentum sind es Himmel, Erde, Hölle.

 

Aus Astralreisen, Jenseitswelten, Teil 1: Überlieferungen, ebook von A. Ballabene:

Im alten Volksglauben bei uns in Mitteleuropa aber auch bei vielen anderen Völkern auf der ganzen Welt, glaubte man an die Existenz von drei Welten. Ebenso gibt es die drei Weltenlehre im Judentum und Christentum. Die drei Weltenlehre entstand aus der Beobachtung der Sonnenbewegung mit dem Untergang der Sonne am Horizont auf ihrem Weg durch die Unterwelt.

 

Die Erde wird hierbei zumeist als hohl gedacht. Relativ nahe unter der Erdoberfläche leben die Verstorbenen, die Saligen (Seligen) genau so wie in der Oberwelt in Städten und Dörfern, umgeben von Wiesen und Wäldern. Ihre Welt ist so nahe, dass man sie über manchen Brunnen oder hohlen Baumstamm erreichen kann. In vielen Märchen wird diese Vorstellung zur Sprache gebracht.

 

Im gegenwärtigen Schamanentum das aus den Ansichten und Praktiken vieler Völker übernommen wurde und sich zu einem modernen Misch-Schamanentum herausgebildet hatte, reist man ebenfalls in eine Unterwelt. Hier gilt nach wie vor das alte Prinzip der drei Welten, wie es auf der ganzen Welt in der Steinzeit gedacht wurde.

 

 

Die drei Weltenlehre bei den Altägyptern:

Die irdische und die jenseitige Welt wurden bei den alten Ägyptern von folgenden Gegebenheiten geprägt:

v    dem Nil mit seinen fruchtbaren Äckern

v    der Sonne und ihrem Tagesverlauf

v    eine hierarchische Struktur unter Göttern und Menschen

 

 

Oberwelt:

Am Tage fährt Re mit seiner Sonnenbarke auf dem Himmelsozean. Der Himmelsozean wird durch Shu (Luft) von der Erde getrennt und hoch gehalten.

 

Die Oberwelt wurde nicht wie die Unterwelt materiell gedacht. Sie war dem Licht ähnlich und von feiner Stofflichkeit.

 

Mittelwelt:

Die Mittelwelt, irdische Welt, besteht für die Ägypter aus dem Nil mit den fruchtbaren Ländern zu seinen Seiten und dem Nildelta. Die schlauchförmige Mittelwelt ist umgeben von Wüsten und Ozeanen. Diese isolierte Lage verschonte Ägypten weitgehend vor Eroberungen und Kriegen mit anderen Großreichen des Nahen Ostens.

 

Unterwelt (Duat):

Man hatte sich die Unterwelt fast identisch der Mittelwelt vorgestellt - schlauchförmig und von einem großen Strom durchflossen, auf dem die Sonnenbarke während der Nachtstunden fährt, bis auf einem kleinen Stück Wüste, der Wüste von Rosetau.

 

Die Unterwelt ist als eine große Höhle innerhalb des Leibes von Nut gedacht: Die Himmelsgöttin Nut verschluckt am Abend die Sonne und gebiert sie am Morgen wieder.

Durch die Nacht erfolgt eine tägliche Neugeburt der Götter und der Naturkräfte. Erst durch diese zyklische Regeneration ist ein ewiges Leben möglich.

 

Ein Kennzeichen der ägyptischen Totenbücher sind die Hinweise auf die magischen Namen der Gottheiten, deren Kenntnis ein Faktor der Macht war und wohl nur den höheren Priestern bekannt war, was sie für Rituale unentbehrlich machte. Unter einem magischen Namen war im alten Ägypten nicht der Rufname gemeint, sondern die akustische magische Kennung einer Gottheit oder eines kosmischen Aspektes. Wer den Namen eines Gottes wusste, hatte über diese Gottheit Macht. (Siehe auch die kabbalistischen Buchstaben-Zahlenauffassungen eines Namens.) Die Aspekte der magischen Beschwörung innerhalb des ägyptischen Totenbuches, obwohl den Ägyptern überaus wichtig, wurden hier ausgelassen.

 

Besonders betont wird in den Totenbüchern die Macht von Re, dem himmlischen Aspekt des Pharao. Ferner die Vernichtung der Feinde. Das wurde in diesem Buch ausgespart. Ich hoffe, dass derlei Demonstrationen der Macht in unserer gegenwärtigen Zeit an Wichtigkeit und Akzeptanz verloren haben. In meinen Augen trüben diese Aspekte, die damals wohl auch das Ansehen der Regierenden hervorhoben, die Schönheit und Ästhetik einer abenteuerlich gedachten Unterwelt. Abenteuerlich ist die Unterwelt schon deshalb, weil in ihr vieles anders und überraschend ist. Teilweise ist die Unterwelt eine Spiegelwelt der Mittelerde - es sind vertauschte Seiten und vieles ist "verkehrt-anders".

 

Re-Atum und Sachmet

 

Weil es schon lange her ist und die Überlieferungen sehr in Vergessen geraten sind, will ich einige erklärende Worte über die Fahrt Re-Atums durch die Unterwelt bringen, so wie es damals gedacht war. Allerdings, mit meinem Begleiter Atmedef habe ich die Unterwelt in anderer Weise erlebt, nicht so als dies für die Pharaonen und Götter auf der Sonnenbarke gelten mochte.

 

In der Überlieferung wird die Fahrt des Re durch die Unterwelt in gekürzter Form so beschrieben:

Täglich fährt der Sonnengott Re mit seiner goldstrahlenden Sonnenbarke über den Himmel. Zwölf Stunden sind es, in denen er der Erde Licht und Leben schenkt. Dann am Abend nähert er sich mit seiner Barke dem Horizont und taucht unter die Erdscheibe, um seine Reise durch die Unterwelt anzutreten. Es ist eine gefährliche Fahrt, die zwölf Stunden dauert. Jede Stunde hat ihre eigene Sphäre in der Unterwelt. Die Sphären untereinander sind durch Tore verbunden. Die Tore jedoch sind bewacht und nicht immer kann man sie unbehelligt durchqueren.

 

Der tiefste Punkt der Unterwelt wird mit dem siebenten Tor erreicht. Sobald dieses von der Sonnenbarke durchquert wird, befindet sie sich im dunklen Reich des Apophis, dem Feind des Lichtes. Zürnend versucht er die Sonnenbarke zu vernichten, um der Welt für immer das Licht zu rauben. Listenreich versucht er Re-Atum in unvorhersehbare Gefahren zu locken. Nur durch die Magie und den Mut der begleitenden Götter schafft es Re-Atum immer wieder den Fallen des Apophis zu entkommen. Die große Magierin Isis steht beschützend an seiner Seite. Daneben Seth der Listenreiche. Sonst von den anderen Göttern wenig geliebt, ist er auf dieser Fahrt ein unentbehrlicher Ratgeber.

 

Bei diesen gefährlichen Fahrten durch die Unterwelt war auch immer meine Mutter Sachmet-Bastet an der Seite von Re-Atum, dem Sonnengott. Sie galt als seine Frau, in manchen Überlieferungen als seine Tochter. Als Gemahl der großen Löwin Sachmet wird Re in seinem Kampf gegen Apophis bisweilen in familienkonformer Art als Kater (Servalkatzen sind begabte Schlangenjäger) dargestellt.

 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich gleich meine Mutter Sachmet-Bastet vorstellen. In ihrem kriegerischen Aspekt wurde sie als Sachmet verehrt, in ihrem häuslichen, liebevollem Aspekt als Bastet. Sachmet galt als die Gemahlin von Re oder Ra, dem Sonnengott. In anderen Überlieferungen war sie als Tefnut neben Shu, ihrem Zwillingsbruder, die erste Göttin, die von Aton, dem Gestaltlosen erschaffen wurde. Tefnut wurde mit dem Kopf einer Löwin dargestellt und der Sonne als Diadem. Es wird Fachleute geben, die meinen, dass man die diversen Göttinnen wie Sachmet, Bastet und Tefnut nicht gleichstellen sollte, weil ihre Überlieferung aus anderen Epochen stammt und den drei Göttinnen unterschiedliche Eigenschaften und Ursprünge zugemessen wurden. Die Überlieferung einer Gottheit ist jedoch sehr wandelbar. Es gab Provinzen und Städte mit eigenen Gottheiten, die im Großreich dann zu einer Gottheit zusammengelegt wurden. Oder es gab sehr populäre Gottheiten, deren Eigenschaften und Kraft und Ruhm der eigenen lokalen Gottheit ebenfalls zugeordnet wurden, um die eigene Gottheit hierdurch in ihrer Bedeutung zu heben. Oft haben sich die Eigenschaften und Identitäten der Gottheiten vermischt. Die lebendige Gläubigkeit der Menschen ist etwas anderes als eine historische Katalogisierung.

 

Während fast alle Götter des alten Ägyptens im Herzen der Menschen mit der Zeit verblassten, inklusive Sachmet mit ihrem kämpferischen Aspekt, blieb der häusliche, liebevolle Aspekt der Katzengöttin in Gestalt von Bastet durch lange Zeit in Erinnerung. Ihre Kinder eroberten als Hauskatzen die ganze Welt. Rund um den Globus leben sie in enger Gemeinschaft mit dem Menschen. Vielleicht war es dieser große Bezug zu den Menschen, weshalb mir auf der Reise durch den Duat ein Mensch als Begleiter zugeteilt wurde. Nach anfänglicher Ablehnung habe ich diesen Menschen lieben gelernt.

Wie es zu dieser liebevollen Verbindung kam, erzählt die nachfolgende Geschichte.

 

 

Bastet mit Hauskatzen

 

Noch einiges zu mir:

Zu der Verehrung der Katzengöttin im alten Ägypten gehörte auch die Verehrung ihrer Töchter. Die Töchter der Bastet wurden "Sängerin der Bastet" genannt. Sie waren Schutzgöttinnen der Pharaonen. Ich bin eine Tochter von Sachmet-Bastet, jedoch keine Schutzgöttin eines Pharaos. Dagegen bin ich die Herrscherin oder der Gruppenengel über eine in Ägypten einst gerühmte Spezies aus der Familie der Großkatzen, den Geparden.

 

Um einen kurzen Einblick zu geben wie gefährlich damals eine Reise durch die Unterwelt gedacht war, ein kurzer Auszug aus dem ägyptischen Totenbuch:


Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Reiseführer der siebten Stunde der allnächtlichen Höllenfahrt. Zu dieser Zeit hatten die Reisenden schon diverse gefährliche Torwächter überwunden, den bedrohlichen Feuersee unbehelligt passiert, und in der sechsten Stunde, am Tiefpunkt der Reise ein beglückendes Erlebnis gehabt - in die Dunkelheit brach das Licht der Sonne herein und vereinigte Körper und Seele. Nun konnte der Aufstieg beginnen, obwohl die Gefahren der siebten Stunde noch vor den Reisenden lag. In diesem Bereich der Unterwelt, hatte sich nämlich Apophis, der ewige Widersacher des Sonnengottes verschanzt.

Und so sieht der Kampf aus, der sich jede Nacht aufs Neue ereignet: Als Schlange, ohne Hände, Füße und Sinnesorgane lauert Apophis an den Untiefen der Gewässer. Blind, taub und stumm verkörpert er das Chaos. Sein einziges Trachten ist es, das Schiff der Sonne stranden zu lassen, und damit den Lauf der Sonne und die Welt zum Stillstand zu bringen. Sonnengott Re kennt seinen Gegner natürlich, und versucht jede Nacht einen Weg zu finden auf dem er Apophis umgehen kann. Der Sonnengott verdunkelt sein Antlitz, um seinen Standort nicht zu verraten, und hilfreiche Fische schwimmen als Pfadfinder voraus. Aber dennoch kommt es stets zur Konfrontation zwischen den Urkräften des Seins. Egal welchen Weg die Barke auch nimmt, Apophis ist stets schon da und schlürft alles Wasser in seinen gigantischen Leib. Jede Nacht läuft das Schiff auf Grund und Donner hallt durch die Unterwelt.

 

Viele Passagiere verzagen bei der Gewalt des Kampfes - doch die zauberkundige Göttin Isis tritt an den Bug der Barke und schleudert dem Gegner, als mächtige Waffe ihren Zauber entgegen. Die Gefährten von Re fesseln das gelähmte Monster zuverlässig, und nun können Bewaffnete ihre Speere solange in den Leib der Schlange rammen, bis sie sich übergibt. Aufrauschend strömen die Fluten zurück in die Fahrrinne, und das gestrandete Sonnenschiff setzt mit seiner Mannschaft die Fahrt fort. Bald schon taucht die Barke am Horizont auf, und gibt der Erde die Kraft der Sonne zurück. Aber nur für einen Tag, denn dann beginnt die Fahrt in die Unterwelt aufs Neue. So geht es ohne Ende, solange die Menschheit besteht. Jeder Zyklus ist eine Erneuerung und symbolisiert das niemals endende Naturgesetz von Werden und Vergehen. Eine jede Erneuerung ist auch eine Konfrontation mit Neuem, das bewältigt werden will und erfordert mitunter Anpassung und Kampf und wird somit als gefährlich betrachtet. Deshalb ist die Fahrt der Sonnenbarke durch den Duat jedes mal von Neuem gefährlich.

Die Göttin erzählt

 

Ich habe die warmen Gebiete Ägyptens verlassen und lebe zur Zeit in dem für mich kalten Norden, in Mitteleuropa, nahe der ungarischen Tiefebene. Sie werden erstaunt fragen, wieso ich als Göttin einen irdischen Wohnort habe und nicht unabhängig von jeglichem Ort bin. Ich werde die Frage gerne beantworten. Allerdings werden Sie über das, was Sie hören werden, noch mehr erstaunt sein. Ich habe mich in einen Menschen verliebt. Deshalb bin ich dort wo auch er ist. Mein zu Hause ist in seinem Herzen.

 

Ursprünglich war ich eine Göttin der Geparden aus dem Gebiet von Ägypten und angrenzender Regionen. Ich war ihnen zum Schutz zugeteilt und mit diesen wunderschönen Königen unter den Tieren verbunden. Ich liebe sie nach wie vor, jene Geparden von früher, die in neuen Geburten weiter leben und die vielfältigsten Wege gehen. Viele von ihnen sind keine Geparden mehr, sondern haben sich weiter entwickelt und ihren geistigen Aufstiegsweg in anderer Gestalt fortgesetzt. Auch ich habe mich weiter entwickelt und bin dem raum- und zeitlosen Allbewusstsein näher gekommen. Meiner früheren Aufgabe als Gruppenseele oder Schutzgöttin der Geparden Ägyptens kann ich leider nicht mehr nachkommen - nicht weil ich im Norden lebe, sondern weil es in all jenen Gebieten Nordafrikas keine Geparden mehr gibt. Die Welt hat sich geändert.

 

 

Meine zwei Lieblinge, welche mich durch das Duat begleitet haben, sind als mystische Jenseitswesen bei mir geblieben.

 

So wie meine zwei Geparden mir treu geblieben sind, bin auch ich Atmedef, so hieß dieser Mensch in jenen vergangenen Zeiten, treu geblieben. Durch drei Jahrtausende mittlerweile habe ich ihn begleitet, mit ihm mich gefreut, mit ihm gelitten. In diesen Zeiten hatte mich Atmedef immer wieder verloren und wieder gefunden. Gelegentlich verschmelzen unsere Seelen. Dann sehe ich mit seinen Augen und höre mit seinen Ohren. Anfangs war ich darüber erstaunt, wie andersartig die Welt von Menschen wahrgenommen wird, fremd und völlig verschieden zu dem was ich bislang gewohnt war. Bei jeder Geburt Atmedefs erlebte ich eine neue Sichtweise der Welt. Dennoch ist das, was ich über Atmedef wahrnehme, wenngleich neuartig, oft auch wunderschön. Ich erlernte durch ihn ein Empfinden für Musik, Malerei, ja selbst für die Harmonien wie sie sich in Bauwerken und technischen Objekten finden. Neue Welten haben sich mir erschlossen. Nicht nur mir, sondern auch Atmedef. So wie mich Atmedef die Welt auf andere Weise wahrnehmen gelehrt hatte, lehre und lehrte auch ich ihn die Welt anders wahrzunehmen. Er lernt erkennen, dass alles miteinander verbunden ist, die Liebe es ist, aus dem das Bauwerk der Schöpfung erschaffen wurde. Wir beschenken uns gegenseitig.

 

Hier, wo ich jetzt lebe, gibt es leider keine Geparden außer meinen beiden den Menschen unsichtbaren Begleitern. Jedoch gibt es ihre kleinen Verwandten die Hauskatzen. Ich liebe sie genau so innig wie meine Mutter Bastet-Sachmet sie liebt. So wie ich stammen auch die Hauskatzen aus Nordafrika und wir teilen somit ein Stück gemeinsame Geschichte.

 

 

Hier bin ich mit Samu, dem zweiten Hauskater, zu sehen.

 

Ich sehe an Ihrem rätselndem Blick die Frage, weshalb ich diesen Menschen liebe. Ob dieser Mensch so überaus heraus ragt, um für eine Göttin liebenswert zu sein? Um geliebt zu werden muss man nicht in irgend einer Weise herausragen. Das Herz beurteilt anders. Dieser Mensch hat in seinem Leben kaum nennenswerte Leistungen erzielt, weder im sozialen noch im wissenschaftlichen Bereich. In den Augen seiner Mitmenschen ist er bedeutungslos. Ich als Liebende sehe ihn anders. Er hat ein gutes Herz und so manche liebevolle Geste gegenüber dem Leben in der Natur hat mich mit Freude erfüllt. Ich habe viele Jahre seines Lebens miterlebt, Freude und Leid geteilt, obwohl er sich in seiner irdischen Blindheit die längste Zeit meiner mit ihm so verbundenen Existenz nicht bewusst war. Sie können sich nicht vorstellen, wie schmerzvoll es für eine Liebende ist, vom Geliebten nicht gesehen, gehört oder überhaupt wahrgenommen zu werden. Selbst jetzt, wo er sich meiner Nähe bewusst ist, nimmt er mich nur teilweise wahr. Sein Herz ist durch die irdische Schwere mit Trägheit belastet und beide leiden wir darunter. Trotz mancher geteilter Freuden können wir uns nicht sehen und nicht umarmen und fühlen uns fern voneinander. Unser Leben ist erfüllt vom Schmerz der Trennung.

 

 

Hier mein Geliebter mit seinem Kater Samu.

 

Es tut mir weh, wenn ich das Bild betrachte. Mein Geliebter in einem Körper gleich Stein. Ein Körper aus träger Materie, die alles Licht verschluckt. Ich kann mich der Tränen nicht verwehren. Wie sehne ich mich danach ihn in seinem goldenen Lichtkörper zu sehen, um dann für immer mit mir vereint zu sein. Ich glaube er ist nicht mehr fern hiervon, den letzten Schatten abgeworfen zu haben, um mit mir in der Sonnenbarke in neue, lichtvollere Welten zu reisen.

 

Ich weiß, dass ich Ihnen die Frage noch immer nicht beantwortet habe, wieso es möglich ist, dass ich diesen Menschen liebe. Dies lässt sich nicht in wenigen Worten sagen. Es ist eine lange Geschichte des allmählichen vertraut Werdens und des Erwachens einer Liebe. Ich will Ihnen die Geschichte erzählen und wie unsere Liebe entstand.

 

Die Kundschafterin

 

Re Atums Sonnenbarke war schon in dunkles Rot verfärbt und wir waren nicht mehr weit vom Westtor, dem Tor zur Unterwelt. Zwölf Stunden würde die gefahrvolle Fahrt der Sonnenbarke dauern, zwölf Stunden der Nacht, wie es für jenes Land nahe dem Äquator galt, aus dem ich stammte. Dennoch ist eine solche Fahrt nicht kurz und unsere Zeitbemessung von zwölf Stunden täuscht, denn dort im Duat läuft die Zeit anders.

 

 

Re-Atums Sonnenbarke

 

Wie sonst immer begleitete meine Mutter Sachmet den Sonnengott Re-Atum auch bei dieser Fahrt. Ebenso war die zauberkundige Isis zugegen, der listenreiche Seth und viele andere Götter. Mutter Sachmet war von ihren besten Kriegerinnen umgeben. Außer dem Schutz um Re-Atum gab es noch Fahrgäste. Im rückwärtigen Teil der Barke waren zahllose Menschen, denen Re-Atum in der Unterwelt Land zuteilen wollte. Es waren Menschen, die ein gutes irdisches Dasein geführt hatten und zum Lohn dafür dort im Jenseits ihr gewohntes Leben weiter führen durften. So würden sie als Bauern, Fischer, Handwerker oder Priester, zeitlos, sorgenfreier als zu irdischen Zeiten, ihr Leben genießen - so lange ihnen Re mit seiner Sonnenbarke immer wieder neue Lebenskraft schenken würde.

 

Zu jenem Zeitpunkt hatte ich noch keinen Einblick in das Leben der Menschen und deren Vielfalt von Schicksalen. Ich war eine Naturgottheit, eine Art Gruppenseele der Geparden und hatte die Lebenseinstellung jener königlichen Tiere. Die Gesetze der Natur wie jagen und gejagt werden standen mir näher als menschliche Werte. Was Liebe anbelangt, so kannte ich sie im Sinne von Mutterliebe oder partnerschaftlicher Liebe. Auch kannte ich wohl eine aufopfernde, selbstlose Liebe, denn welche Gepardenmutter würde nicht augenblicklich mit ihrem eigenen Leben das ihrer Jungen schützen. Jedoch eine alles umfassende Liebe wie sie hohe, erleuchtete Wesen haben, war mir fremd. Ich lernte sie in der Folge. Erst durch sie wurde ich eine wirkliche Göttin. Auch wenn ich schon vor der Reise durch den Duat dachte eine Göttin zu sein - ich war es noch nicht, sondern bestenfalls eine Überseele der Geparden.

 

Menschen lehnte ich zu jener Zeit ab, denn sie jagten wahllos Tiere, nicht etwa um ihren Hunger zu stillen und ihre Kinder zu versorgen, sondern oft zum reinen Vergnügen. Sie fanden es lustvoll Tiere jeglicher Art zu ermorden. Zum Glück galt das nicht für Geparden, die für sie wie alle Großkatzen und Kleinkatzen als heilig galten. Dennoch mochte ich die Menschen nicht. Zudem ackerten sie die ergiebigsten Jagdgründe zu Feldern um. Sie schufen immer mehr Ackerland und verdrängten die Natur. Dort wo sie keine Felder bestellen konnten, züchteten sie Vieh. Bald gab es in Ägypten für Geparden und andere Großkatzen kaum mehr Jagdgründe und ungestörte Flussufer. Verständlich, dass ich keine Menschen mochte. Bei all den schlechten Eigenschaften erachteten sich die Menschen als beinahe göttergleich. Manche Pharaonen dachten in Selbstüberschätzung ihren Platz an der Seite von Re zu haben. In Wirklichkeit waren sie maßlose Egoisten, deren Seele nicht leuchtete sondern schwarz qualmte.

 

Ich war das erste Mal eingeladen, um an der Fahrt mit der Sonnenbarke Teil zu nehmen. Das bewertete ich als einen Aufstieg innerhalb der Hierarchie der Halbgötter und Götter. Noch wusste ich damals nicht, dass all das Äußere, Anerkennung und Status innerhalb der sozialen Ordnung überaus vergänglich ist. Es gibt nur einen einzigen wahren Aufstieg und der erfolgt durch inneres Reifen. Solches ist mit Lernen, Bewährung und Entbehrungen verbunden. Das wusste ich damals nicht. Ich sah mich in Anerkennung früherer Verdienste und auch dadurch, dass ich die Tochter der großen Sachmet war, innerhalb der Gemeinschaft der Götter im Rang gehoben. Der neue Status ermöglichte mir das Privileg in der Nähe der großen Götter zu sein.

 

Wir fuhren gegen Westen. Ich stand an der Reling und blickte auf die glitzernden Wellen des Meeres und erfreute mich an dem Frieden, der uns umgab. Wir befanden uns noch auf dem Himmelsozean auf dem es keine Gefahren gab und wo alle Anwesenden auf der Sonnenbarke die friedliche, glückliche Atmosphäre zu genießen vermochten.

"ATNIFE", hörte ich miteins. Meine Mutter Sachmet hatte mich gerufen. Ich eilte sofort zu ihr. Sachmet teilte mir feierlich mit, dass sie mich auserwählt hätte als Kundschafterin der Barke vorauszueilen. Stolz und Freude erfasste mich als ich dies hörte. Meine Mutter Sachmet wusste mich zu schätzen und ich fühlte mich geehrt. Niemand war so schnell wie ich, die Götterkönigin der Geparden. Zugleich verfügte ich über nicht wenig von der Kraft der Löwin, wie sie meine Mutter verkörpert, so dachte ich.

 

Ich verneigte mich leicht vor Sachmet, nicht demütig, sondern stolz wie es einer Kriegerin ziemt und bedankte mich für den Auftrag. Sie gab mir eine Halskette mit einem magisch aufgeladenen Skarabäus aus Lapislazuli, durch dessen Hilfe ich jederzeit mit ihr verstärkt in telepathischen Kontakt treten konnte, selbst in der Unterwelt, die sich auf alle geistigen Kräfte lähmend auswirken würde.

 

Des weiteren gab sie mir eine Papyrusrolle mit Zaubersprüchen und Hinweisen, um bei den verschiedenen Torwächtern Durchlass zu erlangen. Die Torwächter waren auf dem Papyrus vereinfacht durch zwölf Paviane dargestellt. In Wirklichkeit sollten sie ein buntgemischter Haufen dämonischer Halbgötter sein.

Unter jedem Pavian stand der Spruch. Allerdings wäre der Spruch nur eine Hilfe und letztlich würde es auf die innere Kraft ankommen, meinte Sachmet zu mir.

 

"Du gehst den zweiten Weg, den Landweg", ergänzte Mutter Sachmet. "Dieser Weg ist schwieriger und gefährlicher als der Wasserweg der Sonnenbarke. Du bist mutig und stark. Ich weiß, Du wirst alle Hindernisse bewältigen, und ich muss um Dich keine Angst haben. Ich liebe Dich zu sehr, als dass ich Unmögliches von Dir verlangen würde. Aber sei nicht leichtsinnig, Du wirst beachtenswerten Gefahren begegnen."

 

Sie gab mir eine Wegkarte. "Den Weg zu finden ist nicht so schwer", fügte Sachmet hinzu. "Bis zur dritten Sphäre, sind die Landschaften ähnlich jener der irdischen Mittelwelt, mit Flüssen und Kanälen, auf denen die Sonnenbarke fahren kann. Das Land wird von friedlichen Menschen besiedelt, die für ihre irdischen Verdienste nach dem Tod in dieser seligen Welt Land erhalten hatten. Nach dem Land Wernes mit seinen fruchtbaren Feldern und Gewässern kommt die lebensfeindliche Wüste Rostau. Hier muss die Sonnenbarke über den Sand gezogen werden. An ihren früheren Spuren kannst Du den Weg finden. Bedenke, dass im Duat alles konträr oder zumindest andersartig ist. Wundere Dich deshalb nicht, dass die Wege dort häufig im Zick-Zack verlaufen. Das gilt sogar für den Weg der Sonnenbarke.

Sehr vereinfachend für die Wegfindung ist, dass die Unterwelt länglich gestaltet ist, ähnlich Ägyptens mit seinen fruchtbaren Äckern entlang dem Nil. Ihre Mitte wird von einem mächtigen Fluss durchzogen, ebenfalls so wie auf der Mittelwelt Erde. Die Sonnenbarke wird auf diesem Fluss ihren Weg nehmen.

So wie auf der Erde muss man eine Wüste durchqueren, um zu dem heiligen Areal des Plateaus zu kommen. Auf der Erde ist das Kennzeichen des heiligen Areals die große Pyramide mit der Sphinx. Auch im Duat gibt es einen Berg mit dem ungefähren Aussehen einer Pyramide. Davor ist aus dem Felsen gehauen ein männlicher Kopf mit Bart. An seiner Basis befindet sich der Eingang zu den unterirdischen Kavernen des Sokar.

Ab dort, bis zur siebenten Sphäre, jener von Apophis, geht es immer bergab. Nach der Welt von Apophis geht es wieder bergauf. Alle diese tiefen Welten bestehen aus Höhlen und Gängen, sie sind meist unfreundlich und es wird Dir der freie Himmel fehlen."

 

Sachmet schloss ihre Wegbeschreibung: "Das wäre ungefähr eine Faustregel, auf die man sich gut verlassen kann. Sie schließt aber Überraschungen nicht aus. Verlasse Dich immer auf Dein inneres Empfinden. Du wirst mich nicht rufen können, damit ich Dir auf dem Weg weiter helfe, falls Du Dich verirrt hast, denn die Landwege sind sehr vielfältig und ich kenne die meisten von ihnen nicht. Die Torwächter der Landwege sich ebenfalls anders und nicht vorhersehbar. Ich hoffe für Dich, dass die Bannsprüche für die Haupttorwächter auch für die Dämonen der Nebentore ihre Wirkung haben."

 

Ich freute mich auf das Abenteuer. Schon wollte ich mich verabschieden und gehen, als Sachmet noch hinzu fügte: "Du bekommst noch einen Begleiter mit auf dem Weg".

Ich erschrak. Das war mir nicht sehr recht. War es eine höhere Gottheit, so war sie mir vorgesetzt und ich musste mich ihren Vorschlägen fügen, war es eine tiefer stehende Halbgottheit, so war sie mir eher Last als Hilfe. Ich fühlte mich stark genug, um den Weg allein zu schaffen. Ich konnte wie die Geparden gleichsam unsichtbar mit dem Gelände verschmelzen. Eine Begleitung würde mich dieses Vorteils berauben. Doch ich fügte mich in kriegerischem Gehorsam, so wie es für die Krieger Sachmets, inklusive ihrem unüberwindlichem und gefürchtetem Dämonenheer gilt. Mit geradem Rücken eine Verneigung andeutend stimmte ich zu. Fragend blickte ich daraufhin zu Sachmet.

"Sieh dort hin, bei der Gruppe der Menschen steht einer etwas abseits, der ist es", beantwortete Sachmet meine stumme Frage.

Ich starrte Sachmet entsetzt an. Mir blieb die Luft weg. Dann brachte ich stammelnd hervor: "Wozu soll mir ein Mensch nützlich sein?"

"Er hat Stärken und Schwächen. Er ist völlig anders als die Götter. Es fehlt ihm die magische Kraft, die Fähigkeit des inneren Schauens und vieles mehr. Die irdische Welt, aus der er stammt, ist ähnlich der Unterwelt. Dadurch hat er ein Gespür für das Verhalten der Unterirdischen. Seine irdischen Lebenserfahrungen sind sein Beitrag für Dich."

 

Ich begriff nicht wofür mir das von Nutzen sein könnte. Wozu sollte ich wissen müssen wie die Wesen der Unterwelt denken und fühlen? Würde sich mir eines in den Weg stellen, käme es ohnedies zu einem Kampf und es wäre mir hierbei gleichgültig wie jenes Wesen denkt und fühlt. Würde es stärker sein, was nicht so leicht der Fall wäre, so könnte es mir nie in meiner Schnelligkeit folgen. Diesen Vorteil meiner Schnelligkeit würde ich mit einem Menschen an meiner Seite durch erzwungene Rücksichtnahme verlieren.

 

Die Freude an meinem Abenteuer war mir vergangen. Missmutig ging ich zu der Gruppe von Menschen. Immer schon hatte ich die Menschen gemieden, so wie es auch für meine Geparden-Kinder gilt. Im Gegensatz dazu achteten die Menschen Geparden hoch. Die Pharaonen und Könige hatten gelegentlich Geparden als Jagdbegleiter und sie waren auf diese stolz gleich erlesenen Kostbarkeiten. Mochten die Menschen Geparden schätzen, es beruhte keineswegs auf Gegenseitigkeit. Während ich auf dem Weg zu der Menschengruppe weiter grübelte, erschrak ich bei dem Gedanken, dass auch wir Götter meist in menschlicher oder halbmenschlicher Gestalt in Erscheinung traten. Eine Art Übereinkunft, um durch gleichartiges Aussehen unsere familiäre Zusammengehörigkeit zu betonen. Wieso wurde gerade eine menschliche Gestalt gewählt und nicht die eines herrlichen Geparden? Seth musste dies in böswilliger Laune den Göttern eingeredet haben, anders konnte ich es mir nicht vorstellen.

 

Ich hatte die Gruppe von Menschen erreicht. Die Menschen verneigten sich vor mir. Ich war zu schlecht gelaunt, um den Gruß zu erwidern und sah über sie hinweg. "Du da, folge mir", sprach ich barsch zu dem von Sachmet ausgesuchten Mann. Dann drehte ich mich um und kehrte der Gruppe den Rücken. Ich fühlte es als unangenehmes Prickeln wie sie mir neugierig nach starrten. Ich lauschte nach den Schritten des Mannes, um sicher zu gehen, dass er mir folgte, denn umdrehen wollte ich mich nicht.  Er folgte in respektvollem Abstand.

 

 

Mein Begleiter

 

Es dauerte nicht mehr lang bis die Barke beim Westtor angekommen war. Ich lehnte an der Reling und blickte auf das Meer. Diesmal interessierte mich das Meer nicht im Geringsten. Ich war zu mürrisch dazu. Ich blickte nur hinaus, um einen Sichtkontakt mit dem Mann in meiner Nähe zu vermeiden oder gar mit ihm sprechen zu müssen.

 

Beim Westtor angekommen bedeutete ich den Mann zu warten und ging zu Sachmet, um mich von ihr zu verabschieden. Wir umarmten uns herzlich. Sachmet schenkte mir ein kleines, bunt bemaltes Boot, das von einigen Matrosen von Bord gehievt und am Ufer abgestellt wurde. Hier bei Sachmet hatte ich meinen Groll vergessen und blickte voll Freude auf das schöne Boot. Es war in feinster Weise aus Holz gearbeitet, mit Gold überzogen und rotgoldenen Ornamenten. Am Bug hatte es zu jeder Seite ein schützendes Horusauge. Das Boot zeigte in seiner Schönheit Mutter Sachmets tiefe Liebe zu mir. Es war ein Boot, welches einer Göttin würdig war.

Sachmet sah mich an. Sie durchschaute meinen Groll und meine Ablehnung des Kriegers und so sagte sie mir: "Manches läuft bisweilen nicht so wie wir es gerne hätten, aber wenn es aus Fügung geschieht, dann hat es einen höheren Sinn. Dieser Krieger wurde Dir von Maat zugeteilt." Es klang wie eine Entschuldigung. Nach ihren Worten wusste ich, aus Liebe zu mir hätte sie den Befehl sofort rückgängig gemacht, jedoch den Weisungen von Maat musste selbst sie, die große Löwengöttin, Folge leisten.

 

Ich ging zurück zu dem Mann, ein Krieger, wie ich feststellte, da er einen Speer in der Hand hielt und bedeutete ihm mit einem Wink mir zu folgen. Wir stiegen von Bord und gingen zum Boot. Ich war stolz auf diesen besonderen Liebesbeweis Sachmets. Aus der Nähe konnte ich seine feine Bearbeitung noch deutlicher sehen. Die Kanten des Bootes waren sorgfältig abgerundet und die Bemalung des Goldhintergrundes bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Die Sitze waren mit hellem Leder gepolstert.

 

Ich nahm vorne am Boot Platz und der Krieger am rückwärtigen Sitz. Während die Sonnenbarke rot leuchtend noch am Ufer verweilte, ruderten wir durch das erste Tor der Unterwelt in das Land des Westens hinein. Bald hatten wir das offene Wasser hinter uns gelassen und suchten uns nunmehr den Weg durch das Schilf mit seinen unzähligen Kanälen und Rinnsalen. Gelegentlich öffnete sich das unüberschaubare Labyrinth zu einer kleineren oder größeren Wasserfläche mit Watvögeln und Lotosblumen.

 

 

Wir begannen unsere Reise in einem schönen Holzboot, einem Geschenk von Sachmet

 

Ich genoss die Landschaft und war hoch zufrieden als wir immer tiefer in das unbekannte Land hinein ruderten. Bunte Vögel flogen zu unseren Seiten aus ihren Verstecken, Enten begleiteten uns und paddelten emsig mit ihren Füßen, um mit uns gleich zu ziehen. Schillernde Libellen flogen um uns herum und Fische sprangen aus dem Wasser, gefolgt von silbrig glitzernden Tropfen. Es war eine wunderschöne Fahrt und ich begann sie zu genießen. Über diese üppig lebendige Welt vergaß ich beinahe, dass hinter mir noch ein Begleiter saß.

 

Die freien Wasserflächen wurden größer und zahlreicher. Immer wieder hoben sich Inseln aus der glitzernden Wasserfläche heraus. Zunächst waren es nur Schilfinseln. Dann aber sahen wir Inseln mit Hütten von Fischern und Kinder, die auf den am Ufer liegenden Booten herumturnten und uns neugierig nach sahen.

Allmählich befanden wir uns auf einem breiten Strom, der mitten durch das Schilfmeer seinen Weg fand. Der Strom ähnelte dem Nil. Er zeigte keine merkliche Strömung und wir kamen gut voran.

 

Dann sahen wir das erstemal Ufer, doch bald war es wieder von Schilf verdeckt. Aber der Schilfsaum war nur mehr schmal, das sah man an den Bäumen, die am Ufer wuchsen. Das Schilf wurde schütterer und das Land dahinter deutlicher erkennbar. Bald sah man Hütten und Äcker. Vom Fluss führten immer wieder Kanäle ins Landesinnere.

 

Wir verließen den Fluss und bogen in einen breiten Bewässerungskanal ab. Allmählich wurde dieser enger. Zu den Seiten waren fruchtbare Felder und immer wieder sahen wir Menschen, die uns freundlich zuwinkten. Als der Kanal zu einem Rinnsal wurde, legten wir an und stiegen aus. Ein Bauer war in der Nähe. Mit einem Blick auf das goldene Boot grüßte er uns ehrerbietig. Ich erkundigte mich nach dem weiteren Weg und schenkte ihm das Boot. Er starrte mich mit geweiteten Augen an und dann das Boot. Vielleicht dachte er, ich wollte mir einen Scherz erlauben. So fügte ich noch nachdrücklich hinzu, das Boot hätte ich als Geschenk von der Göttin Sachmet erhalten und nun möge es ihm gehören, zum Zeichen, dass die Götter den Menschen nahe wären. Die Situation überforderte ihn und er konnte es noch immer nicht glauben und vergaß über seine Sprachlosigkeit den Dank. Als wir uns auf den Weg gemacht und die ersten Schritte entfernt hatten, lief uns der Mann nach und brachte uns einen Korb mit seinem Mittagessen. Es war sein Dank und das einzige, was er uns zu geben vermochte. Ich dankte ihm sehr. Wir gingen weiter. Ich schritt mit meinem Begleiter in das Land hinein, ohne klarem Ziel und fühlte mich erstmals allein und dem Ungewissen ausgeliefert. Ab nun erwartete uns nach Anweisung meiner Mutter Sachmet der Landweg, der zweite Weg, wie er nach den Schriften des Amduat genannt wird.

 

Als wir ein Stück gegangen waren und mein Begleiter aus Scheu vor mir die ganze Strecke einige Schritte hinter mir geblieben war, winkte ich ihn zu mir. "Du da", sagte ich zu ihm, "Du gehst ab nun an meiner Seite".

Ich wollte ihn im Auge behalten, um seine Reaktionen auf die Umgebung abzulesen, was ich nicht konnte, wenn er hinter mir ging.

Er missverstand jedoch meine Absicht und freute sich darüber, dass ich ihn schätzte und ihn deshalb in gleicher Höhe mit mir gehen lassen wolle. Er bedankte sich freudig für die Ehre. Ich nickte kurz dazu, ohne dem Anzeichen einer Emotion, jedoch innerlich verärgert über seine Fehlinterpretation.

 

Wir gingen die mit Rasen bewachsenen Wege entlang der Bewässerungskanäle und goldenen Weizenfeldern. Nach dem langen Sitzen im Boot tat uns die Bewegung gut. In den Bewässerungsgräben fischten Reiher und Enten, Schmetterlinge umflatterten einander in spielenden Kreisen und Bienen und Hummeln besuchten die bunten Blüten, die aus dem Gold des Weizens in bunten Farben hervor leuchteten.

 

Unsere Wanderung glich einem gemütlichen jedoch ereignislosen Spaziergang. Zu Beginn der Reise hatte ich in Erwartung auf Abenteuer viel Spannung aufgebaut. Doch es gab keine Herausforderung. Ich genoss zwar die schöne Natur um uns, jedoch das spannende Element fehlte mir. So verschaffte ich mir Abwechslung indem ich in die Gedanken meines Begleiters hinein horchte. Schließlich wollte ich wissen inwieweit und ob überhaupt ich mich auf ihn verlassen könne. Er dachte gerade über mich nach. Das fand ich spannend. Jedoch im nächsten Augenblick schon stieg mir der Groll hoch. Er sah in mir nichts anderes als eine menschliche Dienerin einer Gottheit. Irgend eine durch Heirat sozial aufgestiegene Frau, die durch ein glückliches Schicksal oder viel Geld, um einen mächtigen Priester bezahlen zu können, die gehobene Position auf der Sonnenbarke erlangt hatte. Er war mir nicht neidisch, wenngleich er das Schicksal ungerecht empfand, weil auch hier im Jenseits nicht innere Werte sondern der ehemalige irdische Einfluss für die Stellung entscheidend war. Es war eben leider genau so, wie es in den Schriften des Duat stand, die er als Begleiter seines dienstgebenden Priesters gelegentlich studieren konnte.

 

Ich konzentrierte mich wieder auf unsere Umgebung, um nicht vor Ärger explodieren zu müssen. Natürlich bewunderte ich nun nicht  mehr die uns umgebenden Schönheiten, denn dafür hatte ich kein Auge mehr. Ich bedurfte der Ablenkung, um mich wieder einigermaßen zu beruhigen und in den Griff zu bekommen.

 

Irgend etwas zog in mir und zwang mich nach einiger Zeit wieder auf ihn zu lauschen. Ich kämpfte dagegen an, aber ich war diesem inneren Zwang machtlos ausgeliefert. Und so merkte ich, dass er trotz dieser entwürdigenden Auffassung über mich loyal war und bereit war, sein Leben jederzeit für mich einzusetzen. Nicht deshalb, weil er mich so schätzte, sondern weil es sein Auftrag als Krieger war.

 

Abermals stieg Ärger in mir auf. Ich dachte mir: Hätte man ihm eine Rolle Tuch zum Bewachen gegeben, so hätte er dies mit dem gleichen vollen Einsatz getan. Es sei für ihn kein Unterschied, ob er ein Ding oder mich beschütze. Für ihn würde der Auftrag zählen, der ihm anbefohlen wurde. Ich hatte keine weitere Lust sein Wesen zu ergründen. Der wohl oberflächliche Eindruck, den ich erhalten hatte, reichte mir. In meinem Missmut steigerte ich mich in die Vorstellung hinein einen kopflosen Befehlsempfänger neben mir zu haben. Unwillkürlich legte ich einen Eilschritt ein. Leicht verärgert bemühte ich mich meine Aufmerksamkeit der uns umgebenden Natur zuzuwenden, aber es gelang mir nicht. Auf der Suche nach Hilfe und Ablenkung hielt ich Ausschau nach einem Dorf. Tatsächlich kamen wir an einer Hütte vorbei, aber die war so uninteressant, dass wir ohne Halt zu machen weiter gingen. Nicht einmal Kinder oder Hunde liefen uns entgegen.

 

Als wir schweigend eine längere Strecke gegangen waren, fühlte sich mein Begleiter bemüßigt, durch einige Worte etwas Geselligkeit in unsere Wanderung zu bringen. Er schätzte mich als eine unbeholfene Hofdame ein und fühlte sich in der jetzigen Situation als Beschützer überlegen und für mein Wohl verantwortlich.

"Ich heiße Atmedef", sagte er gutmütig.

Ich prallte zurück. Ich dachte: Welche Dreistigkeit, welcher Frevel! Er trägt in seinem Namen genau wie ich die göttliche Silbe "At", das Namenselement der Begleiter und Krieger Atums. Wie konnte er sich als Mensch nur anmaßen ein göttliches Attribut in seinem Namen zu tragen!

 

Die Erzählung kurz unterbrechend möchte ich noch jenen, denen die magischen Gegebenheiten eines inneren Namens fremd sind, einiges hierzu erklären. Ein magischer Name bestand in jener Zeit meist aus drei Elementen. Eines für den spirituellen Aspekt des Menschen, eines für den astralen Aspekt, dem Ba und ein Silbenelement für den irdischen Aspekt Ab, das Herz, das man sich als Ort des Denkens und Fühlens, als Ort des Charakters und Gemütes dachte. Ab, das Herz, wird beim Totengericht des Anubis von Maat gegen die Feder gewogen. Im Namen von Atmedef war die erste Silbe als Abkürzung des spirituellen Ach-Teiles identisch mit meiner eigenen ersten Namenssilbe. Das "At" bezog sich auf Atum. Die zweite Silbe "me" war eine Abkürzung oder Code für seinen Ba-Aspekt und war für mich nicht deutbar. Der dritte Namensteil "def" als Abkürzung seines Ab-Aspektes war für mich ebenfalls nicht auslegbar.

 

Dass mir Atmedef seinen magischen Namen nannte und nicht seinen üblichen Rufnamen, war eigentlich eine große Ehrerweisung mir gegenüber. Statt dessen jedoch fühlte ich mich durch dieses große Entgegenkommen nicht geehrt, sondern war empört, dass sein Ach-Namensteil mit meinem identisch war. Ich empfand es als Anmaßung, dass er sich im spirituellen Aspekt des Namens mir als Göttin gleichstellte.

 

"Wer gab Dir diesen Namen", herrschte ich ihn an.

"Atum selbst", sagte der Mensch und verbeugte sich tief, um meinen Zorn zu mildern. Aus der Verbeugung heraus blickte er treuherzig zu mir hinauf.

"Nenne mich Göttin", erwiderte ich ihm brüsk. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm meinem Namen "Atnife" hören zu lassen. Mit dem gleichen Namenszeichen "At" würde dies aussehen als wären wir ebenbürtig. Gleichzeitig wollte ich ihm damit andeuten, dass ich kein Personal, sondern höherer Herkunft wäre.

"Ja ehrwürdige Göttin", erwiderte er, wobei er mich nach wie vor als menschliche Dienerin einer Gottheit betrachtete. Und wie es eben bei Emporkömmlingen häufig vor kommt, schien ich seinem Urteil nach auf meinen Status besonders stolz zu sein und neigte zum Übertreiben.

 

Ich verlor jetzt alle meine Beherrschung und fauchte ihn an: "schweig jetzt".

Er verneigte sich respektvoll formell ohne gekränkt zu sein. Ich konnte seine Gedanken deutlich lesen. Er bezog meinen Ärger nicht auf seine Namensnennung, sondern auf die Tatsache, dass er ein Gespräch in einer mitunter gefahrvollen Umgebung begonnen hatte. Er dachte darüber nach, ob ich vielleicht doch ein wenig im Können einer Kundschafterin bewandert wäre und nicht lediglich eine tollpatschige Vorgesetzte, wie er zuvor vermutet hatte.

 

Diese kleine Aufwertung meiner Person war allerdings für mich noch nicht ausreichend, um meine Stimmung zu heben. Ich hatte als Göttin der Geparden einen sechsten Sinn für Gefahren, für Anschleichen und all das, was Menschen mühsam erlernen müssen.

Mein Begleiter erkannte meinen verbleibenden Ärger an dem schnelleren Schritt, den ich wieder zugelegt hatte. Die Tatsache, dass ich nach dem bisherigen langen Marsch noch immer keine Spur von Müdigkeit zeigte und zu einem zügigen Schritt fähig war überraschte ihn. Teilweise war er darüber verwirrt, weil er mich nunmehr nicht mehr einordnen konnte. Mein Verhalten passte nicht ganz zu einer verwöhnten Hofdame.

 

Unser Marsch wurde durch den schnellen Schritt anstrengend und zudem war er monoton. Nach einiger Zeit gab ich mich dem Grübeln hin, vielleicht auch als Anzeichen einer Ermüdung. Ich hielt den flotten Marsch jedoch bei, in der Hoffnung, dass mein Begleiter früher und stärker ermüden würde als ich. Ich wünschte mir dies als kleinen Sieg, der zeigen würde, dass ich zäher und ausdauernder wäre als er, der von sich überzeugte Krieger. Gleichzeitig mit dem Grübeln wurde ich unaufmerksam meiner Umgebung gegenüber. Plötzlich fiel mir mein Zustand auf und ich erschrak, als ich mir dessen bewusst wurde. Nie hatte ich zum Grübeln geneigt, immer war ich klar bei der Sache. Wie konnte ich nur meinen Geist derart durch sinnlose Gedanken wegen eines Menschen trüben lassen? Waren es seine menschlichen Gewohnheiten und Schwächen, die auf mich ausstrahlten? Schon wollte neuerlich Zorn in mir hoch wallen, als ich bemerkte, dass es meinem Begleiter nicht besser ging. Um uns beide aus dem Zustand heraus zu reißen sprach ich ihn an: "Woran denkst Du gerade?"

 

Er war über die Frage überrascht. Doch er schien ein ehrlicher Mensch zu sein, dem es nicht peinlich war mit anderen seine Gedanken zu teilen. Seufzend antwortete er mir: "Ich war in meinem Leben Krieger. Nie hatte ich ein Zuhause, einen Ort, der mir vertraut war. Wir mussten im Freien schlafen, waren jedem Wetter ausgesetzt, litten unter Durst und Hunger. Weite Strecken mussten wir wandern und in fremde Länder ziehen. Unter der Last der Waffen und des Proviants brachen wir vor Müdigkeit fast zusammen. Wenn ich an einem Haus wie jenem vorhin vorbei kam, die Kinder lachen hörte, die Frau in das Haus huschen sah, den Brunnen erblickte und die Feigenbäume im Garten sah, erfasste mich tiefe Sehnsucht danach endlich einmal ausruhen zu dürfen. Ein Haus mit Garten schien für mich das Paradies. Wie seltsam, jetzt bin ich wieder Krieger und wieder sehe ich auf meiner Wanderung ein Haus und wieder habe ich den tiefen Wunsch hier bleiben und in Frieden leben zu können."

 

Was er mir erzählte erlebte ich als Telepathin zugleich in inneren Bildern. Gleichzeitig nahm ich in starker Intensität seine Gefühle wahr. Es war eine mir neue Welt, die sich mir in seinen Wünschen und Vorstellungen offenbarte. Es waren Gefühle und Sehnsüchte, die mir bislang unbekannt waren. Die bisherige Distanz zu ihm schmolz etwas. Erstmals erfühlte ich sein inneres Befinden. Er tat mir leid. Deshalb versuchte ich ihn zu trösten: "Ich habe Menschen beobachtet, die in einem solchen Haus lebten. Sie stöhnten ob der vielen Arbeit und sie klagten, dass sie tagein, tagaus das gleiche Haus und dasselbe Feld sehen würden, Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis zu ihrem Tod. Das Haus war ihnen eine Fessel. Wenn sie einen Krieger sahen, fürchteten sie sich vor ihm und bewunderten an ihm, dass er die weite Welt erleben durfte, fremde Völker und fremde Menschen sehen konnte, lernte und daran reifte."

 

Der Krieger warf mir einen dankbaren Blick zu. Er wusste dass ich ihn trösten wollte. Um mir zu bekunden, dass er sich keiner Schwäche hingeben wolle und Atum und auch mir treu verpflichtet sei, antwortete er geflissentlich:

"Danke ehrwürdige Göttin, Ihr habt mir in dieser Sichtweise sehr geholfen. Ich werde mir das einprägen. Ja, ich sollte für das, was mich das Leben lehrte, dankbar sein. Ich habe anscheinend dank dieser Gunst des Schicksals einiges gelernt, sonst hätte mich Atum nicht in seiner Sonnenbarke mitgenommen."

"Ich zweifle daran, dass Re-Atum Euch Menschen ob Eures Wissens und Eurer Erfahrung mitnehmen würde." Es war eine unüberlegte und spontane Antwort. Ich hatte mir keine weiteren Gedanken über etwaige Konsequenzen gemacht.

 

Mein Begleiter blickte abrupt zu mir. Die Aussage, dass ich mich nicht zu den Menschen zählte überraschte ihn. Leicht verwirrt wandte er sich wieder dem Gesprächsthema zu, wissend, dass ich auf eine Antwort wartete. Er suchte nach einer Antwort und da er keine wusste fragte er mich rundweg heraus: "Ja, warum hat mich Atum als Schutzgarde mitgenommen und mich nicht jenen Menschen zugeteilt, die er in seiner Sonnenbarke lediglich in die Unterwelt bringt, damit sie sich dort in den fruchtbaren Ländern als Bauern und Handwerker nieder lassen können".

 

Ich wusste selbst keine Antwort und angestrengt dachte ich nach und sagte dann: "Mir wurde gesagt, dass die Menschen völlig anders wären als Götter, sie würden anders denken und anders empfinden. Ein Mensch an meiner Seite könne mir helfen die Situationen aus völlig anderer Perspektive zu sehen."

Er akzeptierte meine Worte und sie schienen ihm logisch. Seine Gedanken überschlugen sich jedoch, denn nunmehr war ganz klar gesagt, dass er in mir keinen Menschen, sondern eine Göttin als Begleiterin haben würde. Zudem war ihm meine Antwort auch nicht klar, denn für ihn war eine Göttin ein so hohes Wesen, dass es für sie gleichgültig sein könne, wie ein Mensch denke und fühle. Seine Grübeleien brachten ihm keine Lösung und da ich fürchtete, dass meine Hinweise sein Selbstbewusstsein schmälern könnten, ergänzte ich, indem ich ihm erstmals in die Augen sah: "In erster Linie ist es die Eigenschaft Treue, weshalb Atum manche der Menschen in seinem näheren Umfeld mit nimmt."

 

Die Freude mit welcher Atmedef diese Antwort aufnahm überraschte mich. Er strahlte über sein Gesicht und ich wusste in diesem Augenblick: die Dämonen könnten ihn quälen und zerstückeln, er würde alles hinnehmen, ohne auch nur eine Sekunde in seiner Treue, Dankbarkeit und Hingabe zu schwanken.

 

Die Gefühle, die ich zusammen mit dem hingebungsvollen Blick des Kriegers empfing, erschütterten mein Inneres. Noch nie zuvor war ich mir dermaßen des Wertes der Treue bewusst. Sicherlich war ich Sachmet immer in Treue ergeben. Das war für mich natürlich, gleichsam ererbt und ich machte mir nie darüber Gedanken. Schließlich war sie meine Mutter, oder man könnte auch sagen ich war ein Teil von ihr. Hier aber empfing ich Gefühle in denen Treue mehr war als verwandtschaftliche Verbundenheit oder wie immer man meine Art der Treue nennen möge. In dieser Treue des Kriegers war Opferbereitschaft zu erkennen, die weit über seinem eigenen Leben stand und den Hauch der Ewigkeit in sich trug, eine Hingabe, die weit hinaus reichte über die kurze Zeit eines menschlichen Lebens. Es war eine neue seelische Eigenschaft, ein neuer ethischer Wert, den ich in dieser Sekunde seines Blickes empfing.

 

Wir gingen schweigend weiter. Ich stellte erstaunt und unerklärlicher Weise mit Zufriedenheit fest, dass ich nunmehr an meinen Begleiter nicht mehr abwertend als "nur Mensch" dachte. Ich dachte an ihn als Atmedef. Er begann mir allmählich etwas zu bedeuten. Meine innere Harmonie war wieder hergestellt. Ich ging langsamer und begann die Gegend erneut zu genießen.

 

Durch das Gras sah ich Tiere huschen, vor allem Mäuse, ich hörte Vögel zwitschern und die Kanäle und Teiche zu unseren Seiten schienen freundlicher. Bald darauf waren wir unvermutet wieder am Ufer des großen Stromes. Nun ohne Boot, sondern als Wanderer. Wir gingen flussabwärts tiefer in das Land hinein. Atmedef war über den Strömungsverlauf irritiert. Schließlich fragte er mich, ob wir nicht flussaufwärts gehen sollten. Flussabwärts würden wir bald zur Küste des Urgewässers Nun gelangen, zum Ausgang unserer Reise.

 

Ich konnte seine Bedenken verstehen. Deshalb erklärte ich ihm: "Hier in der Unterwelt ist alles umgekehrt. Der Fluss fließt nicht ins Meer, sondern kommt vom Meer. Er fließt aufwärts, spaltet sich in kleine Flüsse, um irgendwann als Quelle in die Erde hinein zu fließen. Er fließt dann durch die Erde hindurch und kommt in der Mittelwelt, wieder als Quelle heraus, von wo aus er wieder zurück in das Meer Nun fließt. So würde auch das Wasser einen Kreislauf bilden, genauso wie die Sonne Re."

 

Da Atmedef so wissbegierig war, gab ich ihm noch einige weitere Erklärungen. "Die Unterwelt ist ähnlich wie die Mittelwelt aufgebaut. Am Rand der Unterwelt, abseits vom breiten Fluss mit seinen fruchtbaren Ländern sind Land und Völker unkultiviert. Es sind Barbaren, die noch keinen Getreidebau kennen und nur von der Jagd leben. Unser jetziger Weg führt uns bereits zu den ersten Ausläufern des Landes Wernes. Wernes gleicht dem Ägypten mit seinen Äckern Dörfern, Tempeln und all dem, was ein zivilisiertes Volk ausmacht. Ich jedoch", fügte ich hinzu, "liebe die unberührte Natur. Sie ist für mich voll Leben und Lebensspuren, in denen ich wie aus einem Buch lesen kann."

Um Atmedef dies zu zeigen erklärte ich ihm einzelne Spuren und die Tiere, von denen die Spuren stammten. Atmedef kannte sich gut im Spurenlesen aus, doch ich übertraf ihn weit. Seine Achtung vor mir wuchs und ich merkte mit einiger Belustigung, wie er mich im Eifer des Gespräches nur noch mit "Göttin" ansprach und nicht mit "ehrwürdige Göttin". In dem Wort "Göttin" lag jedoch nunmehr keine Formalität, sondern Wertschätzung und Zuneigung.

 

Atmedef begann mir seinerseits die Kräuter zu erklären. Diesbezüglich war nun er weit besser, denn für Kräuter hatte ich mich bislang wenig oder nicht interessiert. In angeregtem Gespräch verging die Zeit wie im Flug. Atmedef und ich verstanden uns immer besser und aus anfänglicher Ablehnung war Sympathie geworden.

 

Die zweite Sphäre - die fruchtbare Welt von Wernes

 

 

Re verweilt mit seiner Barke im Wernes und verteilt Äcker an die Götter des Duat. Den Verstorbenen wird hier Wasser, Nahrung, Luft und Lockerung der Mumienbinden zugesagt. Auf einem Teil der Darstellung sind vier Götter mit Jahresrispen in den Händen zu sehen, welche sie Re als Geschenk reichen.

 

Das Land Wernes in der Unterwelt gleicht jenem von Ägypten der Tagwelt. Ein mächtiger Strom fließt in der Mitte. Auf ihm durchquert Re mit seiner Sonnenbarke das Land. Zu beiden Seiten des Stromes sind fruchtbare Äcker, welche von den Menschen der Unterwelt bestellt werden. Auch hier muss geackert und geerntet werden. Es gibt Häuser und Feste. Die Menschen leben wie im Ägypten der Tagwelt, nur mit dem Unterschied, dass jedes mal wenn Re das Land durchquert ihr Leben neue Kraft erhält, so dass die Menschen ewig leben können.

 

 

 

 

Wir waren emsig im Gespräch vertieft und merkten nicht, wie der Pfad allmählich zum Weg wurde und sich dann zu einer Straße weitete. Unvermittelt sahen wir zu unser beider Erstaunen das Tor zur zweiten Sphäre vor uns, dem Eingang zu den fruchtbaren Feldern des Landes Wernes.

 

 

 

Der Torwächter war ein fleischiger Koloss

 

 

Vor dem Tor zum Land Wernes stand ein fleischiger Koloss als Wächter. Er hatte uns schon von weitem beobachtet und amüsiert zugesehen, wie wir diskutierten und unser Gespräch mit weitausholenden Gebärden unterstrichen, als Folge unserer guten Laune. Er begrüßte uns mit einem breiten Grinsen: "sieh mal an, ein Liebespärchen!"

Die  Bemerkung empörte mich. Sie war respektlos und außerdem wollte ich nicht, dass meine warmherzigen Gefühle zu Atmedef derart missverständlich angesprochen würden. Schon wollte ich seine fette Haut mit meinen Krallen tätowieren. Atmedef erkannte an meinem starren Blick, wie Zorn in mir hoch stieg. Da er mein Temperament richtig einschätzte, warf er mir einen bittenden Blick zu. Also beherrschte ich mich und fauchte den Torwächter am Vorübergehen nur an.

 

Atmedef warf mir wegen dem katzenartigen Fauchen einen überraschten Blick zu. Das Verhalten war ihm fremd. Er stellte sich die Götter sehr menschlich vor, eventuell als sehr erhaben und abgehoben. Selbst wenn etliche der Götter mit Tierköpfen dargestellt wurden, so waren das in seinen Augen Attribute, aber keine Hinweise auf tierhafte Verhaltensweisen. Ich merkte, wie er über mein Verhalten grübelte, aber ich erklärte es ihm nicht. Vieles an mir war ihm sehr rätselhaft. Da ich ihm allmählich viel bedeutete, wollte er mein Wesen auch besser verstehen.

 

Als wir einige Schritte weiter waren konnte ich mich Atmedef gegenüber nicht der Bemerkung enthalten: "Du hast mir eine große Genugtuung genommen. Die Bemerkung des Wächters war eine bodenlose Frechheit. Es hätte ihn gelehrt in Zukunft zu einer Göttin höflicher zu sein."

 

"Ich fürchte, er hätte nichts daraus gelernt", gab Atmedef zur Antwort. "Wahrscheinlich fühlt er sich selbst als Gottheit", fügte er hinzu.

Als Atmedef meine Augen aufblitzen sah, ergänzte er: "er weiß ja nicht was eine wirkliche Gottheit ist. Er glaubt sicher, dass alle nichtmenschlichen Wesen Gottheiten sind und somit würde der Begriff auch auf ihn zutreffen."

 

Leicht gereizt fragte ich: "Dann sag mir was eine Gottheit ist." Ich gebe zu, ich wollte einige Schmeicheleien hören, etwa dass Götter weiser, schöner und erhabener wären, verglichen mit dem Torwächter.

 

Atmedef dachte angestrengt nach und zuletzt sagte er, "Ich weiß es nicht. Zu meiner Überraschung haben Gottheiten bisweilen ein sehr menschliches Verhalten. Ich dachte immer sie wären über alle Dinge der Welt erhaben und abgeklärt. Statt dessen erfuhr ich, dass Gottheiten mitunter sehr stark Stimmungsschwankungen unterliegen können. Manches an ihnen hat mich sehr verwirrt. Der Priester, dem ich als Leibwächter diente, war immer gut zu mir und nie herablassend. Er behandelte mich wie einen Sohn. Statt mir zu befehlen kleidete er seine Wünsche in zwar bestimmte, aber höfliche Bitten ein."

 

Ich wusste, dass Atmedef mit all dem mich meinte. Andere Götter kannte er ja kaum. Seine Bemerkung war mir wie ein Messerstich. Einige Zeit zuvor, am Anfang der Reise wäre ich ob dieser Worte wütend geworden und hätte ihn geohrfeigt. Jetzt aber merkte ich nach dem ersten Schock, dass er recht hatte. Ich fühlte kurz zu ihm hin und merkte, dass er meinen Zorn erwartete. Ich merkte zugleich, dass in seinen Worten kein Wunsch nach Rache für mein früheres Verhalten war oder irgendeine Missbilligung. Zu meinem großen Erstaunen erfuhr ich aus seinen Gedanken, dass er mir dies sagte, weil er mich liebte. Er wollte mich vollkommen sehen, nicht nur äußerlich, sondern auch in meinem Wesen, in meiner Persönlichkeit.

 

 

 

Ich war verwirrt und schwieg. Wir gingen wortlos weiter, während ich in mich ging und mein inneres Spiegelbild betrachtete. Ich verglich mich mit Sachmet, mit Isis und anderen und musste zugeben, dass ich mich von jenen Göttinnen durch große Unreife und Unbeherrschtheit unterschied. Ich stellte fest, dass ich noch sehr von der Wesensart der Katzen geprägt war. Ich war eher vom Charakter kleiner Hauskatzen, die gerne launisch sind, stellte ich missbilligend fest. Großkatzen dagegen wie Löwen und Geparden zeigen ein ruhigeres und ausgeglicheneres Verhalten. Es war ein Makel, den nicht einmal meine Gepardenkinder in dieser Weise zeigten, erkannte ich mit Erschütterung. In meiner Ratlosigkeit verband ich mich mit Mutter Sachmet und berichtete ihr die Situation und die Erkenntnis bezüglich meiner oft heftigen Reaktionen.

 

Sachmet war liebenswürdig wie immer zu mir.  Sie erklärte mir, dass meine Gepardenkinder nicht über derlei starke innere Energien verfügen würden wie ich, und ihr Gemüt deshalb auch ruhiger wäre. Große magische Energien, wie ich sie hätte, wären schwer zu kontrollieren. So lange das so wäre, würden sie wie Feuer, Blitz und Donner das Gemüt überwältigen und mich immer wieder aus dem Gleichgewicht bringen. Andererseits wären diese Energien auch die Basis für eine spirituelle Kraft, wie sie selbst viele Götter nicht haben. Meine starken Energien, wenngleich sie zur Zeit noch ein wenig unkontrolliert wären, seien der Grund weshalb sie mich überaus schätze und liebe. Deshalb auch habe sie mich mit der Aufgabe einer Kundschafterin betraut, im Vertrauen auf eben diese innere Stärke. Mein inneres Feuer und Licht sei allerdings gleich dem heftiger Blitze und nicht von der gleichbleibenden Beständigkeit der Sonne. Aber es sei vorhanden und stark und das ist das Wesentliche.

 

Ich sagte Sachmet, dass mir dieses starke Auf- und Abschaukeln der Gefühle früher nicht derart bewusst gewesen war wie jetzt.

 

"Du bist in eine dichtere Welt hinab gestiegen", erklärte mir Sachmet weiter. "Damit ist auch Dein Köper dichter und vor allem die Energien mit ihren Zentren und ihrem Fließen. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies nun neuartige Erfahrungen für Dich sind. Ich bin aber zuversichtlich, dass Du dies bestens meistern wirst."

 

Ich bedankte mich bei Sachmet und war zugleich über die unerwartete Auskunft erstaunt.

 

Ich wendete mich wieder Atmedef zu und nahm das vorherige Gespräch erneut auf. "Du hast vorhin angedeutet, dass mein Wesen aufbrausend und unbeherrscht sei. Leider stimmt das. Gelegentlich fällt es mir schwer Zorn und starke Emotionen zu kontrollieren. Wie steht es mit Dir?"

 

"Ich will nicht behaupten, dass ich meine Gefühle besser im Griff hätte. Vergleiche stehen mir nicht zu", gab Atmedef zur Antwort.

 

Eine schamlose Ausrede, dachte ich mir. "Du brauchst Dich nicht zu vergleichen. Sage mir, ob Du meinst Dich beherrschen zu können."

 

"Ja, ich kann mich beherrschen", gab Atmedef zu meiner Überraschung als Antwort. Nachdenklich fügte er hinzu: "Ich war ein Diener, ob als Krieger oder Leibwächter. Als solcher musste ich gehorchen. Andernfalls hätte ich sehr unangenehme Strafen erdulden müssen. Selbst Ungerechtigkeiten musste ich still akzeptieren. Die Kunst war nicht das Erlernen von Selbstkontrolle und Beherrschung, sondern die Selbstachtung zu bewahren und trotz Demütigungen selbstbewusst und stark zu bleiben. Viele meiner Gefährten sind daran zerbrochen und wurden zu verbitterten Menschen. Das Leben war für mich eine harte Schule. Wenngleich Du bisweilen aufbrausend bist, meine von mir verehrte Göttin, so finde ich auch das an Dir schön, weil es das Zeichen Deiner ungebrochenen Freiheit ist."

 

Die Art wie er mir das sagte war schön. Seine Beurteilung war ehrlich und zugleich voll Verehrung und Bewunderung. Während er mir das sagte, konnte ich zugleich in seine Innenwelt eintauchen. Solcherart empfing ich nicht nur Worte, sondern auch seine Gefühle und einen Teil seiner Lebenserfahrung.

Wir waren sehr unterschiedlich, stellte ich fest. Deshalb auch war Atmedef für mich so interessant und bereichernd. Ich erkannte, dass Sachmet vielschichtige Absichten hatte, als sie mir Atmedef als Begleiter zugesellte. Es war nicht nur Maat, die meinen Begleiter ausgewählt hatte. Wahrscheinlich hatten sich beide in ihren Zielsetzungen abgestimmt. Meine innere Entwicklung war Sachmet wichtiger als meine Aufgabe als Kundschafterin. Mitunter war der Auftrag nur ein äußerer Vorwand, denn wozu benötigte Atum-Re eine Kundschafterin auf dem Landweg, wenn er auf dem großen Strom mit seiner Sonnenbarke fuhr. Offen, wie es einem Kind gegenüber der Mutter zugestanden ist, fragte ich bei Sachmet diesbezüglich nach.

Etwas zögernd gestand mir Sachmet ein, dass die Reise in erster Linie meiner inneren Weiterentwicklung und Reife dienen sollte. Sie fügte noch hinzu, und ich erspürte ihre Besorgnis, dass inneres Reifen auch mit dem Bewältigen von Gefahren verbunden sei, und dieser Aspekt bereite ihr Angst, da sie mich liebe. Inniglich bat sie mich stark zu sein und gestand mir, dass sie sich ewig Vorwürfe machen würde, wenn sie mich falsch eingeschätzt hätte und ich ins Verderben stürzen würde.

 

Zunächst war ich überrascht über die Wende in der Bedeutung meines Auftrags. Dann ging ich in mich. Einerseits war ich mit meiner Unbeherrschtheit etwas versöhnt, da sie mir durch meinen dichteren Körper erklärt wurde, andererseits war ich bezüglich der Gefahren beunruhigt. Mit einem derart labilen Gemüt würde ich sie viel schlechter bestehen und ich wäre mitunter dadurch auch wirklich gefährdet. Ich dachte zurück, wie ich mit dem Torwächter unnötiger Weise ein Handgemenge hatte anfangen wollen. Was Atmedef anbelangt, so war ich ihm nun sogar dankbar für seine sanften Verweise.

 

Ich hatte das Wesen Atmedefs durch seine Erklärungen in neuer Tiefe kennen gelernt. Ich begann über mich selbst nachzudenken und was mich von Atmedef unterschied. Indem ich ihm in den folgenden Gesprächen einzelne Gedankengänge mitteilte, versuchte ich selbst Klarheit über mich zu erlangen.

 

"Ich bin ein Schutzgeist, eine kleine Gottheit und nicht vergleichbar mit Isis, Hathor oder Sachmet. Du weißt, dass es viele Arten von Schutzgeistern gibt, solche der Natur, von menschlichen Völkern, von Tierrassen und so weiter. Auch Schutzgeister sind unsterblich gleich Göttern. Was mich als Schutzgeist von den hohen Göttinnen unterscheidet ist eine geringere Strahlkraft an Ach, der Kraft der Verklärten. Sachmet vertraute mir an: Dadurch, dass wir nicht mit der Sonnenbarke fahren, sondern zu Fuß die Bereiche der Unterwelt durchwandern, würden wir in verstärktem Maße das Ach erwerben. Allerdings wären wir dadurch auch höheren Risken ausgesetzt."

 

Atmedef saugte meine Worte geradezu auf, war jedoch zu dezent, um mich durch Fragen zu unterbrechen.

 

Wir suchten einen Rastplatz auf und ließen uns genussvoll nieder. Jeder von uns dachte über die neuen Einblicke nach. Wir ließen uns Zeit und irgend wann erhoben wir uns wieder und setzten unsere Wanderschaft fort.

Wir genossen die Landschaft um uns. Es war eine liebliche Gegend mit fruchtbaren Äckern, durchzogen von Flüssen und Kanälen. Mit der Sonnenbarke durch dieses schöne Land zu gleiten, müsste für alle eine erholsame Fahrt sein. Es gab Schwärme von Wasservögeln, glitzernde Libellen und bunte Blumen längs der Wasserläufe.

 

Während dieser idyllischen Wanderung näherten sich uns zwei Geparden. Atmedef erhob zur Abwehr seinen Speer.

"Untersteh Dich", herrschte ich Atmedef an. "Geparden sind heilige Tiere, ist Dir das nicht bekannt?"

Atmedef war verwirrt. "Ja Göttin, es ist mir bekannt, aber ich weiß nicht, ob die Geparden Dir den nötigen Respekt erweisen werden, schließlich sind Geparden gefährlich."

 

Ich las seine Gedanken. Er wusste zwar nun, dass ich eine Göttin sei, aber empfand mich dennoch als zu schwach, um solch gefährlichen Tieren gewachsen zu sein. Er meinte, es müsse ja irgend einen Sinn haben, dass man ihn mir als Begleiter zugesellt hätte. Und warum hatte man einen Krieger ausgewählt? Es war klar, die Göttin bedurfte des Schutzes. Vor meinem Wissen wie etwa dem des Fährtenlesens und meine Kenntnis über die Unterwelt hatte er hohe Achtung. Was aber meine Stärke anbelangte, so schätzte er mich noch völlig falsch ein. Meinen Kampfgeist wie er sich bei der Begegnung mit dem Torwächter zeigte, stufte er eher als Unbeherrschtheit ein.

 

Es ist in der Regel sehr lästig, wenn man die Gedanken und Gefühle der Menschen voll wahrnimmt, denn oft sind diese Gedanken-Gefühle wenig schmeichelhaft und selbst dann, wenn sie der Wahrheit entsprechen, störend. Doch gelegentlich wie in diesem Fall kann es auch sehr nützlich sein, um Missverständnissen und Fehleinschätzungen vorzubeugen. Deshalb erklärte ich ihm: "Die Geparden sind meine Kinder, ich bin ihre Göttin".

 

Ich wollte damit Atmedef die Situation erklären und war erstaunt, als ich erkannte, dass Atmedef nunmehr noch verwirrter war als zuvor. Ich las seine Gedanken. Für ihn war Mafdet, die Himmelsgöttin, die später als Nut verehrt wurde, zugleich die Göttin der Geparden. Wurde sie doch früher in Gestalt eines Himmelspanthers verehrt. Ihre Herrlichkeit würde sich nie in einen menschlichen Körper kleiden.

 

So erklärte ich ihm: "ich bin nicht Mafdet, sondern eine Tochter von Sachmet. Als solcher sind mir die Gaparden zur Obhut anvertraut. Alle Geparden, die es in Ägypten gibt", fügte ich noch stolz hinzu.

 

Zunächst erschrak er, weil er merkte, dass ich seine Gedanken gelesen hatte. Dann sah er mich staunend an und blickte geradezu ehrfurchtsvoll zu den zwei Geparden hin, die langsam näher kamen. Das gefiel mir und stolz erklärte ich ihm, dass kein Tier auf der ganzen Welt so schnell sei wie ein Gepard. Selbst Vögel würde ein Gepard in seiner Schnelligkeit überholen.

 

Atmedef saugte meine Worte schwärmerisch ein. Er empfand es als das größte Geschenk, das je einem Menschen zuteil wurde, eine Geparden-Göttin begleiten zu dürfen. Ich muss zugeben, das gefiel mir.

 

Neugierig  beäugten die zwei Geparden Atmedef und genossen glücklich meine Nähe und ließen sich von mir streicheln.

 

Es dauerte nicht lange und es kamen zwei weitere Geparden zu uns. Es waren nunmehr vier Geparden, die mit uns gingen; eine beachtliche Eskorte.

 

Einige Zeit später gelangten wir zu einem Dorf. Die Dorfbewohnern liefen zusammen, als sie uns Fremde in Begleitung heiliger Tiere sahen und bestaunten uns aus sicherem Abstand. Als ich die baldige Ankunft der Sonnenbarke ankündigte, verneigten sich alle vor uns. Sachmet hatte mich gebeten, die Sonnenbarke anzukündigen, damit die Menschen in Wernes Zeit für Vorbereitungen hätten, um Atum-Re mit gebührender Ehrfurcht empfangen zu können.

 

Wir beschlossen ein wenig im Dorf zu verweilen. Die Dorfbewohner veranstalteten für uns ein kleines Fest. Atmedef und ich genossen eine königliche Bewirtung und Verehrung. Während unserem Mahl wurde gesungen und getanzt. Es wurde gelacht und Freude herrschte bei dem Fest, das uns zu Ehren gehalten wurde.

 

Nach dem Fest setzten wir unsere Wanderung fort. Solcherart wanderten wir von Dorf zu Dorf und überall waren wir gleichermaßen willkommen. Unsere Wanderung glich einem Festzug, denn meist wurden wir von den Dorfleuten bis zum nächsten Dorf eskortiert.

 

 

Die Menschen bewirteten und ehrten uns königlich

 

Die dritte Sphäre, Gewässer des Osiris

 

 

Re verweilt im Gefilde der Uferbewohner. Er erteilt Weisungen an die Achu (verklärten Verstorbenen) im Gefolge des Osiris und teilt ihnen Ackeranteile zu. Wer die Namen der Geheimen Bau (Seelen) kennt wird Wasser erhalten aus dem "Gewässer des Alleinherrn, welches Opferspeisen hervorbringt".

 

Im mittleren Register zieht Re dahin im Gefolge von drei weiteren Barken. Die Barken kehren nach der Durchfahrt Re's zum Ufer der "Räuber" zurück.


 

Es heißt: Die Fahrt von Atum-Re mit seiner Sonnenbarke durch die Sphäre von Wernes mag für die Mittelwelt nur eine Stunde dauern, aber für die Bewohner der Unterwelt ist es eine lange Zeit. Auch für Atum-Re, der an die Verklärten Güter und Felder verteilt, verläuft die Zeit anders als in der Mittelwelt von Ägypten.

Ich kann es bestätigen. Für uns hat die Reise durch Wernes viele Monate oder sogar einige Jahre gedauert. Es ist schwer zu sagen, denn auch das Zeitempfinden ist dort anders. Jedenfalls war uns in Wernes eine schöne und auch lange Zeit gegönnt. Doch auch sie ging leider zu Ende. Atmedef und ich hatten uns in dieser Zeit verstehen und einander schätzen gelernt. Nunmehr waren wir beide glücklich, dass wir zusammen reisen durften.

 

Kurz vor dem dritten Tor hatten uns zwei der Geparden verlassen, doch zwei aus der Gruppe, ein Pärchen, blieben bei uns. Sie waren bereit sich jeder Gefahr zu stellen, um mich zu beschützen. Ich war über ihre Liebe und Aufopferung gerührt.

 

Als wir am Tor angekommen waren, lag der Wächter im Schatten der Tornische quer über den Weg und hielt sein Mittagschläfchen. Atmedef und ich stiegen über seine Beine und er schlief tief weiter. Auch die zwei Geparden stiegen über ihn. Das Geparden-Männchen konnte es nicht lassen noch kurz innezuhalten, um einen der Torpfeiler zu markieren.

 

 

Mittagsschläfchen eines kleinen Beamten der Unterwelt

 

Im Weitergehen lächelte ich beim Gedanken wie sehr sich doch die Theorie des Buches vom Duat von der Realität unterschied. Im Plauderton gab ich meine Gedanken an Atmedef weiter: "Wenn ich das Losungswort für den Durchlass zum Wächter gesprochen hätte, so wäre dieser verwirrt aus dem Schlaf empor geschreckt und mit Sicherheit nicht freundlich gestimmt gewesen."

 

Atmedef lachte und schien meine Gedanken zu teilen, denn er fügte hinzu: "Das Duat gleicht wirklich in vielem der Mittelwelt. Beim großen Tor, durch das Atum-Re mit seiner Sonnenbarke fährt, sammelt sich die Prominenz der Unterirdischen. Jeder will bei dem großen Ereignis dabei sein und eventuell hierbei auch eine Rolle spielen. Bei den Nebentoren jedoch sieht es anders aus. Je unbedeutender das Nebentor auf dem Landweg ist, desto unbedeutender sind die Beamten, die es bewachen. Und da sich hier selten etwas ereignet, verrichten sie ihre Tätigkeiten entsprechend nachlässig." Und weiter fügte Atmedef hinzu: "Und wahrscheinlich wäre Dein Losungswort hier auch nicht richtig gewesen."

 

Ich sah Atmedef fragend an.

Atmedef sprach freimütig weiter: "Beim großen Tor wäre das Losungswort etwa so gewesen: "Mach auf, der große Re-Atum kommt mit seinem Gefolge. Gehorche oder Dein Kopf wird rollen. Als loyaler Diener dagegen wirst Du reich belohnt." Es war eine kleine Pause, dann fügte Atmedef hinzu: "Mit Ländereien, die vorhanden sind und nichts kosten".

Ich musste lachen und bat ihn mir zu sagen wie das Losungswort etwa bei diesem kleinen unterweltlichen Beamten gewesen wäre.

Atmedef lachte auch: "es wäre ähnlich der Losungsworte wie in der irdischen Mittelwelt gewesen", sagte er.

Er machte mich neugierig und spannte mich auf die Folter: "Nun sag mir, wie hätte es gelautet?"

"In der irdischen Tagwelt lautet ein solches Losungswort: "Ich könnte Ihre Hilfe benötigen". Das sagt man als wolle man eine Auskunft und spielt dabei mit einem Wertgegenstand. Wahrscheinlich hätte uns der Wächter den Weg versperrt und in eindeutiger Weise zum Skarabäus Deiner Halskette geblickt."

Ich schnappte nach Luft und wollte dazu gerade etwas sagen, als er gleichsam beruhigend fortsetzte: "Nun, er hätte es wahrscheinlich nicht gewagt beim Anblick eines starken Kriegers."

Wieder schnappte ich nach Luft und wollte gerade empört sagen, dass ich keinen Krieger nötig hätte, um mir Respekt zu verschaffen, als ich ihn kichern sah. Er hatte meine Empörung gekonnt provoziert und mich damit herein gelegt.

"Schade für ihn, dass er geschlafen hatte. Für uns war es jedenfalls so billiger", fügte er lachend hinzu.

 

Heiter gingen wir weiter in die neue unbekannte Landschaft, die sich ab dem Tor allmählich in ihrem Charakter änderte. Es glich zwar in vielem Wernes, doch gab es leichte Unterschiede. Es gab nach wie vor Kanäle, die das Land durchzogen. Entlang der Kanäle war schmales Ackerland. Dazwischen jedoch gab es viel Sumpf, Schilfinseln, Rinnsale und Teiche mit unzähligen Tieren, die bei unserem Kommen in ihre Verstecke huschten oder untertauchten. Gelegentlich gab es dazwischen ausgetrocknete Gebiete mit Sand oder Geröll. Verglichen zu Wernes waren weniger Felder, und mehr Brachland. Die Kanäle waren weniger gepflegt, teils mit Schilf bewachsen und manche von ihnen versumpft. Man konnte erkennen, dass die ordnende Kraft von Maat abnahm. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass wir Apophis näher kamen, Apophis der Verkörperung des Chaos.

 

Die Wege waren verschlungen und die Brücken oft beschädigt und brüchig. Das ermahnte uns zur Vorsicht, denn im Wasser darunter konnten Krokodile und Schlangen lauern. Die vielen Schilfareale seitlich des Weges mit sumpfigen Stellen und Pfützen mochten Räubern gute Verstecke bieten. Es waren nicht integrierte  Menschen, die mangels einer geordneten Existenzbasis zu Räubern wurden, denn Re hatte ihnen keine Äcker zugeteilt, da ihr Gemüt/Charakter durch die Waage des Anubis sich als schwer erwies, jedoch nicht schwer genug war, um in eine ewige Verdammnis geworfen zu werden. Vor solchen Ausgestoßenen mussten wir uns in Acht nehmen.

 

In den vom Schilf halb zugewachsenen Wegen konnten wir nicht mehr nebeneinander gehen, weshalb wir schwiegen. Nur gelegentlich öffnete sich der Weg zu kleinen Wiesen. Wir gingen in einer Kette, allen voran das Gepardenmännchen. Wir wussten nie, was sich hinter der nächsten Biegung zeigen würde.

 

Wir gingen soeben einen schmalen Weg von hohem Schilf gleich einer Mauer umsäumt, als der Gepard an der Spitze ein leises Knurrzeichen von sich gab. Atmedef halterte den Speer und ließ es sich nicht nehmen einige Schritte voraus zu gehen. Als wir aus dem Schilf heraus kamen standen uns auf einer kleinen Wiese fünf kampfbereite Räuber gegenüber. Sie mochten uns irgendwann beobachtet haben und hatten unser Kommen erwartet. Sie waren mit Speeren und sogar mit Schwertern bewaffnet. Gleich einer Beute musterten sie uns. Gierig sahen sie zu den zwei Geparden, deren Fell für sie eine Kostbarkeit war. Gepardenfelle wurden gelegentlich von Pharaonen und ihren engsten Angehörigen getragen. Manchmal auch von verdienten Feldherrn. Sie waren kostbar, heilige Utensilien und mehr als nur Schmuck.

Kurz warfen sie einen Blick zu mir und ignorierten mich als Frau. Für sie war ich als Gegnerin nicht existent. Einzig Atmedef betrachteten sie als Gegner, wenngleich sie seine Kampferfahrung nicht hoch einschätzten und der Ansicht waren mit ihm schnell fertig zu werden.

 

Atmedef dagegen war von sich überzeugt. Er war einst von einem Nubier im waffenlosen Kampf ausgebildet worden und hatte da erlernt, wie man mit Händen und Beinen mehrere Gegner zugleich auf Abstand halten konnte, um gezielt einen nach dem anderen zu besiegen. Er wollte gerade den fünf Männern entgegen gehen, als ich meine Hand auf seine Schulter legte und ihn zurück hielt. Den zwei Geparden bedeutete ich mit einer Handgeste hinter mir zu bleiben. Ich trat vor, während mich die Räuber erstaunt und belustigt ansahen. Im nächsten Augenblick jedoch waren sie durch die Kraft meines magischen Blickes wie zu Stein erstarrt. Ich bat Atmedef ihnen die Waffen abzunehmen. Atmedef sah ungläubig und erstaunt einmal zu den Räubern und dann wieder zu mir. Er war fassungslos. Ich wies ihn noch einmal mit einer wortlosen Geste an, los zu gehen.

Atmedef ging zu den Räubern hin und nahm ihnen die Waffen ab. Die Räuber blieben hierbei reglos wie Strohpuppen stehen. In weitem Schwung warf Atmedef die Waffen in einen sumpfigen Tümpel am Wiesenrand, behielt sich jedoch einen Dolch, der ihm sehr gefiel. Es war offenbar ein wertvolles Raubgut. Der Griff war aus Elfenbein kunstvoll geschnitzt und hatte zusätzlich schwarz gefärbte Ornamente.

 

Nach dem Zwischenfall gingen wir zügig weiter. Atmedef erkannte an meinem starren Blick, dass ich noch immer in einem Zustand magischer Konzentration sein musste und schwieg. Als wir einen ausreichenden Abstand hatten, sah er wieder Leben in mich einkehren und erkannte, dass ich wieder ansprechbar war. Er wollte sofort wissen, ob ich bereit wäre ihm diesen mächtigen Zauberspruch beizubringen. Ich vertröstete ihn jedoch auf später. Dann, wenn wir ein Dorf erreicht hätten, um dort ein wenig zu verweilen und uns zu erholen, dann würde ich es ihm erklären. Im Dorf würde es für uns zwar keine Festlichkeiten geben wie in Wernes, aber sie würden uns als Boten von Re-Atum sicherlich ehren und gut bewirten. Erst dort wären wir sicher, denn die Räuber würden uns höchst wahrscheinlich nach ihrem Erwachen aus der Starre verfolgen.

 

Nach einigen wenigen Stunden gelangten wir in ein Dorf. Die Häuser mit den weißgekalkten Lehmwänden und den mit Schilf gedeckten Dächern sahen einladend aus. Kinder, Ziegen und allerlei Kleintiere tummelten sich am Dorfrand umher und die Atmosphäre pulsierte von Leben.

Umgeben von einer großen Schar Neugieriger wurden wir zum Dorfältesten gebracht. Er betrachtete mich als Frau Atmedefs und die Geparden als dessen Jagdhelfer. Er ersuchte mich bei den Frauen Platz zu nehmen, die auf mich mit allerlei belanglosen Fragen einstürmten. Atmedef gefiel die Situation gar nicht. Er hielt das Gespräch so kurz als möglich ohne zu sehr gegen die Höflichkeitssitten zu verstoßen. Re-Atum erwähnten weder er noch ich, nachdem wir erkannt hatten, dass sie uns in dieser Hinsicht gar nicht verstehen würden. Es war klar, Re-Atum würde nie in die Nähe dieser verwahrlosten Gegend kommen.

Möglichst schnell verabschiedete sich Atmedef mit wortreichem Dank und wir machten uns wieder auf die Reise.

 

Als wir wieder auf Wanderung waren, erklärte er mir, dass für ihn das Verhalten der Dorfleute beleidigend war, weil sie mir nicht die nötige Ehre erwiesen hätten. Ohne meinem Einverständnis wollte er jedoch keine Informationen über mich weiter geben und beließ die Dorfleute in ihrem Glauben, dass ich seine Frau wäre. Er entschuldigte sich sogar bei mir hierfür.

Ich fand seine Verschwiegenheit richtig. In der Sphäre zuvor galten wir als Herolde von Re und die Dorfleute dort erwiesen uns die Ehre wie sie uns als Boten eines so großen Gottes zustanden. In dieser Sphäre hier war es anscheinend anders. Re würde kaum diese Dörfer besuchen, nicht nur weil wir uns mittlerweile vom Fluss entfernt hatten. Es wäre sinnlos gewesen uns als Herolde auszugeben. Die Betonung meines Status als Göttin hätte zur Erwartung geführt hiervon zu profitieren, sei es, dass sie mich gebeten hätten zu heilen oder Segen zu sprechen oder was immer man sich von einer Göttin erwartete.

"Weißt Du, Atmedef", sagte ich zu ihm, "Würde ich mich diesen Leuten gegenüber als Göttin ausgeben, so würden sie sich mit unzähligen Wünschen an mich wenden. Wünsche, die ich nie erfüllen könnte. Einen jeden Wunsch, den ich nicht erfüllen könnte, und das wären die meisten, würden sie als Ablehnung betrachten und mich deshalb hassen. Ich würde nur wenig Dank und statt dessen viel Unwillen ernten. Auf eine solche Art der Verehrung kann ich verzichten. Da bevorzuge ich lieber die Gesellschaft der Hasen und Enten in der freien Natur."

 

Sinnend und in kurzen Worten gab Atmedef seinen Kommentar: "ja, Du hast Recht, meine Göttin. Immer wenn sich die Menschen an eine Gottheit wenden, wollen sie etwas. Eine jegliche Anrufung erfolgt aus Angst oder Hoffnung. Eine Hinwendung zu einer Gottheit aus Liebe habe ich noch nie beobachtet."

 

Ich nickte Atmedef zu. "Eines kommt noch hinzu, was die Menschen nicht verstehen. Sie glauben Gottheiten sind über alle Gesetze erhaben und können nach Willkür in die Schicksale der Menschen eingreifen. Das stimmt jedoch nicht. Auch für die Gottheiten gilt die Ordnung der Schöpfung - für sie erst recht, da sie als Wissende mehr Verantwortung tragen.

 

Die Waage der göttlichen Ordnung gibt es für die Menschen nicht nur zur Stunde des Todes. Ein jeder Mensch trägt sie als inneren Richter fortwährend in sich. Die Stimme dieses inneren Richters ist das Gewissen. Wenn ein Mensch gegen die göttliche Ordnung Maat verstoßen hat, äußert sich dies als Störung. Eine solche Störung kann durch eine Krankheit sichtbar werden, durch einen Schicksalsschlag oder Ähnliches. Deshalb hat es in vielen Fällen wenig Sinn ein äußeres Symptom zu beseitigen ohne sich gleichzeitig darum zu bemühen die Ursachen zu klären und zu bereinigen. Es wird sich nach kurzer Zeit neuerlich eine Störung zeigen. Erst recht unvernünftig wäre es den Menschen ihre kurzsichtigen Wünsche zu erfüllen, ihnen etwa Reichtum zu schenken. Damit würde man die Menschen noch stärker aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn eine Gottheit einem Menschen einen Wunsch versagt, so ist es zum Schutz des Menschen. Die Menschen jedoch verstehen das nicht. Sie sind wie Kinder und hadern mit einer Gottheit, nur weil ihnen ihre kurzsichtigen Wünsche nicht erfüllt wurden."

 

Atmedef schwieg einige Augenblicke nachdem ich gesprochen hatte und erwiderte dann: "Sind die Götter so weise oder ist dies eine Idealvorstellung."

 

Ich fühlte, seine Frage war ehrlich und keine Provokation und so sagte ich: "Auch Götter lernen und entwickeln sich weiter. Was ich sagte ist eine Idealvorstellung. Es gibt ganz junge Götter, die sich aus Naturgeistern oder Gruppengeistern entwickelt haben. Sie sind mächtiger und in vielem weiter als Menschen, aber in manchem können ihnen Menschen an Erfahrung überlegen sein, etwa an Lebenserfahrungen, gewonnen aus vielfältigen Schicksalen. Deshalb können aus der Verbindung einer Gottheit mit einem Menschen beide Seiten profitieren." Nach einer Pause fügte ich hinzu: "Das ist eine Einsicht, zu der ich erst in letzter Zeit gekommen bin. Es war eine für mich erschütternde Erkenntnis, die mir viel an erhöhter Selbsteinschätzung gekostet hatte, aber meine Mutter Sachmet hatte mir bestätigt, dass es so sei."

 

"Wurde diese Erkenntnis durch die Wanderung mit mir ausgelöst", fragte er.

Ich nickte und sagte nur kurz "Ja".

 

Atmedef war verwundert, dass die kurze Zeit unserer Reise in mir so viel bewirkt hätte und schwieg.

Durch seine Gedanken darauf aufmerksam geworden war ich selbst erstaunt und dachte darüber nach. Ich kam zu keiner Lösung. So richtete ich mich auf  Mutter Sachmet aus und fragte sie. Die Antwort kam sofort: "Es ist, weil Götter in die innere Bilderwelt der Menschen einsteigen können und all die Emotionen und Erfahrungen miterleben können als wären es ihre eigenen. Götter können aus den Essenzen menschlicher Erfahrungen lernen. Sie müssen nicht Schicksale erleben, um an diese Erfahrungs-Essenzen zu kommen. Dieses Eintauchen und Miterfahren erspart den Göttern den mühseligen Weg der Inkarnationen. Es gibt auch eine ähnliche Möglichkeit für den Menschen. Wenn der Mensch imstande ist sich mit einer Gottheit innerlich zu verbinden, so kann er ebenfalls in Bezug auf einige Zustände, welche Göttern eigen sind, durch Teilhaben lernen."

 

Ich war erstaunt über die Antwort Sachmets und zugleich erschien mir die Antwort einleuchtend. Ich wandte mich wieder Atmedef zu.

Atmedef war sehr nachdenklich geworden und schwieg. Ich fühlte seine Gedanken, die sich darum drehten, dass die meisten menschlichen Seelenerkenntnisse bei ihm und allen anderen, die er kannte, dem Leid entwachsen waren. Der Gedanke tat ihm weh, dass ich vielleicht auf ebensolche Weise lernen müsste. Er wollte mich heil, erhaben und glücklich sehen.

 

Ich war über seine Gedankengänge gerührt und erzählte ihm, was ich soeben von Sachmet erfahren hatte.

An seiner Erleichterung erkannte ich, dass er mich nicht nur schätzte, sondern auch liebte.

 

Nachdem wir einige Stunden weiter gewandert waren, beschlossen wir zu rasten. Bei dieser Gelegenheit fragte mich Atmedef nach meiner magischen Fähigkeit bei der Begegnung mit den Räubern. Er hatte die ganze Zeit darauf gebrannt es zu erfahren, doch es schien ihm bislang nicht die richtige Gelegenheit hierzu gewesen zu sein.

 

Als wir es uns gemütlich gemacht hatten gab ich Atmedef seine heiß begehrte Erklärung.

"Atmedef", begann ich, "Du glaubst sicher, dass ich über viele geheime Zaubersprüche verfüge, wodurch ich anderen in der Magie überlegen wäre. Aber glaube mir, Zaubersprüche sind nur Hilfsmittel. Nicht die Worte wirken, sondern die innere Kraft. Wenn Du das einmal weißt, kannst Du Magie bewirken, ohne Zaubersprüche zu kennen. Ich will Dir den genauen Vorgang erklären, wie ich meine Magie eingesetzt habe und wie sie gewirkt hat."

Atmedef lauschte gespannt.

"Du hast ja mittlerweile mitbekommen, dass ich über telepathische Fähigkeiten verfüge. In der Telepathie entsteht eine Verbindung zu jenem Wesen, ob Gottheit, Mensch oder Tier, dessen Gedanken und Gefühle man wahrnimmt. Genauso wie man lauschen kann, kann man auch senden. Jeder Mensch verfügt zu einem gewissen Maß an telepathischen Fähigkeiten, jedoch sind diese unterschiedlich stark ausgeprägt. Meine diesbezüglichen Fähigkeit sind außergewöhnlich hoch. Diese Fähigkeiten haben sehr viel mit der inneren Kraft des Ba (Astrals) zu tun. Die Räuber hatten verglichen zu mir ein unentwickeltes und sehr schwaches Ba. Dadurch war es mir möglich alle fünf Räuber gleichzeitig mit meiner inneren Kraft zu beherrschen und zu kontrollieren."

Ich merkte, dass mich Atmedef nur teilweise verstand, denn meine Ansichten waren für ihn sehr neuartig und ungewöhnlich. Deshalb fügte ich hinzu:

"Die meisten Menschen, oder fast alle sind sich ihres Ba nicht bewusst. Zuerst muss man lernen sein Bewusstsein in den Ba zu versenken, mit dem Ba wahrzunehmen und mit dem Ba zu reisen. Wenn Du das kannst, dann kannst Du auch Dein Bewusstsein in andere hinein versetzen."

Atmedef merkte, dass ich ihm alles gesagt hatte, was mir wichtig erschien und zu einer Diskussion nicht bereit war, obwohl er noch viele offene Fragen hatte. Deshalb fügte ich noch folgendes hinzu:

"Diese Dinge kann man nicht intellektuell verstehen, denn jedes mal wenn eine Frage beantwortet wird, ergeben sich zwei oder mehrere weitere Fragen. Solcherart entstehen daraus endlose Diskussionen, an deren Ende nur Verwirrung bleibt. Um zu verstehen muss man erfahren. So weit möglich will ich Dir gerne während unserer Wanderung helfen und Dich anleiten. Jetzt einmal denke über das Wenige nach, das ich Dir erklärt habe."

Nach diesen Worten gingen wir schweigend weiter. Die Landschaft blieb unbesiedelt und brachte weder Gefahren noch Abwechslung.

 

Wir waren eine volle Stunde gegangen, als ich Atmedef bat, mir aus seinem Leben zu berichten. Ich war neugierig über die fremdartigen Ansichten und Lebenserfahrungen der Menschen zu hören. Auch stellte ich eine große Zuneigung zu Atmedef fest und wollte deshalb mehr über ihn wissen.

 

Atmedef begann über seine Kindheit und beschrieb mir wie er Ziegen hütete. Ich fand seine Erzählungen sehr interessant und bat ihn um Details und auch darum die Umgebung zu beschreiben. Während er mir die Details erzählte, tauchte ich in die innere Bilderwelt seines Geistes ein und lernte eine mir fremde Welt kennen. Das Hüten von Tieren, die ich bislang als Jagdbeute kannte, war ein neuer Aspekt für mich und faszinierend.

 

Dann kam er über seine Jugend zu sprechen. Er erzählte mir über seine erste Liebe. Das interessierte mich nur wenig. Ich erwartete, dass er über die nachfolgenden Jahre weiter erzählen würde, über all die Ereignisse, die er als Krieger erlebt hatte. Statt dessen blieb er bei seiner ersten Liebe hängen. Er vertiefte sich in diese Zeit und genoss die Bilder, die in seiner Erinnerung auftauchten. Er träumte geradezu von dieser Zeit und erzählte mir die kleinsten Gegebenheiten, schmückte sie aus, als wären sie das wichtigste der Welt gewesen. Er hatte sich in diese Ereignisse festgefahren und ich wurde allmählich irritiert. Er beschrieb mir die Schönheit jener Frau der ersten Liebe und die tiefen Gefühle, die er hatte. So sehr er auch jene Frau in schwärmerischen Worten beschrieb, erschien sie mir dennoch als uninteressant und farblos. Es war geradezu absurd wie er von einer derart durchschnittlichen Frau begeistert sein konnte, die sich in keiner Hinsicht von tausenden anderen Frauen unterschied. Er beschrieb ihre Nase, die Augenfarbe, ihre Hände, selbst über die Kleidung sprach er, die sie trug. Bald war es mir zu viel. Ich ließ ihn einfach weiter sprechen, mit der Absicht auf diesen Unsinn nicht mehr hinzuhören. Sollte er Freude an diesen Bildern haben. Ich wollte mich hiervon abschalten und konzentrierte mich auf die Umgebung. Aber es gelang mir nicht. Etwas zwang mich gegen meinen Willen diesem Unsinn weiter zu zuhören.

 

Je mehr ich dagegen ankämpfte, mich mit aller Kraft zwang die Umgebung zu betrachten und dann dennoch nach kurzen Augenblicken ungewollt wieder zuhörte, desto mehr steigerte sich mein Unwille und mein Ärger. Letztendlich hielt ich es nicht mehr aus. "Schweig", schrie ich laut auf und auch die folgenden Worte schrie ich heraus: "was interessiert mich diese Frau, deren Mumie schon längst zu Staub zerfallen ist!"

Als wäre er durch meinen Ausruf aus einem Traum erwacht, starrte mich Atmedef erschrocken und mit großen Augen an. Er war völlig verwirrt. Dann entschuldigte er sich bei mir für seine Weitläufigkeit. Er war überrascht und ratlos mich derart gereizt zu sehen und schrieb letztlich die Ursache seiner langatmigen Erzählung zu.

Ich fühlte seine Ratlosigkeit und Verwirrung und er tat mir nunmehr leid, denn schließlich hatte er nichts falsch gemacht. Er hatte lediglich über ein Thema gesprochen, das mich ganz und gar nicht interessierte. Um meine gereizte Reaktion zu glätten, gleichsam als Entschuldigung für mein Verhalten sprach ich in besänftigenden Worten zu ihm:

"Es hat keinen Sinn der Vergangenheit nachzuhängen. Es macht Dich nur schwach. Ein Krieger lebt in der Gegenwart und wenn er aufmerksam ist, findet er alles wonach er sucht."

Wiederum sah er mich mit großen Augen an, zuerst erstaunt und dann bewundernd. Es war als sähe er mich zum ersten mal in seinem Leben. Aufmerksam betrachtete er mich und ich las aus seinen Gedanken und Gefühlen wie schön er mich fand. Das brachte mich erneut aus dem Gleichgewicht. So waren meine Worte nicht gemeint und es störte mich ungemein auf diese Weise missverstanden zu werden. Dennoch, durfte ich mir nichts anmerken lassen, denn ich hatte mich selbst in diese Situation manövriert. Auch das machte mich wiederum wütend. Wie konnte er es nur wagen eine Göttin als Frau von seinesgleichen zu betrachten? Gleichzeitig straffte ich meine Gestalt und gab meinem Gesicht einen erhabenen weltabgewandten Ausdruck. Mein Körper reagierte gegen meinen Willen auf seine Bewunderung. Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich derartig hilflos, wie in dieser Situation. Es schien als würde ein Teil meiner selbst mir nicht mehr gehorchen und meinen Willen, meine Selbstachtung und die Grundwurzeln meiner Persönlichkeit missachten.

 

Mit großer Erleichterung empfing ich einen Impuls von Sachmet, die eine Störung in mir  wahr nahm und nicht genau wusste was los war. Zunächst wich ich der Frage aus. Ich berichtete ihr von dem versuchten Überfall der Räuber, von der widerwärtigen Situation im Dorf, und dass wir seitdem ohne irgendwelcher Vorkommnisse unterwegs waren.

 

Sachmet war und ist eine feinfühlige Göttin. Als meine liebevolle Mutter spürte sie, dass einiges vorgefallen sein musste, was mich persönlich betraf. Vorsichtig erklärte sie mir, dass sie mich liebe, mir oft ihren Segen schicke und nach meinem Befinden lausche. Hierbei hätte sie eine Störung empfunden. Aber nachdem nichts vorgefallen sei, hätte sie sich wahrscheinlich geirrt aus Sorge, die sie sich immer wieder machen würde, weil sie mich auf eine derart gefahrvolle Reise geschickt hatte. Sie sagte mir, dass es ihr bereits leid tat mich auf die Reise geschickt zu haben, nicht weil sie an meiner Stärke zweifle, sondern eher aus egoistischen Gründen, weil sie sich aus Liebe zu mir viel mehr Sorgen machen würde als sie je zuvor erwartet hätte und ihr recht wäre.

 

Ihre liebevollen Gedanken brachten mich aus meiner Verstocktheit und so berichtete ich ihr von dem Gespräch mit Atmedef und seiner Fixierung auf seine erste Jugendliebe. Ich erklärte ihr, dass mich die Langatmigkeit seiner Erzählung und seine nicht nachvollziehbaren Emotionen erzürnt hätten. Doch Sachmet verstand die Situation besser als ich. Liebevoll wie eine Mutter, und das ist sie auch für mich, erklärte sie mir, dass die Reise nicht nur im bewältigen äußerer Gefahren bestünde. Zwar sei dies ein wichtiger Aspekt, weil dadurch Zähigkeit, Kraft und Durchsetzungsvermögen gestärkt würden. Jedoch sei die Reise durch den Duat auch zugleich eine Reise durch die innere Seelenwelt. Nichts würde bei einer solchen Reise ausgespart bleiben. Solcherart endet eine Reise durch den Duat nicht nur in einer äußeren Neugeburt, sondern auch der innere Mensch werde hierbei neu geboren. Nichts bleibt so wie es früher war. Diese innere Umgestaltung sei zwar keine existenzielle Gefahr, aber dennoch vielleicht schmerzhafter, verwirrender und gefährlicher als alle äußeren Gefahren des Duat inklusive Apophis.

 

Ich fragte Sachmet, weshalb sie selbst unter diesen Umständen derart gelassen die Reise antreten würde.

Die Antwort meiner Mutter Sachmet überraschte mich. Sie erklärte mir: "Je weniger Ach-Licht und Lebenserfahrung jemand hat, desto stärker sind die inneren Umwälzungen. Anders ausgedrückt, je jünger und weniger entwickelt jemand ist, desto dynamischer laufen die Prozesse ab. Verklärte mit viel Ach-Licht verändern sich kaum oder gar nicht. Mehr als vollkommen kann man nicht mehr werden."

 

Ich hatte das Empfinden, dass mir die Worte meiner geliebten Mutter viel zum Nachdenken geben würden und dankte ihr für die Erklärung. Ich beendete in vielleicht etwas sehr abrupter Weise ihre wohlmeinenden Worte, aber ich hatte das Bedürfnis nach Stille und Zeit zum Nachdenken. Ihre Erklärungen und meine aufgewühlten Emotionen schienen mir mehr als viel zum Verarbeiten.

 

Sachmet war nicht gekränkt, sondern verstand mich. Ich wusste das und hatte auch darauf vertraut. Ich dachte über all das Neue nach. So wie es aussah, war ich zwar eine Göttin aber noch nicht so sehr in der inneren Entwicklung gereift. Das war für mich überraschend. Zwar wusste ich, dass es mächtigere Götter und Göttinnen als mich gab, das schrieb ich jedoch ihrem Alter und dem damit verbundenen Wissen zu. Aber davon mal abgesehen sah ich in Göttern vollkommene Wesen, mich natürlich mit eingeschlossen. Dass dem nicht so war, gab mir viel zu denken.

 

Atmedef hatte erfasst, dass ich eine Botschaft empfangen hatte und schwieg die ganze Zeit hindurch, um mich in der telepathischen Verbindung nicht zu stören.

Ich tat es ihm gleich. Nachdem ich sehr viel über die Worte meiner Mutter Sachmet nachgedacht hatte, machte ich mir über meine Reaktionen bezüglich der Erzählung Atmedefs Gedanken. Sachmet hatte ja angedeutet, dass die Heftigkeit meiner Reaktionen auf einen entwicklungsbedürftigen Aspekt meiner Persönlichkeit hinweisen würden. Ich fragte mich, weshalb ich so heftig auf eine relativ nichtssagende Erzählung reagiert hatte. Ich kam zu dem Schluss, dass es für mich kränkend war, dass er einer nichtsagenden Frau eine derartige Bedeutung zugemessen hatte, wo er doch jetzt in Begleitung einer Göttin war, die wesentlich mehr zu bieten hatte als jene Durchschnittsfrau. Er bekam es in seiner Naivität nicht mit, dass die Überbewertung jener Frau eine Brüskierung und Demütigung einer ihn begleitenden Göttin sein musste.

 

Widerwillig begann ich wieder das Gespräch. Genau genommen wollte ich unter keinen Umständen mehr etwas über diese Frau hören, aber ich musste bei diesem Thema bleiben, wenn ich meine diesbezüglichen Reaktionen abklären wollte. Vielleicht war ich jetzt nach all meinen neuerlichen Erkenntnissen stark genug, um über diese kleinliche Art des Denkens von Atmedef hinweg zu kommen. Schließlich war er ein Mensch und als solcher im Denken und Fühlen eingeengt. So fragte ich ihn nach der langen Pause des Schweigens: "War die Frau Deiner ersten Liebe dermaßen schön, dass Du sie so heiß geliebt hast?"

 

"Ich weiß nicht", kam zur Antwort. "Wenn eine Frau von einem Mann geliebt wird, ist sie für ihn immer schön. Selbst wenn sie eine krumme, große oder schiefe Nase hat, findet der Mann das schön. Für ihn ist das dann ein Zeichen des Charakters und der Einmaligkeit der Frau."

 

Die Aussage Atmedefs überraschte mich. "Ja, warum liebt dann der Mann eine solche Frau überhaupt", rief ich erstaunt aus.

 

"Mann und Frau sind wie Sonne und Mond, wie Tag und Nacht, wie Tätigkeit und Ruhe. Sie bedürfen und ergänzen einander. Ohne einem Partner oder Partnerin fühlen sich beide verlassen, einsam und nicht erfüllt. Es fehlt etwas. Man kann vielleicht nicht genau sagen was fehlt, aber man spürt dieses Fehlen zutiefst. Sowohl vom Mann als auch von der Frau werden die Gefühle belebt und beide finden ineinander Geborgenheit. Hast Du denn nie einen Mann geliebt? ... Eine Gottheit", fügte er eilig hinzu.

 

Für den ersten Augenblick war ich perplex. Eine derart offene Frage einer Göttin gegenüber hatte ich von einem Menschen nicht erwartet. Ich schluckte es hinunter - wir waren zu zweit unterwegs und auf Gedeihen und Verderb miteinander verbunden. Ich musste das akzeptieren lernen. Vertrauen zueinander bedeutete auf unserer Reise Stärke. Es war wichtig sich aufeinander verlassen zu können.

"Ich hatte noch mit keinem Mann zu tun", erklärte ich nach einigem Zögern. Ich korrigierte mich hastig: "Eigentlich hatte ich oft mit Männern zu tun".

 

Atmedef war verwirrt. Er konnte mit den zwei gegenteilige Antworten nichts anfangen.

 

"Ich bin als Göttin zugleich auch ein Gruppengeist, das weißt Du ja", erklärte ich ihm. "Als Götterkönigin der Geparden empfinde ich jeden einzelnen Geparden als einen Teil von mir. Das Leben eines jeden Geparden wird von mir als mein eigenes Leben empfunden. Zwar passiv aber durchaus intensiv nehme ich somit am Leben eines jeden einzelnen Geparden teil. Alles, was ein jeder von ihnen erlebt hat, habe auch ich erlebt. Allerdings ist die Liebe der Geparden anders als die Liebe der Menschen. Aber wie Du an unseren zwei Begleitern erkennen kannst, kennen auch Geparden Treue und Liebe. Ich nehme an, sie werden sich diesbezüglich nicht sehr von den Menschen unterscheiden."

 

Ich empfand, dass Atmedef anderer Meinung war. Es war mir überhaupt nicht klar, womit er seine andere Meinung begründete, dennoch aber verunsicherte mich das. Ich wollte nicht, dass er mich in Folge meiner Erklärung bloß als ein Tierkollektiv sehen würde, mit ausschließlich tierischen Erfahrungen und Empfindungen. Es war schwierig einem Menschen einen göttlichen Seinszustand zu erklären. Die Menschen schienen in Extremen zu schwanken. Jedenfalls, um nicht in meinen Empfindungen als Tier, wenngleich als kollektive Tierselle eingestuft zu werden, wollte ich einer solchen Fehleinschätzung schnell zuvor kommen, bevor sie sich in ihm festigte. So beschloss ich meine Wertigkeit ihm gegenüber etwas aufzubessern.

Deshalb fügte ich meinem Gespräch hinzu: "Erschrecke nicht, ich werde für Dich kurz die Gestalt einer Gepardin annehmen, damit Du erkennen kannst, dass ich kein körperliches Wesen bin wie Menschen und Tiere, sondern aus einer himmlischen Sphäre stamme. Ich will damit nicht sagen, dass ich mich besser fühle als Du, aber ich bin anders. Ich bin an keine Gestalt gebunden, auch nicht an eine menschliche. Ja, die menschliche Erscheinung ist mir eher fremd. Ich werde jetzt eine Erscheinung annehmen, die meinem Wesen eher entspricht. Ich mache dies, weil ich es in Worten nicht auszudrücken vermag. Erschrecke nicht."

 

Ich kehrte in meine innerste Seele und hob den Aspekt hervor, den ich von Sachmet geerbt hatte, meinen göttlichen Ursprung, den ich zwar im Alltag leider all zu häufig vergaß, aber mit einiger Konzentration wach rufen konnte. Im Wesen Sachmets verankert, stand ich im nächsten Augenblick als Gepardin vor Atmedef, viel größer als sonst Geparden sind. Das ist ja klar, ich bin ja deren Göttin. Mein Fell strahlte überirdisch in goldenem und silbernen Licht mit kleinen schwarzen Flecken, welche die unergründliche Tiefe des endlosen Nachthimmels erkennen ließen. Gleichzeitig mit meinem Lichterglanz strahlte ich eine zeitlose Erhabenheit aus.

 

 

Ich hob den Aspekt hervor, den ich von Sachmet geerbt hatte, meinen göttlichen Ursprung, den ich im Alltag leider all zu häufig vergaß.

 

Atmedef sank in Ehrfurcht auf die Knie und bewunderte meine Schönheit und Erhabenheit.

 

Nachdem ich wieder Menschengestalt angenommen hatte und Atmedef sich wieder erhoben hatte, schwiegen wir beide.

Atmedef sah mich mit strahlenden, bewundernden Augen an. Ja, ich war in der Gestalt einer Gepardin schön, das wusste ich, aber diese große Begeisterung von Atmedef überraschte mich dennoch. Noch erstaunt über seine Reaktion hörte ich Atmedef zu mir sprechen.

"Meine wunderschöne Göttin, die ganze Umgebung strahlte in Deinem Licht. Nie in meinem Leben habe ich je etwas gesehen, das auch nur würdig gewesen wäre Dein Schatten zu sein."

Einige Augenblicke vergingen, in denen er schwieg, dann sprach er weiter. "Bitte zürne mir nicht, aber ab nun werde ich von Dir als der erhabensten und schönsten Frau träumen. Nie in Zukunft wird sich noch eine Frau mit Dir vergleichen können. Sie werden mir wie Steine neben Dir als strahlendem Juwel erscheinen."

 

Teils überrascht und teils erfreut und vor allem hoch zufrieden nahm ich seine Worte entgegen. Ich antwortete ihm nicht, sondern schenkte ihm ein Lächeln, in welchem er mein Glück und meine Zufriedenheit erkannte. Schweigend gingen wir in harmonischer Eintracht weiter. All meine Verstörung war schlagartig verschwunden und ich war hoch zufrieden und glücklich. Ich dachte nicht mehr über meine vorherigen Probleme nach. Ich war als Göttin und als schön akzeptiert, das genügte mir.

 

Die vierte Sphäre - die Wüste von Rostau

 

Die vierte Sphäre ist eine Wüste. Selbst der große Strom, auf dem die Sonnenbarke durch alle vorherigen Länder fahren konnte, ist hier nicht vorhanden. Damit Re diese Sphäre durchqueren kann, wird seine Sonnenbarke in eine Schlange verwandelt, welche von vier Göttern über den Sand gezogen wird. Durch die Hindernisse hierbei kann kein gerader Weg genommen werden und es geht auf einer Zick-zack-Route über die Wüste.  Zudem ist es hier finster, doch Uräusschlangen (Feuerschlangen) erhellen Re den Weg.

 

 

 

Als wir uns dem vierten Tor näherten erkannten wir es nicht gleich. Vor uns lag nämlich eine freie Fläche. Nirgends war eine Mauer, eine Felswand oder ein Gewässer, was irgendwie auf eine Grenze hindeuten hätte können. Erst als wir nahe davor waren erkannten wir an zwei Säulen, von denen eine zerbrochen war, dass es sich hier eventuell um ein Tor handeln müsse. Vor den Säulen saß ein Hund. Das bekräftigte die Vermutung.

 

 

Der Hund als Wächter ist eine dichterische Freiheit (wie fast alles im Text).

 

Wir ignorierten das Tor und schritten seitlich vorbei, als würde es nicht existieren. Nichts geschah. Gedankenverloren war ich mit Atmedef ein kurzes Stück weiter gegangen, als ich den Blick erhob und sah, wie das Land mit zunehmender Entfernung dunkler wurde. Hierbei erinnerte ich mich, dass mir Mutter Sachmet gesagt hatte, dass diese Sphäre von nächtlicher Finsternis sei, wie auch die folgenden tieferen Sphären. Ich blieb stehen und dachte nach. Da fiel mir ein, dass ich neben dem Hund eine Uräusschlange als Fackel gesehen hatte. Solche feuerspeienden Schlangen würden auch Re den Weg durch diese Sphäre erhellen, so hieß es im Amduat. Kurz entschlossen drehte ich um und ging zurück mir die Fackel zu holen. Atmedef und die zwei Geparden folgten mir. Argwöhnisch beäugte uns der Hund als wir näher kamen. Dann begann er die Zähne zu fletschen und stellte seine Nackenhaare auf. Ich ließ mich davon nicht abhalten, ging zur Fackel und nahm sie mir.

 

Mit einem Aufheulen stürzte sich der Hund auf mich und verbiss sich in dem Arm, in welchem ich die Fackel trug. Ich zückte die Krallen meiner zweiten Hand und versetzte ihm etliche blutige Striemen. Obwohl ich sonst einen menschlichen Körper hatte, liebte ich es, mich im Kampf in eine Gestalt halb Mensch und halb Gepardin zu verwandeln.

 

 

Er war uns unterlegen und musste uns die Fackel überlassen.

 

Der Wächterhund ließ aufheulend von meinem Arm los und wollte mir an die Kehle. Doch meine zwei Geparden waren schneller und verbissen sich in ihn und versuchten ihrerseits an seine Kehle ran zu kommen. Übrigens eine gewohnte Jagdgepflogenheit von Geparden, die ihre Beute an der Kehle fassen und sie ersticken. Schon wälzten sich alle drei am Boden, als Atmedef dem Hund den Speer in den Leib bohrte. Vor Schmerz heulte der Wächterhund auf, riss sich von den zwei Geparden los und stürzte sich auf Atmedef. Atmedef blieb ruhig stehen und versetzte ihm mit der Faust einen schweren Schlag auf die Schnauze. Wie ein Stück Holz fiel der Hund rücklings zur Seite und rührte sich nicht mehr. Er war vom Schlag betäubt. Es gefiel mir mit welcher Ruhe Atmedef den Hund herbeikommen ließ und ihn gezielt bewusstlos schlug. Atmedef war ein großartiger Krieger hatte ich jetzt erkannt. Seine Art gefiel mir.

 

Zufrieden begaben wir uns wieder auf den Weg, mit der Uräusschlange als Siegestrophäe.

 

Als wir außer Sichtweite des Hundes waren, hielten wir an und ich untersuchte meine zwei Geparden, ob sie verletzt wären. Ich war gerührt, dass sie ihre vertraute Welt meinetwegen verlassen hatten. Die hinter uns liegende Sphäre hatte noch eher der gewohnten Umgebung dieser Steppentiere entsprochen. Hier aber in Rostau war nur noch finstere Wüste. Dennoch wichen sie nicht von mir. Tränen der Liebe rollten über meine Wangen als ich sie umarmte und liebkoste. Kurz überlegte ich, ob ich sie nicht zurück schicken sollte. Aber ich fühlte, dass sich meine Gepardenkinder dadurch abgelehnt gefühlt hätten.

 

Wir suchten uns einen Rastplatz und machten es uns bequem. Atmedef riss einen Streifen von seiner Kleidung ab und verband mir damit die Bisswunde, die für ihn gefährlich tief aussah. Es gefiel mir wie er sich Sorgen um mich machte, weil es mir zeigte wie viel ich ihm bedeutete. Ich dankte innerlich Sachmet, dass sie mir diesen Gefährten mitgegeben hatte.

Ich beruhigte Atmedef und erklärte ihm, dass er sich meinetwegen nicht beunruhigen möge, denn meine Wunden würden schnell heilen.

Nach einigem Zögern sprach er fast flüsternd zu mir: "Es mag sein, dass Dich die Wunde nicht schmerzt, aber mich schmerzt sie. Ich kann Dich nicht verletzt sehen, das schnürt mir das Herz zusammen."

Obwohl ich wusste, dass er mich verehrte und liebte, war ich doch verwundert solches von einem Krieger zu hören.

Anschließend nahm ich eine innere Verbindung zu Mutter Sachmet auf und erzählte ihr die Ereignisse unseres Weges.

 

Die zunächst schwache Dämmerung nahm auf dem weiteren Weg zu und bald wurde es nachtschwarz um uns. Nun leistete uns die feuerspeiende Uräusschlange als Fackel gute Dienste. Die Uräusschlange fühlte meinen göttlichen Ursprung und verhielt sich zahm.

 

 

Die Uräusschlange gehört zur Gattung der Kobras und wird auch Speikobra genannt. Die Speikobra bespuckt gezielt die Gegner mit einer auf der Haut brennenden Substanz. Deshalb die Legende im Amduat von den Feuerschlangen, welche mit ihrem Feuer gleich einer Fackel die Nacht erhellen.

 

Da ich meine Arme frei haben wollte, legte ich die Feuerschlange um meinen Kopf. Der Kopf der Feuerschlange richtete sich an meiner Stirn nach vorn und ich sah aus wie eine Pharaonin.

 

Auf unserem weiteren Weg blickte Atmedef immer wieder verstohlen zu mir. Meine Verwandlung in ein Wesen halb Mensch und halb Gepardin hatte ihn beeindruckt. Es war das zweite mal dass er mich in einer Gestaltverwandlung gesehen hatte. Das erste mal hatte er meine Schönheit bewundert. Nun aber hatte er erkannt, dass mir dies auch zu großer Stärke verhelfen konnte. Ab nun war ich für ihn nicht nur eine bewundernswert schöne Göttin, sondern ich war für ihn auch eine Magierin und Kriegerin. Ich muss zugeben, seine gesteigerte Hochschätzung gefiel mir und war die Bisswunde wert.

 

Als wir weiter gewandert waren, dankte ich ihm nochmals für die Hilfe.

Er sah mich erstaunt an, als würde er es als absurd betrachten mir nicht zu helfen.

Aus einem unerfindlichen Grund verwirrte mich das. Um dies nicht zu zeigen sprach ich weiter: "Natürlich ist ein Kampf für einen Krieger oder eine Kriegerin immer schön. Sicher hätte ich den Hund auch auf andere, weniger riskante Art besiegen können, aber so gefiel es mir, weil es eher einem fairen Kampf entsprach."

Wieder sah er mich erstaunt an. "Ich habe Kämpfe immer gemieden."

"Merkwürdig", entgegnete ich verwundert.

"Als junger Krieger ließ ich mich gelegentlich in Händel ein", setzte er fort. "Später war ich der Leibwächter eines Priesters. Der Priester war sehr gut zu mir und lehrte mich vieles. Unter anderem lehrte er mich, dass ich zu seinem Schutz da sei, einzig zu seinem Schutz und ich mich nicht beweisen müsse. Er glaube an meine Tapferkeit und schätze mich und das müsse mir genügen. Durch unnötige Auseinandersetzungen würde ich Verletzungen riskieren und damit meine Funktion als sein Beschützer schwächen."

"Nun ja", entgegnete ich, "er hat Dir vertraut, sich an Dich gewöhnt und wollte nicht einen neuen Leibwächter suchen müssen, wenn Du verletzt oder tot wärest."

"Ich glaube nicht, dass es das war", entgegnete Atmedef. "Er hatte mehrere Leibwächter, wenngleich ich nicht ohne Freude und Stolz sagen muss, dass er mich bevorzugte und mich auch in seinem Heim an seiner Seite haben wollte, dort wo keine Gefahren drohten. Er liebte mich wie einen Sohn und gab mir vieles von seinem Wissen weiter. So lernte ich, dass auch er ein Krieger wäre, ein Krieger, der nicht mit Waffen, sondern mit magischen Mitteln kämpfte. Ein magischer Krieger müsse während des Kampfes frei von Emotionen sein. Wut und Zorn seien unter allen Umständen zu meiden. Statt dessen müsse er innerlich still werden. Als wäre man in der Ewigkeit eingebettet, jenseits der Zeit. Aus dieser Stille gewinnt man Kraft, eine unglaublich starke Kraft. Er hat mich gelehrt in diese Kraft einzutauchen. Ich wurde dadurch zu einem Krieger anderer Art als es meine früheren Gefährten waren."

 

Ich besann mich. "Ja, diese Stille kenne ich. Alle meine Kinder kennen diese Stille wenn sie sich an die Beute heranschleichen. Es stimmt, es liegt sehr viel Kraft darin. Die Kraft mehrt sich und öffnet sich dann mit Gewalt wenn die Beute angesprungen wird. Aus dieser Kraft heraus entsteht die Schnelligkeit der Geparden."

 

"Ja", sagte er, "das glaube ich" und er war glücklich, dass er von mir verstanden wurde.

 

Schweigend gingen wir weiter.

Der Weg durch die Wüste war monoton und schien endlos zu sein. Zum Glück konnten wir in der Unterwelt ohne zu essen leben. Wohl hatten wir in Wernes bei den Festen, welche die Menschen uns zu Ehren gaben, viel gegessen. Das gab uns zusätzliche Kraft hatte ich festgestellt. Aber wenn es sein musste, kamen wir eben auch ohne Nahrung aus. Insofern unterschied sich die Unterwelt von der irdischen Welt.

 

Von Zeit zu Zeit sah man das Leuchten einer Feuerschlange, die mit dem Kopf aus dem Sand sah, aufgescheucht durch die Erschütterung unserer Schritte. Auch sah man gelegentlich ein Tier im aufgehellten Feld der Fackel gleich einem Schatten über den Sand davon huschen.

 

Der Weg wurde steiniger. Das war ein Anzeichen hierfür, dass wir uns dem Felsplateau von Rostau näherten. In der Dämmerung ließ uns das Geröll gelegentlich stolpern und machte den Weg beschwerlicher. Wir sehnten uns nach ebenem Boden. Dann wurde unser Marsch leichter als wir in eine Mulde gelangten, in die es Sand geweht hatte. Jedoch unsere Freude darüber war nur von kurzer Dauer, denn bald mussten wir etliche Dünen auf und ab klettern und rutschten oder versanken bis zu den Knöcheln im Sand, was ermüdend war.

 

Wieder hatten wir eine Sanddüne erklommen und gingen den Kamm entlang, als Atmedef und ich ins Rutschen kamen. Zu unserem Erstaunen endete die unfreiwillige  Abwärtsreise vor zwei steinernen Köpfen. Ein Stück weiter sahen wir unten in der Sandmulde einen zum Teil verschütteten Eingang zu einem Felsentempel.

 

Wir waren beide neugierig und gingen und rutschten zum Eingang weiter. Meine zwei Geparden taten es uns nach.

 

Ich freute mich als ich über dem Eingang ein steinernes Abbild von Mutter Sachmet sah. Ihr Bildnis galt als Schutz  des Tempels. Ihre Statue stand in einer Nische und war besser erhalten als der Rest. So wie die Außenfassade aussah mit den teils verfallenen Figuren und dem halb verschütteten Zugang war der Tempel seit langen Zeiten verlassen und vergessen. Ungeachtet dessen gingen wir auf den Eingang zu. Wir waren neugierig welcher Gottheit diese Ruine einmal gewidmet war.

Wir betraten den Eingang, der an einen finsteren Stollen erinnerte. Als wir einige Schritte hinein gegangen waren, sahen wir zu unserem Erstaunen in einem Seitengang einen schwachen Lichtschein. Neugierig gingen wir darauf zu. Wir gelangten in einen Altarraum mit einer Statue von Osiris, vor der einige Öllichter brannten.

 

Atmedef blieb vor der Statue stehen, während ich mich im Tempel umsah. Da ging knarrend eine Holztüre auf und drei Priester kamen in den Raum. Als sie Atmedef mit dem Speer sahen verdüsterten sich ihre Minen. Einer von ihnen entfernte sich sofort, offenbar um die Tempelwache zu rufen. Es war klar, sie vermuteten in Atmedef einen Räuber. Ich stand zufällig im Schatten der Osirisstatue und wurde von ihnen nicht gesehen. Als die zwei verbliebenen Priester als nächstes einen meiner zwei Geparden sahen, wie er aus dem Schatten heraus kam und sich in Angriffstellung duckte, wichen sie einen Schritt zurück.

 

 

Einer meiner Geparden in Angriffstellung

 

Gleich darauf kam der zweite Gepard aus dem Schatten heraus und ging ebenfalls in Angriffstellung. Die zwei Priester waren verängstigt und fühlten sich hilflos. Die Geparden bewegten sich nicht weiter und blieben in ihrer Sprunghaltung. Atmedef, den sie als erstes gesehen hatten, blieb ebenfalls abwartend stehen, auf seine Waffe gestützt, als wäre sie ein Wanderstock. Er wollte mir nicht vorgreifen und da die Situation keine Handlung erzwang, blieb er ruhig stehen. Das war gut so. Kurz darauf kamen drei bewaffnete Tempeldiener forsch die Türe herein. Ihr Elan schwand, als sie die Geparden sahen.

 

Ich verwandelte mich in eine Gestalt ähnlich jener meiner Mutter Sachmet, mit menschlicher Gestalt und dem Kopf einer Gepardin und einem leuchtendem Sonnendiadem auf meiner Stirne. Sodann trat ich aus dem Schatten der Nische, in welcher ich gerade gestanden hatte und deshalb von den Priestern nicht gesehen worden war. Mit großen durchdringenden Augen sah ich die Tempelangehörigen an.

 

 

Ich verwandelte mich in eine Gestalt mit dem Kopf einer Gepardin

 

Die zwei Priester und die Tempeldiener starrten mich an. Furcht und Verwirrung mischten sich. Dann warfen sie sich vor mir auf den Boden. Sie vermuteten in mir eine Heerführerin der großen Göttin Sachmet, der mächtigen Kriegerin und Zerstörerin und zugleich Hauptgöttin dieses Gebietes. In Atmedef und den zwei Geparden sahen sie nunmehr drei der gefürchteten Dämonenkrieger.

 

Nach einiger Zeit als nichts geschah wagte es der ältere Priester aufzublicken. Sicherheitshalber sprach er mich mit einem höheren Titel an als mit einem den er mir innerlich zumaß. Er sagte: "Zorniges Auge des Re, mächtige Göttin, welche erzittern lässt, bitte blicke gnädig auf Deine Diener".

 

"Ich grüße Euch", sprach ich und gebot ihnen aufzustehen. "Ich bin Sachmets Tochter und nicht Sachmet selbst." Damit gab ich auch zu erkennen, dass ich mehr als eine Heerführerin von Sachmet war und in einer familiären Beziehung zu ihr stand.

Die zwei Priester und die Tempeldiener verneigten sich und warteten wortlos auf weitere Erklärungen oder Weisungen.

 

"Wir möchten hier rasten und das Heiligtum besichtigen", sagte ich zu ihnen. Letzteres fügte ich hinzu, um ihnen den Hinweis zu geben, dass wir nicht nur Bittsteller um Rast wären, sondern auch Befugte, um Ordnung und Dienst zu kontrollieren. Auch das entsprach den Tatsachen, denn meine Mutter galt in der Hoheitsbezeichnung "Sachmet-wasit", als die Herrscherin über die westliche Wüste Rostau, in welcher wir uns hier befanden. Sachmet-Wasit heißt: Sachmet mit dem Wasit-Herrscherstab.

 

Die Priester verstanden den versteckten Hinweis, der sich hinter den Worten "Heiligtum besichtigen" verbarg.

Der älteste von den Priestern befleißigte sich sofort zu sagen: "Erhabene Göttin, wir tun unser Bestes, bitte sei nicht erzürnt, dass der Tempel von außen halb verfallen erscheint. Wir haben keine Hilfe von Baumeistern und der Wind bläst den Sand schneller zu als wir ihn wegräumen können."

Ich nickte ihm zu und sagte ihm, dass ich hierfür Verständnis hätte. Man sah beiden Priestern die Erleichterung an.

 

Sie baten uns sie zum Oberpriester zu begleiten. Dieser jedoch kam uns schon auf halbem Weg mit Verstärkung wegen dem Räuber-Alarm entgegen. Als er uns ansichtig wurde, war er überrascht über die veränderte Situation, kniete nieder und neigte sein Haupt. Ich stellte mich abermals vor und bat einmal kurz durch das Heiligtum geführt zu werden, damit ich mir von diesem ein Bild machen könne. Der Oberpriester dankte für die Aufmerksamkeit, die ich seinem Tempel schenken würde. Er gab einigen der begleitenden Priestern noch einige Anordnungen, worauf sie sich eilig entfernten. Auch das restliche Personal entfernte sich bis auf zwei Priester, die er anscheinend als Botengänger bei sich behalten wollte.

Wir begannen unseren Rundgang, in welchem uns die offiziellen Räume gezeigt wurden, während Unterkünfte, Küche etc. ausgespart wurden. Da ich wortlos die Räume abschritt, nirgends verweilte und alles schweigend zur Kenntnis nahm, war der Rundgang durch die Tempelanlage bald beendet.

Anschließend lud uns der Oberpriester zum Essen ein. Er hoffte, dass bei einem guten Mahl eventuelle Beanstandungen milder ausfallen würden. Er führte uns zu einem wohnlichen, von vielen Fackeln erhelltem Raum.  Es waren dort etliche Priester versammelt. Bei unserm Kommen knieten sie nieder und verneigten sich. Ich ließ sie sich wieder erheben.

 

Der Oberpriester wies mir einen Ehrenplatz zu. Es war ein breiter, schön geschnitzter Holzstuhl, der fast wie ein Thron aussah. Über die Sitzfläche war ein Ziegenfell gelegt. Die Priester entschuldigte sich, dass er keine bessere und für mich würdige Sitzgelegenheit anbieten könne. Ich verstand es als Höflichkeitsgeste.

 

Am Seitenteil des Raumes war ein Platz für Atmedef und zwei Felle als Liegestatt für die Geparden hergerichtet. Die Priester setzten sich mir auf dem Boden gegenüber.

"Dieser Krieger ist nicht mein Diener, sondern mein Begleiter", sagte ich. "Sein Sitz soll an meiner Seite sein."

Sofort legten sie den für Atmedef bestimmten Sitzpolster zu meiner Seite hin. Atmedef war etwas erstaunt ob der Ehre und dankte mir innerlich. Nach außen zeigte er keine Regung und tat als wäre dies selbstverständlich. Ich freute mich über das diplomatische Geschick von Atmedef. Ich hatte schon in Wernes den Eindruck gewonnen, dass er Situationen schnell durchschaute und in richtiger Weise mit spielte. Er hatte in seinem Leben als Begleiter des Priesters mehr gelernt als seine Kampfkunst zu verbessern, stellte ich zufrieden fest.

 

Ich nahm wieder meine menschliche Gestalt an. Um den Kopf hatte ich nun kein Sonnendiadem mehr, sondern wieder die Uräusschlange. Die Priester betrachteten meine Verwandlung mit ehrfürchtigem Staunen.

 

 

Die Uräusschlange trug ich bereits auf unserer Wanderung durch die Wüste auf dem Kopf. Das war bequemer als sie in der Hand zu halten.

 

Zwei Priester brachten reichlich Speisen und Getränke. Die zwei Geparden bekamen eine gehäutete Ziege. Darüber freute ich mich besonders. Ein großer Krug Rotwein wurde zu mir gestellt, ein kleinerer zu Atmedef und weitere zu den Priestern selbst. Es erheiterte mich. Lachend hob ich den Krug und rief: "Möge ich betrunken werden, auf dass die Menschheit vor der Vernichtung bewahrt bleibe."

 

Alle lachten. Ein jüngerer Osirispriester blickte verständnislos und wusste nicht worum es ging. Da bat mich ein älterer Priester um die Erlaubnis dem Priesteranwärter die Geschichte von Sachmet und dem Rotwein erzählen zu dürfen. Ich nickte ihm heiter zu.

 

Der Priester begann die Überlieferung zu erzählen:

"Nach einem Mythos sollte Sachmet als Auge des Sonnengottes Re die Menschen bestrafen, die sich gegen Re erhoben hatten. Sachmet verschlang in ihrem Zorn so viele Menschen, dass Re befürchtete, sie werde noch alle töten. Zudem verbrannte sie mit ihrer Zornesglut das Land. Er ließ Sachmet zurück zur Sonnenbarke rufen, doch Sachmet blieb auf der Erde, um weiterhin die Menschen und das Land zu vernichten.

Da griff Re zu einer List: Er ließ ihr mit sehr viel Rotwein vermischtes Blut geben. Sachmet trank es gierig. Betrunken kehrt sie zu Re zurück und fand in seiner Nähe wieder ihre innere Ruhe."

 

Nach der Erzählung hob der Priester den Becher mit Rotwein und prostete mir mit den Worten zu: "Möge die Tochter Sachmets durch den Rotwein besänftigt werden."

 

Wir waren gerade in heiterer Stimmung, als sich die Türe öffnete und drei fremde Priester herein kamen in Begleitung eines Osirispriesters. Sie knieten nieder und verneigten sich und stellten sich als Priester eines nahe gelegenen Sachmet Heiligtums vor. Ich war erstaunt, dass es in der verlassenen Gegend hier nahe bei   ein Sachmet-Heiligtum geben würde. Auf unserem Marsch durch die Einöde war weit und breit weder ein Haus noch ein Tempel zu sehen. Aber dieses überraschende Faktum herauszufinden hatte Zeit und ich konnte das später erfragen.

 

Während dem Essen kam ich meiner Verpflichtung als Gast nach und erzählte den Priestern einiges über die Sonnenbarke und über die Götter dort. Zum Sinn unserer Wanderungen im Duat erklärte ich ihnen: "Re hat Interesse und Fürsorge für alle Bewohner des Duat und nicht lediglich für jene, denen er auf seinem Hauptweg mit der Sonnenbarke begegnet. Aus diesem Grund schickt er einige Botengänger auf verschiedenen Wegen über das Land, damit sie ihm auch über versteckte und entlegene Bereiche Bericht erstatten können." Das entsprach der Wirklichkeit, wenngleich der Sinn unserer Reise vielfältiger war.

 

Ich beendete meine Episode über die Sonnenbarke, aufgebessert durch einige unverfängliche Geschichten über einzelne Götter und bat dann laut Atmedef: "Bitte erzähle ein wenig von unserer Reise, damit ich nicht hungernd vor den Köstlichkeiten sitzen und reden muss, während sich alle von mir unterhalten lassen".

"Gerne, erhabene Göttin". Atmedef sprach mich formell an, wie es die Umstände hier erforderten.

Er begann seine Erzählung mit dem schönen Boot, das wir von Sachmet erhalten hatten. Er begnügte sich nicht mit einem bunt bemalten Holzboot, sondern versah es noch mit Einlegearbeiten aus Elfenbein, Gold und Lapislazuli. Es hätte nicht viel gefehlt und es wäre aus Gold gewesen. Aber eine solche Übertreibung hätte man all zu leicht durchschaut, da ein solches Boot untergegangen wäre.

Ich wollte mich eigentlich dem Genuss des Essens widmen und hatte meine ersten Bissen mit entspannter Hingabe konsumiert. Nach der Beschreibung des Bootes jedoch war ich allarmiert und konnte mich ab da dem Essen nur mit halber Hingabe widmen. Schon bereute ich, dass ich Atmedef gebeten hatte über die Reise zu berichten.

Die weiteren Worte Atmedefs waren für mich keineswegs beruhigend, sondern erhöhten mein Erstaunen und die Furcht, dass wir durch seine Übertreibungen zu Hochstaplern degradiert werden könnten. Er berichtete, dass er hinter mir im Boot saß. Das war noch in Ordnung. Dann setzte er die Erzählung damit fort, dass ich als Göttin derartig viel Kraft besaß, dass er sich das Rudern ersparen konnte und ich es nicht einmal merkte.

Ich ruckte empört hoch.

Er erlaubte mir keine Zeit für eine Rüge, die auch schwer möglich gewesen wäre. Er entschuldigte sich kurz für den Betrug beim Bootfahren und schon setzte er seine Erzählung fort. Während die Priester fasziniert seinen Worten lauschten und hin und wieder einen verstohlenen und bewundernden Blick zu mir warfen. Scheinbar nach außen widmete ich mich dem Essen, in Wirklichkeit jedoch war ich auf das Höchste beunruhigt.

 

In der weiteren Erzählung erwähnte Atmedef so nebenbei, wie sich uns ein ganzes Rudel Geparden angeschlossen hatte. Unseren Triumphzug von einem Dorf zum anderen musste er nicht ausschmücken, denn die Realität war tatsächlich kaum zu überbieten.

 

Dann erzählte er meine Erscheinung als kosmische Gepardin und wie meine Erscheinung derart überwältigend war, dass er seine eigene Existenz vergaß und sich im Funkeln der Sterne und dem Licht des Mondes verlor. Das entsprach durchaus den Tatsachen, doch hatte ich das Gefühl, dass sein dichterischer Eifer noch einiges hinzufügen wollte. Deshalb unterbrach ich mein Essen und sprach ihn an mit dem Ersuchen über diese Schau nicht weiter zu erzählen. Wenn ein paar Geheimnisse den Priestern vorenthalten bleiben würden, so wäre dies nur günstig, dachte ich. Laut entschuldigte sich Atmedef und bedauerte gegenüber den Priestern, dass ihm verboten wurde über den Höhepunkt seines Lebens zu erzählen. Man hörte lautes, enttäuschtes Seufzen. Dieses Schlitzohr bauschte in seiner Scheinentschuldigung mein märchenhaftes Wesen noch weiter auf. Ich begann mich beinahe hilflos einer schwer kontrollierbaren Situation ausgeliefert zu fühlen. Aber diesen Märchenerzähler konnte ich nicht einbremsen, ohne die Hörerschaft, die ihre Tage in Routine und Langeweile lebte, um diese für sie einmalige Sensation und Abwechslung zu bringen.

Die Erzählung ging weiter mit einigen kleinen Abenteuern, die in ihrer Dramatisierung selbst mich überraschten und in den Bann zogen. Beinahe hatte ich darüber vergessen, dass er über mich erzählte. Ich glaube, ich war allmählich von seinen bilderreichen Erzählungen genauso fasziniert wie die Priester und ich vergaß darüber die Früchte und den Rotwein zu genießen. Natürlich erzählte er auch die Episode vom Torwächter in Gestalt eines Hundes, so groß wie ein Stier. Nur erstarrte dieser vor Schreck, als ich mich zu einem Wesen halb Mensch und halb Gepardin verwandelt hatte, jedoch in einer Größe, dass er neben mir klein erschien. Da der Hund in seiner Schreckstarre den Weg nicht frei gab, ließ er ihn einfach mit einem Prankenschlag von mir fortwischen. Er selbst, Atmedef, hatte vor meiner übermächtigen Erscheinung eine derartige Furcht bekommen, dass ich in seiner Schilderung noch eine geraume Strecke während unserer Wanderung auf ihn besänftigend einwirken musste, bis sich sein Zittern verlor.

Dies alles erzählte er derart überzeugend und bilderreich, dass ich mich ebenfalls wie die Priester in der Geschichte verlor und in der Vorstellung alles plastisch erlebte.

 

Nach dem Ende der Erzählung merkte ich, dass mich die Priester gleich Kindern ansahen und ihre Augen geradezu bettelten, dass ich ihnen eines meiner Wunder zeigen möge.

Strafend blickte ich zu Atmedef und er erkannte die Rüge ob seiner Übertreibungen. Da er wusste, dass ich seine Gedanken lesen konnte, erklärte er mir mental, dass seine Erzählung vielleicht nicht so ganz der äußeren Realität entsprochen hätte, wohl aber dem wie er mich empfinde und wie er mich in seiner Erinnerung in sich trage. Ich möge bitte nicht sein inneres Bild von mir zerstören, das ihm so viel bedeute. Amüsiert dachte ich: diesen Schalk mit seinen Ausreden kann man nicht einmal zurechtweisen.

 

Nun, was sollte es, die Priester bettelten um eine Darbietung und ich wollte sie ihnen nicht verweigern. Ja, ich fühlte mich hierzu sogar verpflichtet, einerseits um Atmedef nicht bloßzustellen und andererseits, um die kindhaften Wünsche der Priester zu erfüllen. Ein wenig wollte ich jedoch Atmedef für seine falschen Darstellungen bestrafen und zappeln lassen.

So beugte ich mich zu Atmedef und wisperte ihm in schalkhafter Vorfreude ins Ohr:

"Du weißt doch, Atmedef, dass magisches Feuer von innen kommt und nach außen gerichtet werden kann. Seinen Sitz hat es im Bauch, wie Du sicher weißt." Atmedef wusste gar nichts und ahnte schon Schlechtes. "Zeige doch den Priestern, dass der Diener einer derart großen Göttin, um ihrer würdig zu sein, selbst auch über Kräfte verfügt."

Atmedef wisperte zurück: "Ich verfüge über Wortkraft und nicht über eine Kraft des Feuers."

"Ach ja? Dann mache es halt mit Deiner Wortkraft!"

Atmedef fühlte sich sehr unwohl und bettelte mich in Gedanken um Gnade an. Ich tat als würde ich seine Gedanken nicht wahrnehmen und machte eine weite Handbewegung in Richtung der Wand-Fackeln und löschte eine Reihe aus. Der Raum wurde halbdunkel, was die Spannung unter den Priestern ungemein erhöhte.

Dann sprach ich zum Forum der Priester: "Dieser mein Diener wird die Fackeln mit seiner geistigen Kraft wieder anzünden." Ich wendete ich mich zu Atmedef und sagte laut: "Zünde die Fackeln an".

 

Ich fühlte die Verzweiflung in Atmedef. Ich ließ ihn einige Augenblicke in diesem Zustand braten, dann neigte ich mich zu ihm und flüsterte: "Wenn Du mir vertraust, werde ich Dir helfen. Du hast gelernt, dass entwickelte Magie nicht in Zaubersprüchen besteht, sondern in gelenkter innerer Kraft. Du wirst durch meine Übertragung den magischen Akt durchführen. Fühle das innere Feuer im Bauchraum, lenke es in Deine Stirne und lasse es aus Stirne und den Augen zu einer ausgelöschten Fackel fließen. Dann bringe solcherart eine Fackel nach der anderen zum Brennen."

 

Atmedef schaute mich ungläubig an. Ich lächelte ihm aufmunternd zu und legte unauffällig eine Hand auf seinen Rücken und ließ meine Energie in seinen Bauch strömen.

"Fühlst Du die Hitze in Deinem Bauch?"

Atmedef nickte.

"Halte sie", flüsterte ich: " zieh die Kraft hoch, blicke auf die Fackel und lasse die Kraft dort hin strömen."

Ich tauchte mit meinem Lichtkörper (Akhu oder Ach) in seinen Körper ein, verschmolz mit ihm, ließ die Energien hoch strömen und leitete sie aus den Augen heraus zur ersten Fackel, die sofort Feuer fing und neuerlich ihr Licht spendete. Atmedef blickte zur nächsten Fackel und hier vollzog sich das Schauspiel wieder.

Als alle Fackeln brannten, fragte ich Atmedef wispernd, ob er zufrieden sei. Er nickte, meinte aber, dass sein anfänglicher Schrecken durch keine noch so große Zufriedenheit kompensiert werden konnte. Wir lachten beide darüber.

 

Die Priester hatten alles fasziniert beobachtet. Sie hatten ihre gewünschte Demonstration und projizierten Wunder in mich hinein, die gewaltig sein mussten, wenn mein Diener bereits so beeindruckend war. Sie fanden hierdurch die Erzählungen Atmedefs bestätigt. Es war für sie wunderbar eine solch mächtige Göttin als Gast zu haben. Sicher würden sie die Geschichten Atmedefs anderen weiter erzählen und noch ihr Schärflein an Fantasie hinzu fügen. Ich wagte nicht daran zu denken, was dabei heraus kommen würde und beruhigte mich damit, dass ich bis dahin schon weit weg wäre.

 

Die Priester waren in ausgelassener Stimmung. Man sah ihnen die Freude an.

 

Irgendwie schaffte es einer der Sachmetpriester mit Rotwein und seiner Speiseschüssel nahe genug an mich heran zu rutschen, um die Möglichkeit zu haben mich anzusprechen. Eifrig begann er: Er und seine zwei Gefährten kämen aus einem Sachmet-Heiligtum  ganz in der Nähe. Er bat mich ihren Tempel zu besuchen und alle drei würden darauf brennen mich den anderen Priestern ihres Tempels vorzustellen. Er schilderte mir in ausgeschmückten Worten den Tempel. Ich hörte, dass der Tempel unterirdisch und von großer Schönheit sei. Ohne Zweifel würde er der Ehre von Sachmet-wasit gerecht werden. Natürlich musste ich unseren Besuch zusagen, aber das tat ich gerne, denn ich war höchst neugierig diesen Tempel zu sehen.

Der Priester freute sich und nickte den anderen Priestern zu, die in einiger Entfernung saßen und unentwegt zu uns schauten. Natürlich konnten sie bei dem Gemurmel im Saal unmöglich auch nur ein Wort verstehen, jedoch verstanden sie die Geste und ihre Gesichter strahlten glücklich auf.

Der Priester bedankte sich überschwänglich, berichteten mir über die Treue der Sachmet-Priester dort, und welches Glück ihnen mein Besuch bereiten würde. Ich las ihm ab, dass er alles voll Überzeugung sagte.

Er versprach in meiner Nähe zu bleiben, um mich wann immer ich wolle zum Heiligtum zu geleiten. Er bat mich die zwei anderen fortschicken zu dürfen, damit in ihrem Heimattempel alle Vorkehrungen für mein Kommen getroffen werden könnten.

 

Er winkte die zwei herbei. Sie kamen herbei und knieten sich vor mir nieder und verbeugten sich. Der Priester erteilte ihnen die Order. Schweren Herzens verabschiedeten sie sich. Es tat ihnen Leid den Rest des Festes zu versäumen, jetzt, wo es immer fröhlicher und entspannter wurde.

Das Fest ging weiter. Die Osirispriester wurden redselig und lachten und das Mahl dehnte sich immer länger aus. Der Rotwein wurde oftmals in großen Krügen nachgebracht. Wie es den Anschein hatte,  war der Vorratskeller größer als die Standfestigkeit der ganzen Gesellschaft. Bald lagen etliche herum, nicht von Sachmet niedergestreckt, sondern vom Rotwein.

 

Ich war mit allem sehr zufrieden. Es gefiel mir, dass alle glücklich waren und in ihrem sonst monotonen Leben durch unseren Besuch ein wenig Abwechslung und Sensation aufkam.

 

Nach dem Mahl ruhten wir aus und ich streichelte meine zwei Geparden, die sich eng an mich geschmiegt hatten. Wir ließen uns Zeit. Das war auch ein Gebot der Höflichkeit. Ich musste den Osirispriestern Zeit geben ihren Rausch auszuschlafen. Auch die Sachmet-Priester sollten in aller Ruhe ihre Vorbereitungen treffen können.

 

Da wir unter uns waren und niemand mit hörte, sagte ich zu Atmedef: "Die Sachmetpriester werden, nachdem sie uns ihren Tempel gezeigt haben, ebenfalls ein Fest geben und in gleicher Weise wie hier Erzählungen über unsere Reise hören wollen. Das bringt mich in große Schwierigkeiten. Dir die Erzählung zu überlassen wäre verantwortungslos. Andererseits kann ich nicht über unsere Reise berichten, denn ich bin ein wahrheitsliebender Mensch und meine Erzählung würde dann nicht mit der Deinen übereinstimmen. Zudem werden höchst wahrscheinlich auch etliche Osirispriester dabei sein, denn die Priester dieser zwei Tempel sind befreundet. Was soll ich nur tun?" Mit vorgetäuscht verzweifelter Miene sah ich zu Atmedef.

 

Atmedef täuschte ein ernstes und verständnisvolles Gesicht vor: "Ich habe mir alle Details meiner dichterischen Ausschmückungen gemerkt und werde sie in gleicher Weise wieder bringen. Es wird keine Widersprüche geben."

Gespielt seufzte ich erleichtert auf.

Atmedef liebte solche Spiele. Deshalb fügte er noch geheimnisvoll hinzu: "Allerdings, ist die Begeisterung, die ich vermittle, genau so wichtig wie der Inhalt oder vielleicht sogar noch wichtiger. Ich kann mich bei leeren Wiederholungen nicht voll hinein steigern. Einiges Neue muss schon hinzu kommen, sonst würde ich mich während der Erzählung langweilen und ebenso jene Priester, welche die erste Erzählung bereits gehört hatten.

"Entsetzlich", rief ich und hielt mir verzweifelt den Kopf.

Atmedef kicherte.

 

Wie erwartet kam der Oberpriester des Sachmet-Heiligtums, um mich offiziell einzuladen.

Ich war sehr neugierig wie der Tempel aussehen würde und wie viele Priester dort wären. Dann fiel mir ein, dass in diesem Fall auch ein sakraler Teil hinzu kommen würde, was bei den Osirispriestern, die einer anderen Gottheit dienten, nicht nötig war. Bei den Anrufungen und Ritualen zu Ehren Sachmets müsste ich als ihre Botin meinen Teil beitragen. Ich war in diesen Dingen nicht bewandert und fragte mich, ob ich imstande wäre hierfür genügend Improvisationsvermögen aufzubringen.

 

Wir folgten dem Oberpriester zu einem seitlichen Ausgang des Osiristempels und gelangten in einen unterirdischen Gang. Bald verzweigte sich dieser in weitere Gänge mit seitlichen, bebilderten Kammern, Mumiensärgen und Grabbeigaben. Es schien mir ein Labyrinth zu sein, durch das ich allein sicher nie den Weg gefunden hätte. Wir befanden uns in einer unterirdischen Nekropolis, die sich, wie wir bald den Eindruck hatten, endlos verzweigte und ausdehnte.

 

 

Atmedef neben mir staunte über die vielen Grabkammern, die sich aneinander reihten und ein endloses Labyrinth zu bilden schienen. Durch Jahrhunderte wurde eine nach der anderen in den Stein gehauen, wurden die Wände bemalt und die unterschiedlichsten Gottheiten dargestellt. Nein, nicht Jahrhunderte, sondern Jahrtausende oder noch ältere Zeiten hinterließen hier ihre Spuren. Neben jüngeren, bunt bemalten Grabkammern waren halb verfallene, voll Staub und mit Darstellungen von Gottheiten, die kein Mensch mehr kannte. Nur einige wenige Gottheiten waren dort zu sehen, die immer schon durch alle Zeiten existiert hatten, auch wenn sie anders benannt wurden. Unter diesen waren Re, und auch meine Mutter Sachmet-Bastet in beiden Erscheinungsformen.

 

Wir waren eine halbe Stunde unterwegs bis wir das Sachmet-Wasit Heiligtum erreicht hatten. Dort angekommen wurden uns zuerst unsere Wohnräume gezeigt. Mein Zimmer war groß und wohnlich ausgestaltet. Auf einem Tisch lagen neue, sehr schöne Kleider. Sogar Schmuck war dabei. Auch ein warmes Bad war vorbereitet. Ich fühlte mich sehr wohl, badete mich und ließ mir Zeit. Neu eingekleidet und zurecht gerichtet wurden wir zur Haupthalle des Tempels geführt.

Vor der Tempeltüre standen zwei Priester, die sich tief vor mir verneigten und danach dreimal auf einen Gong schlugen. Wir warteten noch kurz, dann öffneten uns die zwei beide Teile der Flügeltüre und baten uns einzutreten.

 

Ich staunte, als ich den Tempelraum vor mir sah. Das Heiligtum war in keiner Weise mit den kleinen Grabkammern vergleichbar und übertraf an Größe und Ausstattung sogar das der Versammlungshalle der Osirispriester. Es war eine unerwartet große Halle mit hohem Deckengewölbe, wunderschönen Säulen an der Seite und Bemalungen von höchster Kunst. Mehr als hundert Priester saßen in mehreren Reihen entlang der Seitenwände des Tempels und verneigten sich bis zum Boden als wir den Raum betraten. Ich erkannte an der Kleidung, dass nicht alle von ihnen Sachmetpriester waren. Unter ihnen sah ich fast alle Osirispriester und erfühlte, dass zusätzlich etliche Priester aus mir unbekannten Tempeln gekommen waren. Blaue Schwaden von Weihrauch erfüllten die Luft. Dann stimmten die Mönche einen Gesang an, während ich zu meinem Ehrenplatz an der Frontseite geführt wurde, unterhalb einer goldenen Sachmetstatue. Atmedef wurde gebeten sich auf den ersten Sitz einer Seitenreihe zu begeben. Meine zwei Geparden folgten mir, eng an mich geschmiegt und blieben bei mir. Auch für sie war ein Platz nahe dem von Atmedef vorbereitet worden, der aber wurde von ihnen und mir ignoriert.

 

Ich saß auf einem vergoldetem Thron mit geschnitzten Löwenbeinen und einer Rückenlehne, in die ein flacher Löwenkopf und in Kopfhöhe eine vergoldete Sonnenscheibe geschnitzt war. Ich fragte mich woher sie diesen Thron aufgetrieben hatten, da sich kein Priester auf einen Thron mit derart hohen Insignien setzen durfte und er somit nie Verwendung finden konnte. Ich machte es mir im Stuhl bequem. Die Priester begannen einen Gesang, der bald wieder endete. Nun folgte eine Lobpreisung auf Sachmet, von einem Einzelsänger vorgesungen. Dann stimmte der Chor der anderen Priester ein und wiederholte die Lobpreisung. Solcher Art dehnte sich das Ritual mit Anrufungen und Lobpreisungen Sachmets in ihren verschiedenen Beinamen aus. Es war eine sehr lange Liste. Einige der bekanntesten Beinamen waren:

die Mächtige, das zornige Auge des Re, die Zauberreiche, die Vielgesichtige, deren Mächtigkeit unter Millionen groß ist, Herrin der westlichen Wüste, die weibliche Sonnenscheibe, Kriegsgöttin, Heerführerin der blutrünstigen Dämonen, die Dunkle, die Botin des Todes, die Gefährliche, die Alte, die Weise, die Wissende, die Magische, die Heilende.

 

Es folgten noch einige Hymnen, die zum Inhalt hatten wie Sachmet in aufopfernder Weise Re und die Schöpfung beschützt.

 

Die Lobeshymnen dauerten eine geraume Zeit. Ich fragte mich, ob die Mönche all die Preisungen vor meinem Kommen noch schnell einstudiert oder geübt hätten. Nicht wenige hatten Papyri in den Händen. Mit all den Vorbereitungen hatten die Sachmet-Priester gewaltig viel zu tun, erkannte ich. Es war gut dass ich mich nicht beeilt und ihnen genügend Zeit gelassen hatte.

 

Als die Lobhymnen zu Ende waren, herrschte Schweigen und alle blickten zu mir. Es war klar, nun war ich an der Reihe. Zunächst war ich ratlos. Ich erhob mich, zum Zeichen, dass ich die Aufforderung verstanden hatte und blieb zunächst schweigend stehen. Innerlich verband ich mich mit meiner Mutter Sachmet und bat sie um Rat. Sie versprach mir, sich mit mir zu verbinden und mir die nötigen Intuitionen zukommen zu lassen.

 

Ich vergaß mich selbst und wurde eins mit Sachmet. Meine menschliche Gestalt erhielt einen Lichtschimmer, wuchs in der Größe und verwandelte sich in die Gestalt Sachmets, allerdings mit einem Gepardenkopf. Erhaben stand ich vor ihnen, groß und mächtig, den größten der Priester sicherlich noch um eine halbe Körperlänge überragend. Alle schienen ihren Atem anzuhalten. Was sie sahen war mehr als sie erwartet hatten.

 

Ich, Sachmet breitete meine Arme aus und füllte die Halle mit einem Laut der etwa, wenn man es überhaupt beschreiben kann, aus einem gleichzeitigem Oooo und einem Rrrr bestand. Vibrationen und Hitze durchfluteten die Körper der Priester und bündelten sich in ihren Herzen in welchen ein Gefühl großer Weite entstand. Es veränderte ihr Bewusstsein und hobe es in kosmische Dimensionen.

 

Der schnurrende OOORRRR Laut wurde wieder leiser und endete in Stille. Ich setzte mich wieder und nachdem alle allmählich aus ihrem enthobenen Zustand zurück gekehrt waren, bat ich den Vorsänger zu singen. Diesmal allein, während die anderen schweigen sollten, um die Gegenwart und den Segen von Sachmet ohne Ablenkung weiter wirken zu lassen.

 

Zuletzt winkte ich den Oberpriester zu mir und fragte ihn, ob noch Rituale vorgesehen wären oder die geheiligte Zusammenkunft beendet wäre. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich ein Ende der Andacht bevorzugen würde. Der Oberpriester ließ noch einen nicht zu langen Gebets-Gesang zu Ehren Sachmets anstimmen und erklärte danach die Sachmet-Andacht als beendet.

Ich nahm wieder meine ursprüngliche Gestalt an. Trotz der vielen Menschen herrschte in der Halle am Ende der Andacht Stille. Alle waren in sich gekehrt und zutiefst beeindruckt. Ich erhob mich und verließ mit dem Oberpriester, Atmedef und den Geparden die Halle, während alle Anwesenden dort sich vor mir verneigten und als ich den Raum verlassen hatte still sitzen blieben.

 

Der Oberpriester unternahm mit mir einen Rundgang durch den Tempel, während in der Zwischenzeit ein großes, gemeinsames Essen vorbereitet wurde. Nach dem Rundgang zogen wir uns in unsere Zimmer zurück und warteten, bis wir zum Essen gerufen wurden.

 

Die Vorbereitungen für das Essen waren abgeschlossen und wir begaben uns in einen großen Speisesaal, vor deren Polstersitzen auf bunt bemalten Tischbrettern sich die erlesensten Speisen türmten.

 

Die Gesichter der Mönche und Priester zeigten Ehrfurcht, Respekt und auch viel Freude über ihren hohen Besuch. So viele Jahre hatten sie vor der Statue Sachmets gebetet, einer Gottheit, die für sie unerreichbar fern war. In diesen jetzigen Augenblicken hatte sich das große Glück ihres Lebens erfüllt. Sachmet war unter ihnen, lebendig, greifbar, sichtbar und strahlend in ihrer göttlichen Kraft. 

 

Das Fest verlief ähnlich jenem der Osirispriester. Nur dauerte es noch länger. Vielleicht deshalb, weil die Priester der Vorsicht halber weniger Rotwein tranken. Atmedef erzählte wieder bilderreich; die Erzählung erschien allen authentisch, weil selbst die unverschämtesten Übertreibungen Atmedefs die vorherigen Erlebnisse der Priester nicht übertreffen konnten.

 

Wir blieben noch lange im Sachmet Heiligtum, denn ich freute mich über die Hingabe der Priester. Deshalb erklärte ich mich bereit, mir für jeden einzelnen von ihnen Zeit zu nehmen. Jeder durfte mit mir Einzelgespräche führen, sein Herz ausschütten und mir Wünsche vortragen. Jeder bekam einen weiteren Segen Sachmets. Ich tat, was ich tun konnte. Es war für mich sehr anstrengend, jedoch erfüllend.

 

Schweren Herzens nahmen wir dann eines Tages Abschied. Atmedef, meine zwei Geparden und ich mussten die Reise fort setzen. Seufzend sagte ich mir, dass wir wohl die schönsten Augenblicke unserer Reise hinter uns gelassen hatten, und uns ab nun Ungewisses erwarten würde.

Ich wollte den Priestern, die ich lieben und schätzen gelernt hatte noch ein Andenken hinterlassen. An einer der Tempelwände war ein Relief von Tefnut und noch Platz für eine Schrift.

 

Ich schrieb:

Sachmet:

Ihr preist mich, die Löwenköpfige mit der Sonnenscheibe,

in der Hoffnung, dass ich Euch vor Feinden schütze,

und Ihr bittet mich Euch von Krankheiten zu heilen.

 

Vergesst nicht, ich bin auch Eure liebevolle Mutter,

ich bin zärtlich und sanft und sehe in Euch meine Kinder.

Wie jede Mutter sehne auch ich mich nach Eurer Liebe.

 

Unter beeindruckender Eskorte traten wir unsere Reise an. Zahlreiche Priester geleiteten uns durch die Gänge der Nekropolis bis knapp vor das Tor zur fünften Sphäre. Dann verabschiedeten wir uns noch einmal. Die Priester ließen es sich nicht nehmen in einer kleinen leeren Halle uns noch ein kleines Fest mit Speise und Trank zu geben, verschönt durch Gesang zu Ehren meiner Mutter Sachmet.

 

Ich vergaß meinen Stand und umarmte einen nach dem anderen. Dann stiegen wir die Treppe hoch und waren wieder  im Freien, wo wir weiter durch die nachtfinstere Wüste wanderten. Bald stieg der Weg ein kurzes Stück steil an. Nicht allzu hoch mussten wir klettern. Der Anstieg zeigte uns, dass wir richtig auf dem Weg waren. Bald würden wir vor der steinernen Sphinx stehen, dem Tor zu den Höhlen von Sokar.

 

Fünfte Sphäre - Höhle des Sokar

 

Die Sonnenbarke, die in vielen altägyptischen Darstellungen in der Form einer Schlange zu sehen ist, wird über den Sand gezogen, durch den Engpass zwischen dem oberen Teil der Pyramide, die aus Kopf und Armen der Isis und dem unteren Teil des Grabhügels des Osiris gestaltet ist. Im untersten Bereich unter der Pyramide befindet sich die ovale Höhle des Sokar. Sie liegt zwischen zwei nach außen schauenden, bärtigen Köpfen eingebettet, dem Doppelsphinx Aker, einem Urgott der Erde.

 

In der verborgenen Höhle packt der falkenköpfige Sokar die Flügel der vielköpfigen Schlange, einer Form des Sonnengottes. Es ist ein wichtiger Moment, der die Vereinigung von Sokar-Osiris mit Re darstellt. Der Text sagt, dass die ganze Höhle mit den Flammen aus dem Mund der Isis gefüllt ist. Darunter liegt der Feuersee, ein Ort der Strafe für Verurteilte und Feinde.

 

 

 

 

Der Weg war nun steinig, aber nicht beschwerlich. Teilweise war der Untergrund aus Kalkstein frei gefegt und die kleinen Mulden dazwischen durch Flugsand eingeebnet. Es gab weder Gras noch Strauch. Gelegentlich vertrocknete Grasbüschel oder Astwerk.  Ein leuchtender Sternenhimmel erhellte unseren Weg. Gleich verirrten Felsblöcken sahen wir immer wieder Bruchstücke behauener Steine, von Statuen und Säulen. Es waren die Überreste uralter Tempel aus längst vergangenen Zeiten. Wir bewegten uns durch ein mystisches Land, geprägt von der Religiosität einer verflossenen Vergangenheit. Ehrfurchtsvoll setzten wir unsere Füße auf den heiligen Boden.

 

Die Welt um uns war vollkommen still, kein Vogelgezwitscher, kein Tierlaut war zu hören. Gelegentlich hörte man ein Pfeifen, ein Heulen oder Rauschen, dann wenn der Wind um eine Tempelruinen piff. Für Leichtgläubige, die sich wenig Gedanken um Ursachen gemacht hatten, für die mag es das Wehklagen der Verdammten gewesen sein. Von daher vielleicht die Legenden, die sich um dieses Land gebildet hatten. Nun, ich will nicht urteilen. Wenn ich ohne  Atmedef allein durch dieses verlassene Land gewandert wäre, hätten sich Träume und Ängste mit der Realität vermischt und es wäre mir vielleicht nicht anders gegangen als jenen, welche diese Legenden gebildet hatten.

Jedenfalls waren wir zu zweit viel besser daran. Keine Monotonie des Wanderns lullte uns ein und unsere Gespräche hielten uns wach, ja, machten uns neugierig für manche verfallene Tempelanlage, die wir uns genauer ansahen. Auf keinen Fall hatten wir auf unserem Weg einen einzigen Verdammten und auch keine Stätte der Bestrafung  gesehen. Die Höllenbereiche der Unterwelt, war ich nun überzeugt, würden sich erst im unterirdischen Bereich des Duat befinden, für uns beginnend ab dem Abstieg zur Höhle von Sokar.

Es gab noch eine weitere Legende mit einer sehr schlechten Deutung, nämlich die, dass bereits hier auf dem Plateau das Heulen des Apophis zu hören wäre.

 

Hin und wieder kamen wir an einem Schacht vorbei, der in meist verwitterten Stufen in die Tiefe führte. Wir hielten unsere Neugierde zurück und versuchten nicht einen solchen Schacht zu erkunden. In den Höhlen und Schächten, so hatten wir gehört, würden Verdammte hausen, denen selbst das Sternenlicht zu hell war. Es sollten jene Verdammten sein, deren Herzen in der Waag-Schale des Anubis als sehr schwer befunden wurden.

 

Wieder blieben wir stehen und betrachteten eine Statue, die aus dem Geröll und Sand hervorragte. Auch diese konnten wir nicht einordnen. So manche der Statuen, die wir bisher sahen, mochte eine Gottheit darstellen, die von den Menschen längst vergessen war. Ich erinnerte mich zurück an die Sonnenbarke von Re. Dort war ich erstaunt wie viele Gottheiten mit mir unbekanntem Namen sich um Re versammelt hatten.

 

Das Plateau erschien uns bereits geheimnisvoll, doch nach den Berichten sollte die Höhle von Sokar noch geheimnisvoller sein. Dem Hören nach ist es der heiligste aller heiligen Orte. Gleich einem Skarabäus wäre die Höhle von ovaler Form. Am Eingang und Ausgang zum Höhlensystem wäre jeweils ein großer steinerner Männerkopf zu sehen. Ich zeigte Atmedef den Papyrus unserer Wegkarte, den ich in einer Gewandfalte mit mir trug.

 

"Um die Höhle von Sokar gibt es eine Vielzahl von Gängen und Höhlen", flüsterte ich zu Atmedef, von Ehrfurcht ergriffen. "Manche Gänge sind von kleinen Wasserläufen durchflossen. Es gibt auch Höhlen mit Teichen in ihrer Mitte.

Die Höhle von Sokar unterscheidet sich von allen anderen. Meine Mutter Sachmet nannte die Höhle von Sokar immer Höhle der Töne. Ich kenne eine Tonpyramide auf der Mittelwelt, in einem vergessenen Land, das nun den Barbaren zugeordnet wird. Dort hatte mich meine Mutter Sachmet in die Geheimnisse der Tonkräfte eingewiesen. Die magischen Tonkräfte der Höhle von Sokar sind jedoch vielfach stärker als jene der Tonpyramide. Nichts kann sich mit der Höhle von Sokar vergleichen."

Begeistert fügte ich hinzu: "Diesen uralten geheimnisvollen Ort, dem einige wenige irdischen Ton-Pyramiden nachgebaut wurden, müssen wir unbedingt betreten. Ich glaube, wenn ich diese Höhle und ihre Tonkräfte zum Leben erwecke, wird es das Gewaltigste unserer Reise sein. Nichts kann dem gleich kommen."

 

Nicht lange nach diesem Gespräch standen wir unverhofft vor einer großen steinernen Sphinx. Es war der Zugang zum unterirdischen Reich von Sokar (Osiris).

 

 

Der Zugang zur Höhle von Sokar

 

Wir setzten uns auf einen Felsen. Atmedef bemerkte: "ich habe schon öfters Abbildungen von Aker, dem Doppelgestaltigen Urgott der Erde, gesehen. Dennoch mit diesem gewaltigen Steinbild lässt sich nichts vergleichen. Ich glaube es ist nicht nur die Größe, die mich beeindruckt. Wenn ich so hinblicke, so habe ich das Empfinden, als wäre dieser steinerne Wächter durch die Jahrtausende seiner Existenz lebendig geworden."

 

Wir blieben noch eine Weile stehen und bewunderten die Sphinx, um dann auf den Eingang an der Basis zuzugehen.

 

Der Eingang war roh und unbehauen. Vielleicht war er schon so uralt, dass niemand es wagte, den Meisel anzusetzen. Wir durchschritten ihn und kamen in einen Gang, der schräg in die Tiefe führte. Auch er hatte sich auf natürliche Weise im Fels gebildet. Nur gelegentlich war er erweitert worden oder waren störende Vorsprünge entfernt worden.

 

Immer tiefer führte uns der Felsengang. Obwohl wir uns einem heiligen Ort näherten war uns beim Abstieg nicht wohl. Zu deutlich zeigte sich uns, dass wir ab nun für lange Zeit den freien Himmel vermissen würden und gleichsam im Stein gefangen wären. Immer tiefer und immer näher zur Hölle würden uns die Wege führen. War für uns früher "Hölle" ein abstrakter Begriff, so schien sie uns ab jetzt nahe und bedrohlich. Ohne dem Licht der Uräusschlange wären wir verloren gewesen. Wiederholt dankte mir Atmedef für meine Umsicht und den Mut, dem Hund die Fackel entrissen zu haben. Endlich hörte der Abstieg auf und die Gänge wurden ebenerdig.

Unser Weg führte nach wie vor durch ein natürlich entstandenes Höhlensystem. Gelegentlich waren die Gänge nachbehauen. Dennoch, obwohl behauen, waren in ihnen keine Ornamente oder Schriften zu sehen. Sie blieben schmucklos. Manchmal jedoch erkannte man, dass hier schon Menschen waren und wir uns nicht in wilden, unbekannten Felsengängen verloren hatten, dann nämlich, wenn sich die Gänge zu kleinen Felsenkammern weiteten, an deren Wänden in den Stein gehauene Figuren zu sehen waren.

 

Da wir auf unserem gesamten Weg keinen Pilger, Tempel oder sonstiges Zeugnis einer lebendigen Zivilisation angetroffen hatten, wurde Atmedef unsicher und fragte mich, ob wir vielleicht vom Weg abgekommen wären und zu den Orten der Verdammten gelangen würden.

Ich sagte: "Ich hoffe nicht. Den Weg zum heiligen Zentrum zu verfehlen und uns in den Gebieten der Verdammten zu verlieren, wäre ein schreckliches Schicksal. Wir haben jedoch bislang keine Verdammten gesehen. Das gibt mir die Hoffnung, dass wir richtig auf dem Weg sind. Es ist ein heiliger Bezirk, in dem wir uns befinden und kein Wohngebiet. Genau genommen darf das heilige Zentrum nur von Göttern betreten werden."

 

Atmedef hatte jedoch in einem Recht, in der Stimmung, die mich ebenfalls erfasst hatte. Auch ich fühlte mich hier verloren und die Stille, die uns umgab, war beklemmend. Sie bewirkte, dass wir uns bedroht fühlten und da wir überall Gefahren vermuteten und nichts dergleichen vorfanden erwuchs daraus eine  Unsicherheit. Still, um ja kein verdächtiges Geräusch zu überhören, blickten wir in jeden Winkel, wo wir nichts außer dunkelster Schattenschwärze sahen. Ich empfand, dass selbst die verunsicherte Frage von Atmedef einiges Leben in unsere Gruppe brachte und wohltuend war. Deshalb setzte ich das Gespräch mit gegenwärtig unwichtigen Dingen fort: "Das gesamte Gebiet um die heilige Höhle von Sokar stammt aus einer Zeit, in der es Ägypten noch nicht gab. Was wir oben auf dem Plateau von Rostau an Ruinen und Skulpturen gesehen hatten, stammte aus wesentlich jüngeren Zeiten als diese Höhlen hier. Dennoch, Du hast gesehen, dass selbst die Ruinen und Statuen von Rostau so alt waren, dass niemand mehr sie einer Zeit zuordnen könnte. Kaum vorstellbar, dass es etwas gibt, was das Alter von Rostau übertrifft. Und dennoch ist es so. Alles hier stammt von einer Kultur aus unglaublich alter Zeit. Nur die ältesten Schöpfungsgötter gab es damals schon. Die Legenden berichten, dass es damals eine Zivilisation gab, die unvorstellbar hoch entwickelt und unserer gegenwärtigen Kultur weit überlegen war. Diese uralte Zivilisation, von der kaum jemand noch etwas weiß, soll nicht von Menschen, sondern von Göttern aufgebaut worden sein, von Göttern die von den Sternen gekommen waren."

 

Atmedef staunte. "Was geschah mit dieser Kultur?"

 

"Sie ging durch eine große Naturkatastrophe unter. Dann gab es lange keine Zivilisation mehr. Die Menschen lebten in primitiver Barbarei, so wie vor jener fremden Kultur und danach eben auch. Das änderte sich als  Thot in Ägypten eine neue Kultur schuf, indem er aus dem Wissen jener uralten Zeiten den Ägyptern Medizin, Astronomie und Mathematik lehrte und ihnen zur Schrift verhalf. Thot entstammte jener alten Götterzivilisation und beschenkte die Menschen mit einem kleinen Teil des Wissens jener alten Zivilisation."

 

"Wieso gab Thot den Menschen nur einen kleinen Teil weiter", verwunderte sich Atmedef.

 

"Die Menschen sind noch zu große Egoisten, um hohe Verantwortung tragen zu können. Wissen ist Macht und Macht in den Händen von Egoisten ist eine zerstörende Kraft."

 

Atmedef schwieg nachdenklich. Bei jedem Schritt, den er ab nun tat, betrachtete er diese unterirdische Welt mit Ehrfurcht und Staunen. Ich tat es ihm gleich, denn auch ich war das erstemal an diesem heiligen Ort. Auf jeden Fall hatten wir durch dieses kurze Gespräch unsere anfängliche Beklemmung überwunden und unsere Schritte waren wieder locker.

 

Als hätte sich mit unserer Stimmung auch die unterirdische Welt verändert, kamen wir jetzt durch Gänge mit seltsamen Bildern, Schriften und Skulpturen. Unerwartet standen wir auf einmal vor einem mächtigen Gewölbe.

"Das ist die heilige Höhle von Sokar", flüsterte ich zu Atmedef. Der Ort strahlte eine solch starke Heiligkeit aus, dass ich nicht wagte laut zu sprechen.

Atmedef sagte überhaupt nichts, sondern betrachtete staunenden Auges die Wände und das Deckengewölbe. Er war von der Höhle zutiefst ergriffen, obwohl sie bis auf einem Gebilde in der Mitte völlig leer war. Es gab keine Skulpturen, keine Gemälde, kein Ornament, keinen Schmuck. Die Höhle selbst war es, die ihn beeindruckte. Ihre Basis war ein großes Oval. Wände und Decke waren aus seltsamen Wölbungen und Flächen gebildet, von denen man nicht sagen konnte, ob sie künstlichen oder natürlichen Ursprungs waren.

 

Ich nahm Atmedef bei der Hand und führte ihn in die Mitte. Dort war ein großer Sarkophag.

"Dies ist der Sarkophag, in dem der Legende nach Re sich mit Osiris-Sokar verbindet, um dadurch verjüngt seine Reise fortzusetzen."

Ich führte Atmedef ganz dicht an den Rand des Sarkophages. "Lege Dich hinein, Atmedef."

Atmedef wich erschrocken einen Schritt zurück. "Ich kann mich doch nicht in den heiligen Sarg des Re legen, nicht einmal die Götter dürfen das!"

"Du kennst nur die Legende," sagte ich zu Atmedef. "Die Wirklichkeit ist anders. Sie ist noch viel phantastischer. Du weißt doch, dass die Töchter von Bastet-Sachmet "Sängerinnen der Bastet" genannt werden. Wieso sie so heißen will ich Dir jetzt zeigen. Wir sind als Priesterinnen solcher Orte wie es dieser hier ist eingeweiht. Selbst Re bedarf unserer Hilfe, wenn er sich in den Sarkophag legt. Lege Dich in den Sarkophag!"

Mit Nachdruck zog ich Atmedef wieder herbei zum Rand des Sarkophages und zog ihn am Arm dem Inneren des Sarkophags zu. Atmedef zitterte am ganzen Körper. Sowohl die Tragweite des Geschehens als auch meine Anordnung, die ihm wie die größte denkbare Sünde erschien, verwirrten ihn dermaßen, dass er nicht mehr denken konnte und wie eine Puppe mit sich geschehen ließ.

 

Ich ließ ihn einige Zeit im Steinsarkophag liegen und strich beruhigend über seinen Körper. Es waren hypnotische Striche, die ihn in einen tiefen Entspannungszustand versetzten.

Dann stellte ich mich am Kopfende des Sarkophags auf und intonierte einige Töne. Ich ging sehr vorsichtig vor und setzte nur mit einer geringen Kraft ein, Atmedef in seinen Reaktionen genau beobachtend. Dann entwickelte ich aus den Tönen einen immer stärker werdenden Gesang, der nur aus summenden und vibrierenden Vokalen zu bestehen schien. Immer lauter wurde mein Gesang, das Echo warf sich von den Wänden und der Decke, vervielfältigte die Töne, gestaltete sie zu Obertönen und tiefem Brummen. Bei all dem Geschehen beobachtete ich Atmedef, seine Atmung und seinen Gesichtsausdruck. Mancher schon wurde nach diesen Tonkaskaden, die nur in dieser heiligen Höhle möglich sind, wahnsinnig. Apophis als große, uralte Gottheit soll sich einmal unbefugt in diese Höhle eingeschlichen haben, um hier von Unkundigen für ihn den Tonzauber durchführen zu lassen. Er wollte die Kraft der Höhle missbrauchen, um mächtiger als Re zu werden. Hierfür hätten sich die Töchter Bastet-Sachmets nie hergegeben. Das wusste er, aber seine Gier nach Macht war so groß, dass er jedes Risiko einging und in Eigenregie hierfür Priester ausbildete. Der Versuch misslang. In der Folge zerfiel durch die Tonkraft seine innere Ordnung Maat. Seit dem muss er im tiefsten Ort der Hölle leben, von Wahnsinn und Chaos beherrscht, die ordnende Kraft des Lichtes fliehend. Könnte er Re besiegen, so würde die ganze Welt in Finsternis fallen, wodurch sich Apophis dann überall frei bewegen könnte - er wäre wieder frei, jedoch in einer toten Welt, in der es kein Leben mehr geben würde, außer lichtscheuen Geistern und Höllenbewohnern.

Auch Seth hatte es einmal versucht, aber zum Glück hatte er die Magie sehr bald abgebrochen. Jedoch hatte auch dies seine Folgen: er wurde kurzfristig vom Wahn befallen. In diesem Wahn tötete er seinen Bruder Osiris. Er hatte später seine Tat sehr bereut. Seth hat aus dem allen gelernt, wenngleich eine Spur des Destruktiven hängen geblieben ist. Vielem von dem, was er schuf oder anderen gab, fehlte oft der Segen. So wollte er die Menschen beschenken, indem er sie lehrte Metall zu gießen. Das erste was jedoch die Menschen aus dem Metall machten waren Schwerter. So ist manches von Seth obwohl gut gemeint, dennoch mit einem leichten Fluch behaftet.

 

Von all dem hatte Atmedef keine Ahnung. Hätte ich ihm nur ein Wort hiervon erzählt, so wäre er nie in den Sarkophag gestiegen. Ich vertraute meiner Stärke und meinem Können. Ich hatte auf unserer Reise Atmedef genau studiert und kannte die Stärken und Schwächen seiner Ba-Seele. Es ist die Ba-Seele auf welche diese Töne wirken und von da wirken sie weiter bis in noch tiefere Bereiche, bis hin zum lichtvollen Ach (Akhu). Die von den Sängerinnen der Bastet-Sachmet erzeugten Töne werden in der Höhle gebündelt, verwoben und umgeformt. Aus ursprünglichen Tönen werden magische Schwingungen von unglaublicher Kraft. Die Decke und die Wände der Höhle werfen die gebündelten Tonkräfte auf einen einzigen Punkt zurück, auf die Stelle des Sarkophages. Gekonnt angewendet verhelfen sie zu ungemeiner Stärke und Klarheit, führen die Person, die im Sarkophag liegt, dem kosmischen Allbewusstsein näher. Unrichtig eingesetzt wirken die Schwingungen destruktiv und zerrütten die Struktur der Persönlichkeit, bis sich diese ihrer Individualität nicht mehr bewusst ist. Während die aufbauende Wirkung im Laufe der Zeit wieder abklingt, kann eine totale Zerstörung wie im Falle von Apophis nicht mehr geheilt werden.

 

Als ich meine Tonmagie beendet hatte, ließ ich Atmedef noch ein wenig ruhen und das Geschehen verarbeiten. Dann half ich ihm aus dem Sarkophag heraus. Er umarmte mich und Tränen flossen seine Wangen herab. Er sprach kein Wort. Ich wusste jedoch, er hatte eine tiefe Erfahrung gemacht und da er reinen Herzens war, hatte er die Tonkräfte auch gut durchstanden. Vieles in seinem Seelenkörper wurde geheilt und in aufbauender Weise umstrukturiert. Insofern unterschied sich diese Kraft gewaltig von den Zuständen, die ich den Sachmet-Priestern vermittelt hatte.

 

Wir verließen die heilige Höhle und betraten erneut die Gänge. Auch mich hatten die Tonkräfte erfasst und innerlich gehoben, wenngleich wesentlich schwächer.

 

Gelegentlich weitete sich der Gang, dem wir folgten, zu einer Höhle, bisweilen spaltete er sich auf oder es zweigten andere Gänge ab. Wir folgten dem Hauptgang, dessen Boden eben war, weil schon viele vor uns diesen Weg gegangen waren. Ohne diesen Spuren hätten wir den Weg sicherlich nicht gefunden oder uns zumindest sehr schwer getan. Freilich, man möge auf Grund des abgegangenen Weges nicht glauben, dass hier ein reges Gehen und Kommen wäre. Nein, es war hier still und einsam. Nur in größeren Zeitabständen wird Re von seinem Gefolge hierher gebracht, um sich hier mit neuer Lebenskraft aufzuladen. Doch im Laufe undenkbar langer Zeiten wurde in diesem zyklischen Geschehen der Weg ausgetreten. 

 

Lange waren wir durch Gänge und Grotten gegangen, ohne dass sich etwas Besonderes ereignet hatte. Dann sahen wir von weitem einen roten Schein. Der Schein wurde intensiver und der Gang weitete sich, um dann in eine große Höhle zu münden. Dann standen wir vor dem Feuersee, über den schaurige Geschichten erzählt werden. Dass wir zum Feuersee gefunden hatten, war ein Zeichen dafür, dass wir richtig auf dem Weg waren. Das war allerdings das einzige Positive hierbei.

Im Feuersee sollen bösartige Menschen, die gegen alle Gesetze verstoßen hatten, für ihre Taten büßen. So heißt es in den Erzählungen über das Duat. Gerne hätten wir um den Feuersee einen Bogen gemacht, jedoch kein Weg führte hieran vorbei. Noch schlechter, man musste über eine steinerne Brücke den Feuersee überqueren. Zögernd näherten wir uns der Brücke. Beklommen sahen wir auf die brodelnde Lava. Atmedef hatte in seinem Leben noch nie dergleichen gesehen. Tatsächlich schienen in der Lava mit ihren Flammenzungen viele Gestalten zu sein, die hilfesuchend ihre Arme aus der flüssigen Glut empor streckten.

 

Meine zwei Geparden zeigten keinerlei Angst. Es schien, als würden sie die Gefahr nicht begreifen. Nein, so war es, die Gefahren waren ihnen egal, ihre Liebe zu mir war größer als jede Furcht. Immer würden sie bei mir sein. Würde ich in das flüssige Feuer hinab steigen, so würden sie mir ohne zu zögern folgen, das wusste ich.

 

Ich empfand die Gedanken Atmedefs: "Sind wir rein genug, um von der Brücke getragen zu werden? Ist die Brücke nicht ähnlich der Waage des Anubis, indem sie gute Seelen trägt, jedoch der Stein unter den Füßen der Bösen nachgeben würde? Wie steht es mit uns? Wäre es möglich, dass wir nicht rein genug wären, um dann gleich den ewig verdammten Seelen hier vor uns, ewigen Qualen übergeben zu sein. Wie würde die Brücke es bewerten, dass er sich in den Sarkophag des erhabenen Re gelegt hatte?" 

 

Zögernd und unsicher betraten wir die Brücke. Ich reichte Atmedef meine Hand und er nahm sie dankbar an. Ich wollte nicht, dass einer von uns beiden in der Feuerglut versinken würde. Wir wollten beide beisammen bleiben und das Schicksal teilen, gleichgültig ob es uns gut oder übel gesinnt wäre. Auch Atmedef fühlte so, erkannte ich.

 

 

Der Feuersee

 

Je mehr wir die Brücke voran schritten, umso deutlicher sahen wir die Verdammten in der feurigen Glut die Hände ringen, ja wir hörten sie seufzen und ächzen. Als wir in der Mitte der Brücke waren, fiel mir ein Gespräch ein, das eine Gottheit einmal mit  Sachmet hatte. Ich war in diesem Augenblick gerade zu Mutter Sachmet gekommen, um sie etwas zu fragen. Die zwei hatten über den Feuersee gesprochen und jene Gottheit, ich weiß nicht mehr welche es war, meinte, dass vulkanische Dämpfe den Geist verwirren würden. Wenn man den Feuersee auf der Brücke überschreitet, so würden sich die Dämpfe in der Mitte der Brücke am stärksten auswirken und Halluzinationen herbei führen. Jetzt wo wir gerade in der Mitte der Brücke waren, fiel mir jenes vor langer Zeit gehörte und fast vergessene Gespräch wieder ein. Eilig erzählte ich Atmedef hiervon. Unser Denken klärte sich mit dieser Erkenntnis und wir merkten, dass es Projektionen waren, die wir sahen. Es waren eigene ungeläuterte Eigenschaften, die dort unten Gestalt annahmen und sichtbar wurden. Mutiger und zügiger setzten wir unsere Schritte fort, um nicht zu lange den Dämpfen ausgesetzt zu sein.

 

Während wir die Brücke weiter überquerten und zum Feuersee hinab blickten, lauschten wir zugleich nach innen, auf den Prozess der Reinigung. Die ursprünglich gefürchtete Gefahr wurde zu einer Selbstbegegnung. Wir sahen vor uns so manche unerwünschte Eigenschaft Gestalt annehmen. Von vielen Eigenschaften wussten wir gar nicht, dass wir sie hatten. Was bislang verdrängt war, trat ans Tageslicht. Einmal erkannt und akzeptiert, verlor es einen Teil seiner zerstörenden Wirkung. Die in rot-schwarzer Dämonengestalt wallende Eigenschaft löste sich dann in einer gelben Flamme auf, sobald wir sie akzeptiert hatten. Erkenntnisse, die sonst Jahre gedauert hätten, vollzogen sich hier in ganz kurzer Zeit. Freilich wussten wir nicht, wie sehr sich die Erkenntnisse einprägen würden und wie viel hiervon später nach unserem Gang über den Feuersee in der Erinnerung verbleiben würde.

 

Von Zeit zu Zeit lauschte ich auch in meine zwei Geparden hinein. Sie gingen leicht beunruhigt wegen dem Feuer neben uns auf der Brücke, sahen jedoch keine Gestalten.

 

Sechste Sphäre, die Sphäre der Schatten

 

 

Wir standen vor dem sechsten Tor. Es war von einem ungewöhnlich großem Pavian bewacht. Er war so groß, dass er selbst auf allen Vieren stehend noch immer in gleicher Augenhöhe mit uns war.

 

Ich ging offen auf den Wächter zu. Atmedef war alarmiert und griff fester nach seiner Lanze. Er folgte mir ohne zu zögern und war frei von Angst. Dennoch hielt er seine Lanze bereit. Vorsicht schien ihm eine prinzipielle Verhaltensregel zu sein. Ich sagte ihm: "Ich weiß für jeden Wächter das Losungswort. Niemand wird uns aufhalten."

 

Atmedef vertraute mir, obwohl weniger meinem Losungswort, und entspannte sich wieder.

 

 

Der Pavian als Torwächter

 

Ich ging an dem Pavian vorbei, links und rechts von meinen zwei Geparden begleitet. Atmedef folgte als Letzter. Als er vorbei gehen wollte, versperrte ihm der Pavian den Weg und starrte ihm in die Augen. Atmedef tat einen Schritt zur Seite und ging weiter. Er sah dem Pavian nicht mehr ins Gesicht, sondern blickte nach vorne, als wäre der Pavian nicht mehr existent. Der Pavian bellte empört und ließ ihn gehen. Er blickte nun zu mir, denn ich war zurück gekehrt und nahe an ihn heran getreten, um zur Not Atmedef beizustehen. Der Pavian fletschte mich feindselig an. Ich sprach ihn mit einem Zauberspruch an, den mich Sachmet gelehrt hatte. Der Zauberspruch hatte keine Wirkung. So machte ich es auf meine eigene Art, so wie sie sich schon bei den fünf Räubern bewährt hatte, ich bannte ihn. Der Pavian erstarrte.

Ich wollte schon weiter gehen, da sah ich, dass er ein goldenes Amulett an einer dünnen goldenen Kette um den Hals hängen hatte. Ich dachte, dass er eine Strafe für sein ungebührliches Benehmen einer Göttin gegenüber verdient hätte und riss ihm das Amulett vom Hals. Ich sah es an, es war ein Schen-Ring, ein Symbol für den ewigen Schutz. Mit der Sphäre von Apophis vor uns konnten wir es vielleicht gebrauchen. Zufrieden gingen ich weiter.

 

Unterwegs fragte ich Atmedef: "Hast Du Angst gehabt?"

"Ich hatte keine Zeit dazu", gab er zur Antwort, "ich war voll auf den Augenblick konzentriert."

 

Nach einer Weile sprach Atmedef wieder, sinnend wie im Selbstgespräch: "Ich musste mit dem Pavian kämpfen. Doch welch Unterschied zu Deinem Kampf und dem Sieg mittels Deiner inneren Kraft, verehrte und geliebte Göttin. Du hast ihn besiegt, mir aber blieb nichts anderes über als mich selbst zu besiegen."

Ich schaute Atmedef fragend an.

So erklärte er mir weiter: "Ich habe in den Kriegen gelernt, wie vergänglich und zerbrechlich ein menschliches Leben ist. Viele meiner Freunde wurden in den Kämpfen getötet und zuletzt schien es mir als wäre ich als einziger über geblieben. In meinen Kämpfen war ich dem Tod immer nahe. Im Kampf durfte ich keinesfalls daran denken, sondern musste mich auf den Augenblick konzentrieren und auf die Schnelligkeit meiner Reaktionen. Nunmehr war die Situation völlig anders. Hätte ich gekämpft, so hätte ich gegen den Pavian verloren. Schon hatten sich meine Muskeln angespannt und meine Augen verengt, da erfühlte ich an seiner sich steigernden Erregung: es war gerade das, worauf der Pavian wartete - eine Herausforderung zum Kampf. Also musste ich das Gegenteil tun. So konzentrierte ich mich auf meinen inneren Wesenskern und erzeugte in diesem Frieden und Stille, so als gäbe es keinen Pavian und als gäbe es überhaupt keine Welt, weder die Mittelwelt noch die Unterwelt. Ich wurde ganz ruhig und gelassen und fühlte, dass dies den Pavian verwirrte. Er wusste mich nicht mehr einzuschätzen und dachte ich würde über eine mächtige Magie verfügen, um derart gelassen sein zu können. Wie immer man seine Reaktion interpretieren mag, ich hatte die Situation gemeistert, indem ich mich selbst besiegt hatte."

Ich schwieg und dachte darüber nach, ob ich in meinem Hang zu Zorn und Kampflust zu einer solchen Selbstbeherrschung fähig gewesen wäre. Jedenfalls zollte ich Atmedef hohen Respekt für seine Willensstärke.

 

Es gab eine kurze Pause, dann ergänzte Atmedef: "Als mir der Pavian den Weg versperrte, kamst Du wieder zurück zu mir. Als ich Deine Nähe fühlte, wusste ich mich beschützt. Ich vertraute Deiner Schnelligkeit und Kraft. Nur dadurch war ich zu dem inneren Sieg überhaupt fähig. Ohne dich in meiner Nähe hätte ich nicht den Mut gehabt weg zu blicken."

 

Ich freute mich über sein Vertrauen, Lob und Hochschätzung. Am liebsten hätte ich ihn umarmt. Bei allem wusste ich genau, dass er schon vorher, bevor ich bei ihm war, seine innere Kraft der Selbstbeherrschung aufgebracht hatte. So wie er es sagte, war es ein Zeichen der Verehrung und Zuneigung.

 

Wir gingen schweigend weiter. Dann, nach einer Weile unterbrach Atmedef wieder die Stille.

"Hoffentlich war das Verhalten des Pavians kein Kennzeichen der Sphäre. Wenn das so wäre, müssten wir noch mit einigen Unannehmlichkeiten rechnen."

"Wir gehen mit dem Landweg den gefährlichen Weg", setzte ich das Gespräch fort. "Das Land ist dicht mit Dämonen und Ungeheuern besiedelt, die sich alle nicht der Sonnenbarke nähern können, weil sie durch das Wasser fern gehalten werden, so heißt es in der Überlieferung des Amduat. Nun ja, andererseits ist unsere winzige Gruppe nicht so auffallend wie die Sonnenbarke. Uns übersieht man leichter. Zudem sind wir nicht wichtig. Wie immer es ist, momentan ist es ruhig und das sollten wir nützen, um uns eine Rast zu gönnen."

 

Wir machten es uns in einer Felsennische bequem. Ich nahm das goldene Schen-Amulett hervor und zeigte es Atmedef. Ich fragte ihn, ob er seine Bedeutung kenne. Er nickte und sagte ehrfurchtsvoll mit einem Blick auf das Amulett, dass es Göttern und dem Pharao vorbehalten sei, denn nur sie wären mit der Ewigkeit verbunden, um würdig zu sein dieses Amulett zu tragen.

 

 

Schen-Ring, Symbol der Ewigkeit

 

Ich hielt nichts von solchen Regeln oder Traditionen und so beugte ich mich zu ihm, hängte ihm den Schen-Ring um den Hals und knüpfte die goldene Kette zu.

Atmedef war zunächst sprachlos, doch dann lächelte er und blickte mir dankbar in die Augen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

 

Wir genossen es uns noch eine Weile zu entspannen. Dann gingen wir weiter durch die Höhlen und Gänge dieser unterirdischen Sphäre. Es war eine düstere Welt. Wir sahen immer nur das nahe Umfeld, das sich durch das Licht der Uräusschlange ein wenig aufhellte. Teilweise waren Wasserrinnen in der Wegmitte oder seitlich der Gänge. Manchmal mussten wir durch Pfützen und knietiefes Wasser gehen, stets auf der Hut vor Krokodilen und giftigen Schlangen. Immer wieder huschten Schatten an uns vorbei, neben uns, oberhalb von uns, überall. Bald gewöhnten wir uns daran und schenkten den Schatten keine weitere Beachtung. Angeblich sollten sie die Hauchkörper von unguten Verstorbenen sein. Das durfte jedoch nur gelegentlich zugetroffen haben. Man konnte die Schattengeister kaum von den Schatten der Tropfsteine und Felsenzacken unterscheiden. Jedenfalls konnten sie uns nicht gefährlich werden, das war zumindest eindeutig.

Nachdem wir nur selten ein Huschen im Wasser sahen, nahm auch unsere anfänglich angespannte Alarmbereitschaft gegenüber Krokodilen und Schlangen ab und wir wurden gelassener. Erstaunlich wie schnell man sich an manches gewöhnen kann. Wir gingen weiter als wäre es schon immer eine uns vertraute Welt gewesen, dennoch hielten wir eine gleichbleibende ruhige Aufmerksamkeit.

 

 

 

Für jene Menschen, welche zu Lebzeiten gegen die göttliche Ordnung Maat verstoßen hatten, war alles im Duat umgekehrt. Was für sie oben, das war für uns unten.

 

"Außer diesen Schattenwesen", erklärte ich Atmedef, "sprechen die Berichte von Augen, die aus allen Richtungen her starren würden. Auch soll es unheimliche Schattenvögel geben. Zudem sollte bereits gelegentlich das Heulen von Apophis zu hören sein. Wenn die Berichte stimmen, dann könnte es noch einige unerfreuliche Erscheinungen geben. Ich glaube aber, dass auch diese Beschreibungen überzogen sind und die Realität sich wahrscheinlich als genau so harmlos wie die Schatten erweisen wird. Für furchtsame Menschen, die sich in Panik versetzen lassen, sieht alles anders aus."

 

Wir schwiegen wieder und gingen weiter durch die tiefschwarze Nacht, um uns eine kleine Lichtinsel aus dem Schein unserer Uräusschlange. Je weiter wir in diese Welt vordrangen desto enger und verwinkelter wurden die Gänge. Die Wände und Böden waren nicht abgerundet wie jene von Sokar, sondern hatten Zacken und Spitzen. Steine hingen wie Nadeln von der Decke und kamen auch wie Nadeln aus dem Boden heraus. Einerseits machte dies das Reisen beschwerlich, denn man musste sich oft bücken, um einer von der Decke herab hängenden Spitze zu entgehen, andererseits boten die Höhlen eine bizarre Schönheit. Es gab sogar Kristalle an den Wänden. Als Schatzsucher hätten wir viel Freude gehabt, doch wir konnten uns nicht mit schwerem Gepäck beladen. Solcherart blieb uns für Kristalle nur Bewunderung. Gelegentlich jedoch irritierten sie uns, denn sie leuchteten in der Dunkelheit wie Augen auf. Beunruhigt durch die Berichte der mysteriösen Augen, ließen wir uns durch das Funkeln der Kristalle immer wieder irritieren. Es zeigte, wie sehr die Erwartungshaltung die Weise der Wahrnehmung beeinflussen kann. Wehe, wenn jemand sich in dieser Welt in Furcht hinein steigern würde. Aus den Kristallen würden lebendige Augen werden und im Bestreben vor ihnen zu fliehen, würden sich die Tropfsteine zu gefährliche Waffen wandeln. Zum Glück blieben wir jedoch ruhig und versuchten die Erscheinungen sachlich zu sehen.

 

Ich wunderte mich, dass das Funkeln der Kristalle zu solch irrigen Überlieferungen führen konnte. Die Erzählungen über das Amduat konnten sich doch nicht so oft irren. Immerhin stimmten die Berichte von den Schatten, wenngleich die wenigsten der sich bewegenden Schatten von echten Geistern stammten. Die meisten waren Schatten irgendwelcher Steinzapfen, die durch das schwankende Licht der Uräusschlange ein Scheinleben zeigten.

 

Während wir noch über die Überlieferungen des Amduat diskutierten und nachdachten, gelangten wir in einen schmalen Gang, der in gewundenen Bahnen tiefer in den Fels führte. Bergab gingen wir nicht gerne, es führte tiefer in Höllenbereiche. Deshalb schwiegen wir wieder. Es gab in diesem Gang für uns keine Möglichkeit etwaigen Dämonen oder Ungeheuern auszuweichen. Wir waren sehr angespannt, jeden Augenblick eine Konfrontation erwartend.

 

Vorsichtig und langsam gingen wir weiter im Höhlenlabyrinth. Da tauchte im Schein unserer Fackel eine seltsame Gestalt auf. Wir blieben abrupt stehen und versuchten die Situation zu klären. Es war keines der dunkelgrauen Schattenwesen wie wir sie in schon gewohnter Weise kannten, sondern die Gestalt hatte Farbe und schien wie dichter Nebel zu sein, wenngleich noch immer etwas durchscheinend. Es war ein Schemen, halb Schlange, halb Mensch. Das nebelartige Wesen blickte uns an und versuchte uns mit ausgebreiteten Armen aufzuhalten.

Atmedef hielt seine Lanze fester und meine zwei Geparden duckten sich sprungbereit.

 

Da sprach uns das Wesen in einer gehauchten und leicht zischenden Stimme an: "Geht nicht weiter! Der Weg führt direkt zum Reich des Apophis, wo ewiges Vergessen auf Euch wartet und wo die Zeit erstarrt. Wer immer auch durch diesen Gang gegangen ist, keiner von jenen ist je zurück gekehrt."

 

 

 

"Geht nicht weiter! Der Weg führt direkt zum Reich des Apophis!"

 

Ich gab zur Antwort: "Es kann auch niemand zurückkehren, weil es nicht möglich ist gegen die Zeit zu reisen. Die Welt des Apophis kann nur auf dieser Seite seines Reiches betreten und nur auf der anderen Seite verlassen werden. Wir werden uns der Gefahr stellen und weiter gehen. Das ist uns lieber als ewig hier zu bleiben."

Die Schlangenfrau blickte uns erstaunt an.

"Komm, folge uns", sprach ich zu ihr. "In uns hast Du Freunde. Folge uns, vergiss Deine Einsamkeit und lass Dich nicht durch die Angst vor Apophis in dieser dunklen Sphäre fest halten!"

 

Die Schlangenfrau wurde nachdenklich. Wir gingen an ihr seitlich vorbei und ich sah zu meiner Freude wie sie uns folgte.

 

 

Die siebente Sphäre - die Welt von Apophis

 

In der siebenten Stunde droht dem Sonnengott wieder große Gefahr, diesmal in der Gestalt seines Erzfeindes Apophis. Die Schlange Apophis hat das Fahrwasser eingeschlürft. Doch Isis steht am Bug und ruft ihre Zaubersprüche, während die Skorpiongöttin Selket ihre Fesseln um den Körper des Apophis wirft, der von weiteren Helfern zerstückelt wird.



 

 

Auf unserem weiteren Weg gelangten wir in eine Höhle, die in rotes Licht eingetaucht war. An ihrem Ende sahen wir das Tor zur siebenten Sphäre, zur Welt von Apophis, dem tiefsten Punkt der Unterwelt.

 

Wir blieben vor dem Tor stehen und zögerten weiter zu gehen.

Ich flüsterte zu Atmedef: "Das Tor erscheint einen jeden, der es betritt in Finsternis verschlucken zu wollen. Erstmals erfasst mich Furcht".

Atmedef nickte, er teilte mein Empfinden.

"Es ist keine gewöhnliche Finsternis, welche aus diesem Tor strahlt", fügte ich hinzu. "Ich kann es genau empfinden. Es ist eine lebendige Schwärze, die Gegenkraft zum Licht. Nicht vergleichbar mit der friedlichen Schwärze der Nacht. Diese Schwärze hier verschluckt das Lebenslicht Ach, das uns Unsterblichkeit verleiht. Es ist die Auslöschung, der wir gegenüber treten müssen, nicht vergleichbar dem natürlichen Tod, der in Wirklichkeit nur ein Wechsel des Lebensraumes ist und eine innere Verjüngung bringt."

Atmedef nickte mir zu. Dann überraschte er mich, als er wie ein kleines Kind nach meiner Hand griff, um Hand in Hand mit mir weiter zu gehen. Ich war froh darüber. Auch mir tat es gut.

Trotz der fühlbaren Bedrohung gingen meine zwei Geparden voran. Die Schlangenfrau folgte dicht hinter uns. Ich glaube auch sie war froh, dass sie nicht allein diesen Weg gehen musste.

 

Der Weg führte steil bergab. Schweigend schritten wir in die Schwärze. Wir mussten durch, wenn wir jemals die Unterwelt wieder verlassen und nicht für immer in ihr gefangen bleiben wollten. Mit Schreck erkannte ich, dass hier in der Welt des Chaos Zeit einen anderen Wert haben mochte. Vielleicht gab es sie hier überhaupt nicht. Apophis könnte uns zu Stein erstarren lassen und für ewig in seiner Sphäre festhalten. Der Gedanke war so schaurig, dass ich unwillkürlich die Hand von Atmedef fester drückte. Er wendete mir sein Gesicht zu und schenkte mir ein Lächeln der Zuversicht. Ich sah, wie sich seine zuvor zugekniffenen Augen bei meinem Anblick sanft weiteten. Es gab mir neue Kraft und alle düsteren Gedanken waren verscheucht.

 

Wir alle wären gerne dieser schrecklichen Sphäre ausgewichen, aber das Gesetz des Sonnenlaufs durch die Unterwelt zwang uns dazu sie zu durchschreiten. Wir konnten nicht gegen die Zeit gehen, wir mussten die Tiefe durchqueren. Der Rat, den ich der Schlangenfrau rein logisch gegeben hatte, wühlte mich jetzt auf und bekam eine ganz andere Tragweite. Ich fühlte mich der unausweichlichen Situation ausgeliefert. Erstmals fühlte ich mich hilflos auf der Reise.

 

Die Atmosphäre wurde zusehends bedrückender. Die Luft schien dichter zu werden und erschwerte beinahe das Atmen. Schweigend gingen wir Seite an Seite weiter, vor uns die zwei Geparden in geducktem Schleichgang mit angelegten Ohren. Gleich hinter uns folgte die Schlangenfrau, nun flach am Boden gleitend, jetzt mehr einer Schlange als einem Menschen gleichend. Ich war froh sie bei uns zu haben. Jede noch so kleinste Unterstützung oder freundschaftliche Nähe war mir willkommen.

 

Immer stärker begann Lethargie und Dumpfheit ihre Fühler nach uns auszustrecken und mit jedem Schritt, den wir weiter gingen, drang sie tiefer in uns ein. Die Beine wurden uns schwer und jeder Schritt wurde mühsam.

 

Wir gelangten zu einem Sumpf. Bis zu den Knien wateten wir durch den Schlamm und die Schritte wurden noch schwerer. Als wir aus dem Sumpf wieder heraus gekommen waren, waren wir so erschöpft, dass wir nur noch schwankend gehen konnten. Wir fürchteten uns eine Rast einzulegen und uns nieder zu setzen, aus Angst, dass wir unmerkbar schwächer werden würden und in bleibendem Schlaf versinken könnten.

 

Ich weiß die Zeit nicht mehr, da wir uns mühselig weiter schleppten. Nichts ereignete sich, kein Angriff durch dunkle Wesen, die wir in unserem jetzigen Zustand nur schlecht hätten abwehren können. Ich war froh, dass uns wenigstens dies bislang erspart geblieben war.

Unversehens standen wir vor einer schmalen Holzbrücke, die über einen Abgrund führte. Wir betraten sie. Nach den ersten Schritten merkten wir, dass die Brücke bedrohlich schwankte. Da wir vor Schwäche auf festem Boden schon schwankend gingen, wagten wir nicht aufrecht über die Brücke weiter zu gehen. So krochen wir auf allen Vieren, um sicher zu sein, dass wir nicht das Gleichgewicht verlieren und abstürzen würden. Kurz blitzte in mir der Gedanke an die Zeit auf der Sonnenbarke auf. Welch stolze und selbstbewusste Göttin war ich dort. Hätten mich jetzt die Menschen gesehen, deren Gruß ich aus Ärger und Stolz nicht erwidert hatte, so würden sie jetzt mit dem Finger zu mir weisen und sagen: "Schaut her, das soll eine Göttin sein? Auf allen Vieren kriecht sie wie ein Tier! Ja, wie eine Kröte kriecht sie mühselig den Weg entlang. Nein, eher wie ein Wurm! Es ist zum Lachen!. Wo ist ihr Stolz?" Ja, das hätten sie gesagt. Und das Schreckliche war, dass ich mich auch hilflos wie ein Wurm fühlte und Atmedef wahrscheinlich auch. Ja, vom früheren Stolz war nichts mehr über.

 

Ich wagte es kurz über den Rand der Holzlatten zu blicken und zuckte erschrocken zurück. Das war keine gähnende Felsenschlucht. In der Tiefe unten schien die Welt aufzuhören. Es war wie eine gähnende, saugende Öffnung ins Nichts, in die Auflösung. Schnell blickte ich weg, denn schon griff eine Suggestion nach mir und flüsterte mir zu mich hinunter zu stürzen, um der Angst und den Mühen ein Ende zu setzen. Eilig blickte ich in die Gegenrichtung schräg nach oben. Wie erschrak ich jedoch, als ich vor uns über der Brücke ein schwarzes Nebelgebilde gleich dem Kopf von Apophis sah.

 

 

Dunkler als die Nacht um uns  schwebte über uns ein schwarzes Nebelbild von Apophis

 

Ich zwang mich auf die morschen Bretter der Brücke zu blicken. Nicht aus Mut, sondern aus Zwang, aus einem inneren Befehl heraus, den ich mir gab, kroch ich weiter. Ich wusste, andernfalls wären wir verloren.

 

Wir erreichten das Ende der Brücke und waren wieder auf festem Fels. Froh diese Hürde bestanden zu haben, schleppten wir uns weiter. Doch es schien, dass ich alle meine Kräfte aufgebraucht hatte. Ich begann zu taumeln. Ich war nahe daran in Schlaf zu verfallen. Nein, was drohte war kein Schlaf, es war das langsame Verlöschen meines Wissens um mich selbst.

Mein Denken begann sich im Kreis zu drehen. Immer wieder fragte ich mich, weshalb wir hier wären, was unsere Aufgabe wäre. Dann vergaß ich auch das. Ich ging einfach nur wie ein seelenloses Geschöpf, ohne zu wissen weshalb. Es war mein innerer Befehl, der noch wirkte. Ich schleppte mich weiter ohne ein Ziel zu haben. Hierbei blickte ich auf die Geparden, als wären sie das Ziel, auf das ich zugehen müsse. Wären die Geparden in den Abgrund gelaufen, ich wäre ihnen automatisch gefolgt. Dann verlor ich auch diesen Antrieb und in der übermäßigen Ermattung und Sinnlosigkeit des Daseins ließ ich mich zu Boden fallen, um für immer liegen zu bleiben. Wie von weitem hörte ich: "Meine Göttin, Atnife, komm, steh auf."

Ich hatte meine göttliche Herkunft vergessen und war ein verdunkeltes, glanzloses Wesen. Allmählich, ohne es zu merken schien ich zu Stein zu werden, zu dem Schreckensbild, das ich irgendwann hatte und das immer deutlicher in mein Bewusstsein drang. Doch ohne es noch zu wissen hatte ich einen Rest von Glanz und Atmedef versuchte diesen in mir zu retten, indem er mich schüttelte und zu mir rief.

Mit Mühe hob ich den Kopf und blickte mit meinen glanzlosen Augen zu dem, der zu mir rief. Ich erkannte ihn nicht und wusste nicht, was er von mir wollte. Da wurde ich hochgehoben und getragen. Ich hing über die Schulter jener Person wie ein großer schwerer Wasserschlauch. Es war mir gleich was mit mir geschah, Hauptsache war, dass ich mich nicht bewegen und nicht denken musste. Die Person schien eine kurze Pause einzuhalten und setzte mich ab. Wieder wurde ich hochgehoben. Ich wurde an den Armen gehalten und hing über den krummen Rücken Atmedefs. Mit den Füßen schleifte ich am Boden nach. Als ich meinen Kopf bewegt und auf seine Schulter gelegt hatte, wechselte er die Position. Er ging er in die Knie, zog mich an einer Hand über die Schulter und mit der anderen Hand hob er mich in Hüfthöhe und hielt mich dort fest. Reflexartig klammerte ich mich mit der zweiten Hand um seinen Hals fest.

 

 

Ohne Atmedef an meiner Seite wäre ich verloren gewesen

 

Atmedef schleppte mich auf seinem Rücken weiter. Als Apophis merkte, wie mich Atmedef zu retten versuchte, heulte er vor Wut auf. Es war ein Heulen wie von einem Orkan. Fauliger Wind fegte vorbei.

 

Atmedef kämpfte sich mit übermenschlicher Kraft weiter. Der unbeherrschte Zorn von Apophis war es, der Atmedef wach hielt und uns dadurch das Leben rettete. Ohne Bedrohung hätte sich Atmedef vielleicht in den Schlaf sinken lassen. So aber wurde er von dem, der ihn vernichten wollte, unbeabsichtigt gerettet.

 

Später, nach unserer Reise, dachte ich darüber nach, weshalb Atmedef so stark sein konnte, um mich und sich selbst aus dem Reich des Apophis zu retten. Ich fand es heraus und die Erkenntnis erschütterte und schmerzte mich. Er hatte seine Stärke durch seine Wiedergeburten gewonnen. Jedes mal wenn er in die irdische Welt getreten war, war es eine Begegnung mit der Ausstrahlung von Apophis. Apophis konnte zwar nicht körperlich die irdische Welt aufsuchen, aber er konnte sie mit seiner inneren zerstörenden Kraft durchdringen. Solcherart musste Atmedef sich immer wieder mit Apophis messen. Ja, Apophis ist in der materiellen Welt gegenwärtiger als Re-Atum.

 

Atmedef schleppte mich eine weite Strecke mit sich. Dann war auch er erschöpft und sank ermattet zu Boden. Aber er gab sich nicht der Dumpfheit hin. Seine Schwäche und Unfähigkeit mich weiter tragen zu können schmerzte ihn. Es war ihm gleichgültig was mit ihm geschehen würde, ob er immer an diesem Ort bleiben müsse oder nicht. Es interessierte ihn nicht. Einzig und allein mein Heil war ihm wichtig. Er ließ mich nicht flach auf dem Boden liegen, sondern stützte mich, damit ich wenigstens sitzen würde, umarmte mich und weinte heiße Tränen. "Atnife, geliebte Göttin, komm zu Dir, erwache", flehte er mich immer wieder an.

 

 

Unter Tränen beschwor er mich aufzuwachen

 

So wie eine halb vertrocknete Wüstenpflanze durch den Regen erwacht, wurde ich durch seine Tränen zusehends belebt. Seine Hingabe und Liebe erweckte mich zu neuem Leben. Ich öffnete die Augen und sah ihn an. Ich sah in ihm seine Liebe. Mit dem zurückkehrenden Leben stieg Liebe und Dankbarkeit in mir auf, Eigenschaften die für Apophis wie Gift wirkten. Schwach waren diese Gefühle noch, aber sie wurden zusehends stärker.

 

Atmedef war glücklich als er sah, dass ich die Augen aufschlug. Er schaukelte mich in seinen Armen wie ein kleines Kind und sprach in einem fort: "Atnife, Geliebte". Dann begann er mir Lieder vorzusingen. Kinderlieder waren es, die seine Mutter ihm einst vorgesungen hatte. Ich gewann zusehends an Kraft und die Ausstrahlung von Apophis verflüchtigte sich mehr und mehr. Bald lächelte ich und umarmte ihn aus eigenem Antrieb. Glühende Liebe durchpulste mich als neue Energie und vertrieb Kälte und Dunkelheit. Die Göttin in mir war neu erwacht. Apophis war besiegt. Er hatte keine Kraft mehr über uns.

 

Wir erhoben uns und setzten den Weg fort. Festen Schrittes gingen wir nun. Bald fanden wir einen Gang, der steil nach oben führte. Er schien uns ein Weg in die Freiheit zu sein. Über Geröll und Fels kletterten wir nach oben, die Geparden zuerst. Nach mir folgte Atmedef, welcher der Schlangenfrau immer wieder die Hand reichte und sie hoch zog.

 

Beim letzten Stück versagten die spärlichen Kletterkünste der Schlangenfrau vollends. Atmedef schulterte sie und sie hielt sich an ihm fest. So war auch sie zuletzt oben angelangt.

 

Danach verlief der Gang horizontal und wir sahen sein Ende als fahlen Schein, das Zeichen einer helleren, wenngleich noch immer dämmrigen Sphäre, die auf uns wartete. Glücklich strebten wir dem Ausgang zu.

 

 

Die achte Sphäre

 

 

Die Schlange Weltumringler. Sie speit Feuer und hat ein Anch-Zeichen neben ihrem Maul. Ihr gewundener Körper wird von einer Gestalt gehalten, die "das Mädchen" genannt wird.

 

 

 

Wir hatten den schwierigen Kletterweg über Fels und Geröll geschafft. Als wir mit dem Tor die Welt von Apophis verlassen hatten, waren wir erleichtert. Die Hölle von Apophis war hinter uns.

 

Etliche Schritte später nachdem wir das Tor verlassen hatten, blickte ich noch zurück zum Tor. Ich erschrak. Es war eine zu Fels erstarrte dämonische Fratze, die stöhnte. Der verzweifelte Zorn von Apophis war es, den ich fühlte. Er hatte sich voll auf mich konzentriert, in der Hoffnung eine Göttin stürzen zu können, eine der Sängerinnen von Bastet, die ihm einst die Hilfe verweigert hatten.

 

Schnell entfernten wir uns vom Tor. Auch die achte Sphäre war eine unterirdische Welt und bestand wie die letzten Sphären aus einem Höhlensystem. Die Höhlen und Gänge waren jedoch etwas freundlicher, nicht so bizarr und besser gangbar als die hinter uns gelassene siebente Sphäre. Gelegentlich fanden sich Stiegen, um steilere Abschnitte besser bewältigen zu können. Die Höhlengänge waren auch nicht bedrohlich eng wie in der sechsten Sphäre, sondern gut begehbar, ja geradezu einladend verglichen zu jenen der sechsten und siebenten Sphäre. In der Welt von Apophis waren zwar gelegentlich weite Gänge und Höhlen, sie erschienen uns jedoch bedrohlich, da wir dadurch leicht zu sehen waren. Deshalb schlichen wir uns dort die Wände entlang. Hier jedoch gingen wir mitten durch die Höhlen, gleichsam wie auf einer breiten Straße. Es mochten hier vielleicht auch noch Gefahren auf uns warten, aber nach der Welt von Apophis erschienen sie uns geradezu gering.

 

Die Wände schienen leicht zu schimmern, so dass die Gänge zwar dunkel, jedoch bereits einsehbar waren. Wir konnten uns solcherart gut zurecht finden.

 

Schweigend und glücklich wieder frei und in gewohnter Weise unterwegs zu sein, gingen wir Hand in Hand. Es tat gut einander körperlich zu fühlen. Durch die Geschehnisse in der Welt von Apophis hatte ich meinen Hochmut verloren. Ich empfand keinen Standesunterschied mehr, das Gemeinsame und unsere Liebe zueinander stand im Vordergrund.

Auch die Geparden schienen das Bedürfnis der Nähe zu haben, denn immer wieder rieben sie ihren Kopf an unseren Hüften und ließen ein zufriedenes Brummen hören.

 

Als wir eine Stunde gegangen waren, warfen wir uns in einer kleinen Höhlenkammer auf den Boden um auszuruhen. Jetzt erst merkten wir so richtig wie erschöpft wir waren. Ich nützte die Zeit, um mit Mutter Sachmet in Verbindung zu treten. Aber es war nicht möglich. Sachmet war nicht erreichbar und ich machte mir größte Sorge. Sollte Apophis über Re-Atum den Sieg errungen haben? Ich war nahe am Verzweifeln. Dann endlich empfing ich einen Impuls von meiner Mutter Sachmet-Bastet und die Verbindung war wieder möglich. Ich war so glücklich, dass ich vergaß mich für das Ausbleiben meiner Verbindung zu ihr in der vorhergehenden Sphäre zu entschuldigen. Statt dessen gab ich meiner Freude ungehemmt Ausdruck und erzählte Sachmet welche Ängste ich um sie ausgestanden hätte und wie glücklich ich nunmehr über ihr Lebenszeichen wäre und wie sehr ich sie lieben würde. Auch Sachmet schien glücklich zu sein uns nicht verloren zu haben. Auch sie hatte große Ängste um uns ausgestanden, bekannte sie mir. In ihrer Freude lobte sie immer wieder unsere Tapferkeit und Stärke, dass es uns gelungen war diese Sphäre ohne den Schutz einer Isis, eines Seth und der anderen Götter geschafft zu haben. Sie erklärte mir, dass es ihr ein großes Bedürfnis wäre mich in ihre Arme zu schließen. Dann richtete sie noch Glückwünsche von Isis, Horus, ja sogar von Re aus und einer ganzen Schar weiterer Götter, die sie namentlich nicht aufzählen wollte. Ich war erstaunt wie viele sich um uns Gedanken gemacht hatten und freuten, dass wir wohlauf waren.

 

Wenngleich wir uns nicht sahen und nur die telepathische Verbindung bestand, so hatte ich doch das Gefühl mit meiner Mutter und den anderen Göttern wieder vereint zu sein und die Gewissheit, dass es Mutter Sachmet ab nun wieder möglich wäre mir bei Gefahr mit ihrer Kraft beizustehen. Das innere Band zu Sachmet war mehr als ein Band der Liebe, es war auch ein Band der Kraft.

 

Nach dem Gespräch mit Sachmet blieben wir weiter in der Höhlenkammer sitzen. Ich sah zu Atmedef und das goldene Schen-Amulett schimmerte mir von seiner Brust entgegen. Hatte ich es ihm damals als Zeichen des ewigen Schutzes übergeben, so hatte es mittlerweile für mich eine andere und tiefere Bedeutung bekommen. Nunmehr sah ich darin das Zeichen unserer ewigen und unvergänglichen Liebe. Ich teilte meine Gedanken Atmedef mit und er schien darüber sehr glücklich zu sein. Ich glaube ein schöneres Geschenk hätte ich ihm nie geben können. Ich merkte, er ließ meine Worte in sich nachklingen und wiederholte sie in der Vorstellung mit der Absicht sie sich dadurch auf ewig einzuprägen.

 

 

Möge unsere Liebe unvergänglich wie Re sein und ihr Sonnenglanz unsere Herzen erhellen.

 

Atmedef schwieg für eine lange Weile und dann sprach er, für mich bereits unerwartet: "Möge unsere Liebe unvergänglich wie Re sein und ihr Leuchten gleich seinem Sonnenglanz unsere Herzen erhellen. Durch unsere Liebe erst bin ich zum Leben erwacht. Mit jetzt verglichen war ich vorher nur ein Schatten. Meine Seele leuchtet."

 

Ich war gerührt. Tränen rollten meine Wangen hinab. Ich benetzte meine Fingerspitzen damit und bestrich mit meinen Tränen Atmedefs Schen-Amulett. "Meine Tränen der Liebe sollten als Lebenswasser die Kraft des Amulettes stärken, auf dass wir durch seinen Schutz für immer vereint bleiben mögen", sagte ich

 

 

Meine Tränen der Liebe mögen die Kraft des Schen zum Leben erwecken, damit sein Schutz uns auf ewig vereine

 

 

Die neunte Sphäre

 

 

Zwölf Feldgötter beschließen die Stunde. Sie lassen Bäume und Pflanzen entstehen.


 

 

Der Wadjettempel

 

Unsere Reise durch die achte Sphäre war ohne Zwischenfälle erfolgt. Die Schlangenfrau hatte sich uns angeschlossen und im Laufe der Wanderung einen Großteil ihrer Scheu verloren. Sie sprach zwar nicht mit uns, schloss sich jedoch ohne größerem Abstand als Letzte unserer Gruppe an.

 

Als wir vor uns einen schwachen Lichtschein sahen, freuten wir uns. Es war der verlockende Ruf einer Welt mit freiem Himmel. In wenigen Augenblicken würden wir das düstere Höhlensystem der achten Sphäre verlassen haben.

 

Wir betraten die neue Sphäre. Es war eine enge Felsenschlucht, in die wir kamen. Erstmals zeigte sich uns wieder der Himmel. Es war keine Welt mit leuchtendem Mittagshimmel, sondern mit der Helligkeit einer sternklaren Nacht. Nach mehreren Höhlensphären, die wir nunmehr durchwandert hatten, war dies jedoch für uns hell, freundlich und einladend.

Erleichtert atmeten wir tief die frische Luft ein. Wir blickten empor zum Himmel und es war uns als hätten wir ein Gefängnis verlassen. Wir fühlten uns frei und glücklich.

 

Allmählich weitete sich auf unserem Weg die Schlucht und öffnete sich einer Wüste, die bald vom Geröll zu einer Sandwüste über ging. Die Kämme der Sanddünen schienen im Rot der Abendsonne zu leuchten. Wir setzten uns an den Rand der auslaufenden Felsen und hielten Rast mit dem Blick zum goldenen Sand.

 

Wir waren eine Weile schweigend gesessen, da hörten wir in unserer Nähe Gesang. Wir blickten hin und sahen die Schlangenfrau, die dankbar die Hände zum Himmel erhob und in einem wunderschönen Gesang Re-Atum in seiner Herrlichkeit pries. Zu unserer Überraschung sahen wir, wie während des Gesanges rundherum aus dem Sand Uräus-Schlangen hervor kamen. Unter ihrem Licht, das sie ausstrahlten, begann der Nahbereich der Wüste wie ein Sternenhimmel zu funkeln. Es war ein erhebender, überirdisch schöner Anblick.

 

Wir fühlten das Kraft-Feld, das der Gesang der Schlangenfrau aufbaute. Ich hatte dergleichen selten erlebt. Als dann die Schlangenfrau mit ihrer Lobpreisung zu Ende war, fühlten wir uns gestärkt wie nach einem kräftigen Mahl.

Noch etwas erstaunte uns: der vormals halbdurchsichtige Körper der Schlangenfrau hatte sich während des Gesanges materiell verfestigt. Ihr Hauchkörper hatte sich in einen neuen Körper aus Fleisch und Blut eingekleidet.

Wir rätselten woher diese immense Kraft und Magie kommen würde, denn sie überschritt bei weitem alles, was wir der Schlangenfrau je zugetraut hatten.

 

Als die Schlangenfrau unser Staunen sah, lächelte sie. Sie schien sich hier in der Wüste in ihrer Heimat zu fühlen und war glücklich. Sie kam zu uns und umarmte jeden von uns, um ihr Glück mit uns zu teilen. Dann bat sie uns ihr zu folgen. Sie hätte das Gefühl, sagte sie uns, dass ein Ort ihrer Bestimmung nahe wäre und sie rufen würde. Es wäre auch für uns wert mit zu kommen, meinte sie, denn dort würde uns ein Segen erwarten, als Dank für unsere Hilfe, die nach endlos langer Zeit der Verbannung zu ihrer Errettung geführt hatte.

 

Neugierig und ein kleines Abenteuer erwartend machten wir uns auf den Weg und folgten der Schlangenfrau. Ungeduldig, als wollte sie ihr Ziel möglichst bald erreichen, eilte sie uns zwanzig Schritte oder mehr voraus.

Es war ein weiter Weg durch die Wüste. Die Wüste war jedoch kühl wie an einem Morgen und der Weg dadurch schön und erholsam. Unsere Wanderung durch den goldgelben Sand war in starkem Kontrast zu den dunklen Höhlengängen, die wir hinter uns gelassen hatten. Es war einfach schön.

 

Nach einem durchaus langen Marsch, ohne Tagesrhythmen war die Zeit hier kaum abschätzbar, sahen wir weit vor uns einige felsige, unbewachsene Hügel. In unserem leichtem und unbeschwertem Gehen näherten wir uns rasch. Als wir nahe heran waren, sahen wir an der Basis eines der Hügel eine Tempelanlage. Näher gekommen erblickten wir steinerne Uräen, welche vor einem massiven Holztor sich in zwei Spalieren aufbauten.

 

Wir gingen direkt auf das Tor zu, uns voran die Schlangenfrau, die in freudiger Erwartung während der ganzen Wanderung das Tempo vorgegeben hatte. Es war keine Menschenseele vor dem Tempel zu sehen und wir erwarteten einen verlassenen Tempel. Er stand auch völlig verloren in der Wüste und kein Haus oder Dorf war zu sehen.

 

Das Tor war noch intakt und bestand aus zwei hölzernen Torflügeln, die mit ornamental in sich verschlungenen Schlangen aus Bein dekoriert waren. Die Schlangenfrau ließ Atmedef wegen dem schweren Tor Vortritt. Quietschend tat sich nach einiger Kraftanstrengung der schwere Torflügel auf. Die Schlangenfrau drängte gleich hinter Atmedef nach. Meine zwei Geparden und ich folgten. Wir gelangten in eine geräumige Halle und staunten, als wir darin eine große, bunt gemischte Gruppe von Pilgern sahen. Einige wenige Priester sorgten für Ordnung und vollzogen gerade Tempelriten. Perplex starrten wir die Menge an. Auch die Leute verstummten plötzlich und starrten zu uns. Es dauerte einige Augenblicke bis ich begriff, dass es die Schlangenfrau war, zu welcher alle gebannt hinblickten. Dann knieten sie vor ihr nieder und beugten ihre Häupter zum Boden. Nach einer Weile hoben sie wieder ihr Gesicht und blickten gespannt auf die Schlangenfrau in Erwartung irgend einer Erklärung oder eines Zeichens. Die Schlangenfrau jedoch schwieg. Nach den vielen Jahren der Einsamkeit in dem Höhlenlabyrinth war sie scheu und wusste mit Menschen nicht umzugehen.

 

Da näherten sich zwei Priester, verbeugten sich und begrüßten sie erneut. Ich übernahm das Wort, um der Schlangenfrau beizustehen und sprach zu ihnen: "Die Tochter der Wadjet", schnell gab ich ihr den Priestern gegenüber diesen Namen, "und wir haben eine weite Reise hinter uns. Wir sind erschöpft und bedürfen zuerst der Ruhe, bevor wir ansprechbar sind."

 

Die zwei Priester sahen uns erstaunt an. Für sie waren wir dadurch noch rätselhafter. Sie richteten sich wieder auf und bedankten sich bei der Schlangenfrau, dass sie als die erhabene Tochter der große Schlangengöttin Wadjet ihnen die Ehre gab den einsamen Tempel zu besuchen.

Sie führten uns in einen gemütlichen Raum mit vielen Teppichen und weichen Kissen. Der Oberpriester selbst brachte uns in Begleitung von zwei weiteren Priestern Speise und Trank. Wir ließen es uns gut gehen und zeigten keine Eile, schon um der Schlangenfrau die Möglichkeit zu geben sich mit der neuen Situation abzufinden.

Immer wieder brachten Priester Speisen und Getränke, obwohl wir schon gesättigt waren. Dann erkannte ich den Grund der etwas überzogenen Fürsorge - es waren jedes mal andere Priester, die herein kamen. Sie alle wollten die Tochter der Wadjet aus der Nähe sehen und suchten deshalb nach einer Möglichkeit sich unauffällig der Göttin zu nähern.

 

Nach geraumer Zeit kam wieder der oberste Priester. Er teilte mit, dass die gesamte Priesterschaft des Tempels im Versammlungsraum sitzen würde und er bat die Tochter der Wadjet ihnen die Ehre ihrer Gegenwart zu geben. Wir folgten ihm. Ich war hoch gespannt auf das Kommende.

 

Wir durchquerten einige Räume und etliche Gänge. Das Anwesen schien größer zu sein als wir ursprünglich erwartet hatten. Der Versammlungsraum in den wir dann gelangten war groß und schön. Bunte Fresken, meist Schlangenmotive, verzierten die Wände. Die Schlangenfrau wurde zu einem Ehrenplatz an der Frontseite geleitet. Ich bestand darauf als ihre Sprecherin neben ihr zu sitzen. Atmedef und die zwei Geparden bekamen in einigem Abstand Plätze zugewiesen. Uns gegenüber saß der Oberpriester und links und rechts von ihm Priester mit tieferen Rängen. Aus mehreren der Seitentüren kamen noch einige Priester und Novizen als Nachzügler in den Raum. Es waren überraschend viele Priester in diesem Tempel. Bald waren es so um die zwanzig Personen. Noch einmal, diesmal als zeremonielle Handlung wurden uns Speisen und Getränke gebracht. Als wir einige Bissen der Gaben des Begrüßungszeremoniells eingenommen hatten, herrschte Schweigen im Raum und alle blickten uns erwartungsvoll an.

 

Die Schlangenfrau sah hilfesuchend zu mir. Die neue Situation überforderte sie. Ich wisperte ihr zu, sich als erstes den Priestern namentlich vorzustellen. Zu meinem Erstaunen erklärte mir die Schlangenfrau, dass sie keinen Namen wüsste, immer alleine gelebt hätte und sie nie jemand angesprochen hätte. Schnell erfand ich einen Namen und riet ihr sich „Tochter der Wadjet aus den Osirishöhlen“ zu nennen. Der Titel wirkte und die Priester verneigten sich alle.

 

Danach blickte die Schlangenfrau wieder hilfesuchend zu mir. Damit die Priester nicht die Unsicherheit mitbekommen würden, tat ich so als wäre ich von der Schlangenfrau aufgefordert worden mich und meine Begleiter vorzustellen. Ich bedankte mich halblaut bei der Schlangenfrau für dieses Zuvorkommen und stellte mich als Tochter der Sachmet vor und Atmedef als großen Krieger. Ich las die Gedanken des Oberpriesters. Er hielt mich für eine Pharaonin. Schließlich war es üblich, dass sich Pharaonen und ihre Frauen als Söhne oder Töchter einer Gottheit ausgaben. Als Pharaonin wäre ich eine angemessene Ehrenbegleitung der Tochter von Wadjet. In Atmedef sah er einen Leibwächter. Ich beließ ihn in diesem Glauben. Ich merkte ihm auch eine gewisse Zufriedenheit darüber an, dass der Ruhm des Tempels sich so weit verbreitet hatte, dass sogar eine Pharaonin käme. Sicher würde die Pharaonin eine große Spende dem Tempel übergeben.

 

Ich war über derlei unfromme Gedanken nicht sehr erfreut. Nun ja, typisch Mensch, dachte ich. Dann besänftigte ich meinen Groll durch die Einsicht, dass ein Oberpriester auch ein Geschäftsmann und Manager sein muss, wolle er den Tempel nicht verkommen lassen. Genau genommen dient er ja nicht nur der Gottheit, sondern muss auch Sorge tragen, dass die Tempelpriester durch gesicherte Einkünfte zu Essen haben.

 

In der nächsten Gedankenfolge dachte der Priester nach, weshalb Wadjet sich die Mühe gab eine ihrer Töchter hierher zu schicken. Ob damit eine Art Tempelinspektion gemeint sei?

Das war ein passendes Signal für mich, an das ich gleich anknüpfte.

Bevor noch eine Pause entstehen konnte und mich die Schlangenfrau wieder hilfesuchend ansehen würde, wisperte ich ihr zu, dass sie den Priestern erklären möge, dass sie von Wadjet hierher geschickt wurde, Wadjet sie jedoch über den Tempel im Unklaren gelassen hätte. Sie bitte deshalb den Oberpriester einige Erklärungen bezüglich dem derzeitigen Stand des Tempels abzugeben und ihr anschließend den Tempel zu zeigen, inklusive dem innersten Heiligtum.

 

Die Schlangenfrau erklärte fast wörtlich in der von mir vorgesagten Weise ihren Auftrag. Sie war derart hilflos und froh eine Antwort geben zu können, dass es ihr nicht einmal auffiel, dass die Worte zwar im weitesten Sinne eine gewisse Wahrheit in sich tragen würden, der Priester jedoch alles anders und zwar direkter auffassen würde. Hätte sie dies gewusst, so hätte sie sich sicher geweigert den Priester zu täuschen. Ich hätte dann wohl nicht die Zeit gehabt, ihr klarzumachen, dass das Wesentliche einer Erklärung nicht in ihrer verbalen Wahrheit liegen würde, sondern in dem was sie bewirkt. Nun, jedenfalls, nach dem langen Leben der Einsamkeit und niemand weiß wie ihr Leben davor war, war sie unfähig zu einer Kommunikation und glücklich mich als Stütze an ihrer Seite zu haben. Ich muss sagen, sie konnte wirklich glücklich sein, denn in mir hatte sie eine gute Diplomatin.

 

Nachdem die Schlangenfrau ihrer Erklärung nichts mehr hinzuzufügen hatte, war der Oberpriester an der Reihe hierzu Stellung zu nehmen. Der oberste Priester empfand die Situation heikler als er zunächst gedacht hatte und diplomatisches Geschick schien ihm angesagt, zumal da er völlig über den Sinn des Besuches einer Göttertochter der Wadjet im Unklaren war. Er begann zunächst mit einer Ruhmrede über den Tempel. Er erklärte, dass der Wadjettempel, obwohl abseits und einsam gelegen, ein sehr angesehenes Heiligtum wäre. Von weit her kämen die Pilger. Gleich im nächsten Ansatz berichtete er, dass die Priester alles tun würden, um den Tempel gepflegt zu halten und seinen Ruhm zu verbreiten. Der Tempel sei berühmt, weil im innersten Heiligtum das heilige Feuer der Wadjet brenne, das ungebrochen einer Erdspalte entströme. Täglich würden hier Andachten abgehalten werden und Unbefugte würden dem Heiligtum fern gehalten werden. Dann machte der Priester eine Pause. Ich las eine große Verzweiflung in ihm.

In seinen Gedanken erkannte ich, dass sehr wohl Unbefugte das Heiligtum betreten würden, nämlich Räuber. Sie würden regelmäßig den Tempel aufsuchen, um die Opfergaben zu plündern. Etliche Male schon hätten die Räuber zum Zeichen ihrer Entschlossenheit Priester getötet, um das Herausrücken auch der letzten Spende zu erpressen. Außerdem wären in letzter Zeit immer weniger Pilger gekommen, weil auch Pilgergruppen überfallen wurden und sich dies herumgesprochen hatte. Innerlich seufzte der Priester, wagte es aber nicht nach außen seinen Kummer zu zeigen.

Der Priester bedankte sich noch einmal für das Kommen der Tochter der Wadjet und erklärte sich bereit eventuelle Fragen zu beantworten.

 

Gleichsam als Sprecherin der erhabenen Wadjet-Tochter begann ich die telepathisch erworbenen Informationen zu nutzen. Ich erklärte dem Priester: "Die erhabene Göttin Wadjet ist sehr irritiert darüber, dass das Allerheiligste durch geldgieriges Räubervolk besudelt wird. Sie legt Wert darauf, dass ihr Geschenk, die heilige Flamme von den Menschen geschätzt und rein gehalten wird."

 

Der Oberpriester wurde kreidebleich und bat in gestammelten Worten um Vergebung. Er beteuerte die Hilflosigkeit der Priester gegenüber den kriegsgeübten und bewaffneten Räubern.

Jetzt hatten wir die Situation vollkommen in der Hand. Die Schlangenfrau allerdings bekam von dem Gespräch überhaupt nichts mit. Das Leben der Menschen mit seinen Aspekten wie Geldgier und Raub schien ihr völlig fremd zu sein. In ihr wirkten dagegen die Worte nach, die ein Heiligtum mit der ewigen Flamme der Göttin Wadjet erwähnten. Die Vorstellung hiervon faszinierte sie und ließ sie nicht los, so dass sie, kaum dass der Priester seine Entschuldigung gestammelt hatte, diesen bat ihr das Heiligtum mit der Flamme zu zeigen.

Erleichtert nahm der Oberpriester den Wunsch auf. Schneller als erhofft hatte sich ihm die Gelegenheit ergeben der peinlichen Situation zu entkommen. Eilfertig erbot er sich, die Schlangenfrau und uns augenblicklich zum Heiligtum zu führen.

 

Der Oberpriester mit zwei weiteren Priestern als Begleitung erhob sich und bat uns mit leichter Verbeugung ihm zu folgen.

 

Wir gelangten über einige Gänge zu einem kleinen Raum mit einem Wasserbecken. Hier wuschen sich die Priester die Hände und spülten den Mund. Ein erforderliches Reinigungsritual, durch das symbolisch jene, die das Heiligtum betreten wollten, von unreinem Sprechen und Handeln gesäubert werden sollten. Atmedef und ich taten es den Priestern gleich. Die Schlangenfrau bekam den Sinn nicht mit. Sie war zu sehr darauf aus die heilige Flamme zu sehen und wartete bereits darauf weiter geführt zu werden. Die Priester störten sich nicht daran, im Gegenteil, es war für sie eine Bestätigung des hohen Besuches, denn eine Göttin aus dem Nahbereich von Wadjet hatte das Ritual nicht nötig.

 

Der Oberpriester sah mich an und blickte dann zu den Geparden, um uns zu bedeuten, dass die Tiere nicht den heiligen Raum betreten dürften. Ich ignorierte die Geste. Der Oberpriester war durch unser Auftreten zu sehr eingeschüchtert und unternahm keine weiteren Anstalten. Er fürchtete meine Frage, weshalb die Begleiter und Beschützer der Göttin, und dazu zählten auch die Geparden, das Heiligtum nicht betreten dürften und Räuber dagegen sehr wohl.

 

Nach der Vorkammer betraten wir eine natürlich belassene und schmucklose Kaverne, die schon viele Jahrtausende oder noch längere Zeiten bestanden haben mochte. In der Mitte der Höhle war ein Kreis aus Steinplatten als Abgrenzung des allerheiligsten Teiles und einige Steinsäulen, welche das Zentrum zusätzlich betonten. In diesem loderte eine Knie hohe Flamme. In ihrer Unregelmäßigkeit schien sie gleichsam zu leben. Bisweilen sank sie in sich zusammen, um gleich darauf wieder zischend hoch zu lodern.  Es wurde uns bei der Abgeschiedenheit der Höhle und der heiligen Flamme klar, dass dieses Heiligtum streng gehütet war und außer einigen wenigen Priestern, niemand den Raum betreten durfte. Später hörten wir, dass zu einem bestimmten Fest einmal im Jahr auch Pilger den Raum betreten durften, um des Segens von Wadjet teilhaftig zu werden. Es war dies ein großes Fest, zu dem von weit her tausende Pilger kamen.

 

Ich fühlte, dass die Schlangenfrau allein sein wollte und zog mich mit Atmedef und den Geparden in eine Nische nahe dem Eingang zurück. Wir setzten uns dort auf den Boden. Die drei Priester betrachteten dies als Aufforderung und setzten sich in unsere Nähe.

Die Schlangenfrau ging nahe an die Flamme heran und verharrte dort schweigend. Dann begann sie zu zischen und zu summen und bald darauf stimmte sie ein Lied an. Das Lied war in einer uns unbekannten Sprache und schien aus gesungenen Zaubersprüchen zu bestehen. Es strahlte eine ungeheure Kraft aus. Wir wagten kaum zu atmen. Da begann die Flamme zu wachsen. Sie erreichte die doppelte Höhe eines Menschen und schien einer tanzenden Schlage immer ähnlicher. Dann wurde die Form noch dichter und statisch. Wir erblickten in den Flammen den leuchtenden Flammenleib der Göttin Wadjet, halb Mensch, halb Schlange. Sie glich in ihrem Aussehen der Schlangenfrau und nicht den sonst üblichen Darstellungen, in denen sie menschengestaltet und mit Löwenkopf gezeigt wird.

 

Wadjet lächelte der Schlangenfrau zu und bedeutete ihr näher zu kommen. Die Schlangenfrau glitt bis ganz an den leuchtenden Flammenleib Wadjets heran, ohne dass ihr die Flammen etwas anhatten. Da entnahm Wadjet ihrem Herzen einen goldenen Lichtball und ließ diesen in das Herz der Schlangenfrau schweben. Die Schlangenfrau erstrahlte daraufhin in goldenem, übernatürlichem Glanz. Es war ein überirdischer Anblick.

 

Ich blickte kurz zu den Priestern und sah wie diese fasziniert sich nach vorne gebeugt hatten. Sie sahen ein Wunder, wie es noch nie jemand im Tempel erschaut hatte. Noch nie war die Flamme etwas anderes als eine kleine Knie hohe Flamme gewesen. Ich war auch ergriffen und zugegebener Maßen überrascht. Ich hatte bislang nicht gedacht, dass die Schlangenfrau ein derartiges Nahverhältnis zu Wadjet hätte. Ich hatte sie als eine im Duat herumirrende Halbgöttin gehalten. Schließlich sah sie auch völlig anders aus als Wadjet wie ich sie kannte. Allerdings hatte mir das Auftauchen der Uräusschlangen in der Wüste bereits zu denken gegeben und war mir zumindest ein Hinweis, dass die Schlangenfrau über magische Kräfte verfügen müsse.

 

Nach dem überwältigenden Ereignis kehrten wir wieder zum Versammlungsraum zurück. Der Oberpriester erzählte den anderen Priestern über das große Wunder. Er wusste seine Erzählung gut auszuschmücken. Er berichtete, wie Wadjet in anderer Gestalt und ohne Sonnendiadem auf dem Haupt, als wie sie alle kannten, den Flammen in Übergröße erwuchs und lächelnd ihre Tochter begrüßte. Dann hatte sie ihrem Herzen eine Sonne entnommen und ihrer Tochter übergeben, worauf der gesamte Körper ihrer Tochter sonnenhaft aufleuchtete. Abschließend bedankte er sich mehrmals bei der Schlangenfrau für die große Gunst ihres Besuches und bat die Schlangenfrau so lange zu verbleiben wie es ihr nur möglich wäre und diese Bitte kam ihm aus vollem Herzen.

Ich nickte ihm stellvertretend für die Schlangenfrau zu und gab ihm solcherart ihr von mir ungefragtes Einverständnis. Der Oberpriester hatte bereits zur Kenntnis genommen, dass die Tochter der Wadjet kaum ansprechbar war und sich meiner als Vermittlerin bediente. Es unterstrich ihm die erhabene Weltabgehobenheit der Tochter der Wadjet.

 

Dann wurden wir zu einigen Räumen geleitet, die in der Zwischenzeit notdürftig zu unseren Gemächern eingerichtet worden waren. Unter uns und alleine gab ich der Schlangenfrau eine Reihe von Ratschlägen über Verhaltensweisen und dergleichen. Die Schlangenfrau hörte aufmerksam zu, stellte immer wieder Fragen. Sie war froh sich hierdurch in dieser fremden Welt besser zurecht finden zu können.

 

Wir ruhten uns aus. Als ich die Türe meines Raumes öffnete und auf den Gang trat, sah ich dort einen Priester warten, um unsere Wünsche entgegen zu nehmen. Gleich darauf kam auch die Schlangenfrau aus dem Zimmer und bat in den Ritualraum geführt zu werden. Natürlich wollten die Priester dort Rituale zu Ehren Wadjets halten und erhofften sich einen Beitrag durch die Tochter der Wadjet. Ich begrüßte das Ansinnen der Priester und erklärte ihnen, dass die Tochter der Wadjet den Zeremonien still beiwohnen würde, um ihnen durch ihre Gegenwart den Segen zu vermitteln.

 

So geschah es auch und wir genossen es ohne Verpflichtung und als Gäste dem Ritual beiwohnen zu können. Es war schön hier als verwöhnte Gäste des Tempels verweilen zu können. Wir ließen es uns gut gehen. Jeder Wunsch wurde uns von den Augen abgelesen.

 

Gelegentlich suchte ich den Andachtsraum der Pilger auf und besah mir die Menschen dort oder ich durchstreifte die Lagerplätze der Pilger. Der Tempel war gar nicht so einsam und isoliert als wir bei unserem Kommen gedacht hatten. Auf der anderen Seite des Hügels gab es ein Dorf und eine fruchtbare Oase. Dort kampierten die meisten Pilger. Wir, die alte eingeschworene Gruppe, suchten die Oase öfters auf. Die Leute kannten uns bald und ich galt bei ihnen als die Pharaonin. Die Schlangenfrau verblieb im Tempel und verließ diesen kaum. 

 

Eines Tages, wir waren gerade beim Essen, hatte ich das Empfinden, dass ein Spion der Räuber als Pilger getarnt gekommen wäre. Auf diese Gelegenheit hatte ich die ganze Zeit gewartet und hatte diesbezüglich meine telepathischen Fühler ausgestreckt. Ich stand noch während des Essens ohne Begründung auf und ging in Begleitung von Atmedef und meiner zwei Geparden aus dem Tempel zum Pilgerlager, auf der anderen Seite des Hügels. Wir mischten uns unter die Menschen und ich führte mit Unterstützung von Atmedef mit dem einen oder anderen der Leute beiläufige Gespräche. Bald war auch schon der Spion da. Auf Grund unserer schönen Kleidung, die wir von den Priestern als Geschenk erhalten hatten, wurden wir von ihm als reich eingestuft. Wir hatten gleich bei unserem Kommen sein Interesse erweckt. Nun, wo der Spion sich unter die Gesprächspartner gemischt hatte, wurde ich konkreter und gab mich als Pharaonin aus, so wie mich die ansässigen Leute schon kannten und berichtete, das ich dem Tempel reichlich Geschenke in Form von goldenem Zierart überreicht hätte, mit der Bitte, dass Wadjet mir durch ihren Segen Reichtum und Gesundheit erhalten möge. Ich rühmte auch die bekannt friedlichen Bewohner der Umgebung, welche die Begleitung von Kriegern unnötig machen würden. So nebenbei ließ Atmedef sein Amulett glitzern und brachte den verzierten Dolch in gut sichtbare Position. Ich las dem Spion ab, wie er immer aufgeregter wurde und es kaum mehr erwarten konnte, seinem Häuptling die Neuigkeit zu berichten. Um eine Aktion der Räuber zu beschleunigen erwähnte ich, dass wir in Kürze wieder abzureisen gedachten, mit einer kleinen Karawane, die wir uns mit dem restlichen Geld wohl leisten konnten.

 

Sehr zufrieden darüber die Räuber wahrscheinlich angelockt zu haben, schlenderte ich mit meinen Begleitern wieder zum Tempel zurück. In nächster Zeit, hoffentlich sehr bald, würden wir sicher Abwechslung bekommen.

Nach den Aussagen der Priester waren die Räuber eine ansehnliche Schar von etwa dreißig gut bewaffneten Männern. Mit den reichlichen Tempelabgaben konnte der Anführer sich eine solch große Schar wohl leisten. Wahrscheinlich plünderte er auch alle umliegenden Dörfer, um sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Anzahl seiner geheuerten Gefolgsleute schreckte mich nicht ab. Ich vertraute meiner magischen Kraft und meiner Mutter Sachmet, die mir bei Gefahr sicherlich beistehen würde. Ich hatte das Gefühl mit denen leicht fertig zu werden. Ungeduldig wartete ich auf das kommende Ereignis.

 

Wir saßen wieder beim Essen und alle plauderten angeregt, als im Türrahmen eine breitschultrige Gestalt auftauchte. Die Priester erstarrten. Der bewaffnete Mann betrat den Raum und hinter ihm kamen so an die zwanzig Bewaffnete herein. Sie hatten grimmige und verkommene Gesichter. Etliche von ihnen hatten weiße Narbenstreifen. Die Männer verteilten sich am Rand der Halle und besetzten die Türen. Allen Anwesenden wurde befohlen sich in einer Ecke zu sammeln und dort nieder zu knien. Widerspruchslos gehorchten die Priester. Wir dagegen blieben sitzen. Nur mit Mühe konnte ich die Geparden zurück halten auf die Männer los zu springen. Atmedef fasste nach seinem Dolch mit dem Elfenbeingriff.

 

Die Schlangenfrau beobachtete alles mit Erstaunen und begriff nicht was da vor sich ging. Ich erklärte ihr, dass es Räuber wären, welche gekommen wären, um die Tempelspenden zu plündern. Ich hatte ihr das kaum mitgeteilt, da baute sich schon der Häuptling vor uns auf und sprach etwas in barschem Ton, das ich nicht beachtete. Statt dessen wisperte ich der Schlangenfrau zu: "Der da, der gerade etwas zu uns spricht, hat auf unflätige Art oftmals das Allerheiligste der Flamme verächtlich besudelt. Gleich ihm seine Gefolgsleute. Der Schmutz seiner Ausstrahlung trübte immer wieder das Licht der Flamme." Die Schlangenfrau erstarrte und war vor Entsetzen wie versteinert. Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Mann an. Dieser hatte nicht genügend genau zu uns hergesehen und hatte offenbar ihren Schlangenleib nicht wahr genommen. Für ihn waren wir reiche Gäste, die von den Priestern eine Bevorzugung genossen. Er deutete das erstarrte Gesicht der Schlangenfrau als ein Zeichen der Angst. Da sie sich jedoch noch immer nicht rührte, um in der Ecke neben den Priestern nieder zu knien, brüllte er sie an. Das allerdings war das Schlechteste was er tun konnte. Die Schlangenfrau erwachte dadurch aus ihrer Erstarrung und flammte in unhaltbarem Zorn auf. Schneller als ich denken konnte schnellte sie mit einem schrillen Schrei hoch. Ihr Schlangenleib streckte sich und in ihrer Größe musste sie ihren Oberkörper beugen, weil die Decke des Raumes für sie zu nieder war. Ihr Körper leuchtete auf als wäre er aus glühendem Metall und Flammen züngelten heraus. Der Räuberhäuptling riss vor Schreck die Augen weit auf. Da schoss mit einem Schrei aus dem Mund der Schlangenfrau ein feuriger Lichtstrahl und schleuderte ihn weg. Gleich darauf alle anderen Räuber, die es wie trockenes Laub an das Ende des Raumes fegte, wo ihre Körper gleichsam zu schwarz verkohlten Mumien verbrannten und sich kurz darauf in schwarzem Qualm auflösten. Als solcher entströmten die Seelen der Räuber zischend und ächzend der Halle. Sie hatten durch ihre schlechte Lebensweise den Lohn eines Lebens im Duat verwirkt und würden ab nun während der Abwesenheit Res heulend durch die Einöden ziehen müssen. In den Zeiten jedoch, wenn Re der Sphäre sein Licht und seine Erneuerungskraft spenden würde, müssten sie sich im Sand verkriechen, um nicht von seinem Licht versengt zu werden.

 

Ich war durch die Schnelligkeit des unerwarteten Ereignisses überrumpelt. Eigentlich wollte ich die Räuber bekämpfen und hatte hierfür schon meine Kräfte gesammelt. Der Schlangenfrau hätte ich niemals diese Kraft zugetraut. Wiederum hatte mich die Schlangenfrau überrascht und mich gelehrt wie sehr ich sie unterschätzt hatte.

Nun, jedenfalls, war auf diese Weise das Problem unerwartet gelöst. So wie sich alles ereignet hatte, war es sogar viel besser, als von mir vorgesehen. Ihre eigene Göttin hatte die Priester beschützt. Besser hätte es nicht kommen können. Ich dachte gleich einige Gedankengänge weiter: vielleicht würde die Schlangenfrau bei ihnen bleiben und bei ihnen ein neues Zuhause finden, während ich mit Atmedef und den Geparden weiter ziehen würde.

 

So war es auch. Die Schlangenfrau blieb im Tempel. Alle waren glücklich darüber. Der Oberpriester sah in seiner Vorstellung den Tempel in neuem, nie da gewesenem Ruhm erstrahlen, mit Scharen von Pilgern, die aus den weitesten Teilen des Landes herbeiströmen würden. Welcher Tempel im Land konnte sich rühmen eine Göttin zu beherbergen gleich seinem Wadjettempel?

 

Die folgenden Tage waren für uns eine glückliche Zeit, doch sie ging zu Ende. Unser Abschied war herzlich. Die Priester und Dorfbewohner zeigten uns ihre Verehrung und Liebe, die sich nicht nur durch die Ereignisse, sondern in der Folge vor allem durch Kontakte und Bekanntschaft entwickelt hatten. Vor allem als Heilerin, zu der ich von Sachmet ausgebildet worden war, hatte ich vielen geholfen und mir viele Freunde erworben. Priester und Dorfleute bemühten sich und ließen sich manches einfallen, um unsere kommende Reise zu erleichtern. Die Priester und einige Pilger beschrieben uns den weiteren Weg und gaben uns nützliche Hinweise. Wir erhielten so viele Geschenke, dass wir sie nicht mehr hätten tragen können. Als sie das sahen übergaben sie uns zusätzlich zwei Esel. Das Land war aber zu karg und unsere Eseln hätten gewiss hungern müssen. Das wollten wir ihnen nicht antun und so lehnten wir deshalb dankend ab. Wir nahmen nur, was wir mühelos auf unserer Wanderung mit uns tragen konnten.

 

Eine größere Anzahl von Priestern, Pilgern und Leuten aus dem Dorf eskortierte uns als wir abreisten. Unterwegs wurden ihrer weniger, aber etliche blieben bei uns bis wir das Tor zur nächsten Sphäre erreicht hatten. Die Schlangenfrau, jetzt offiziell die "Tochter der Wadjet", umarmte uns heftig und benetzte unsere Wangen mit ihren Tränen. Ein etwa fünfjähriger Bub trat stolz vor mich hin, baute sich auf und überreichte mir seine Flöte. Die Flöte schien alles zu sein, was er besaß und war sein größter Stolz. Ich kniete mich nieder, um auf gleicher Augenhöhe mit ihm zu sein und umarmte und küsste ihn. Dankbar nah ich seine Flöte an und sagte zu ihm: "Danke Dir, das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Ich werde Dir zum Dank darauf ein Lied spielen, für Dich ganz allein."

Als ich mit dem Lied fertig war, fragte ich ihn noch einmal: "Willst Du mir wirklich diese wunderschöne Flöte schenken? Du kannst sie noch zurück nehmen."

Er war geradezu empört über die Frage und betonte, dass er sie mir gerne geben würde und keineswegs mehr zurück haben wolle. Er wäre schon fast erwachsen und wisse was er wolle.

Ich nickte ihm ernst zu und umarmte ihn noch einmal.

 

Dann schritten wir durch das Tor, drehten uns um und winkten der Gruppe noch ein letztes mal zu. Als ich zu Atmedef blickte, sah ich, dass auch ihm einige Tränen die Wangen benetzten. Auch er hatte die Menschen lieb gewonnen.

 

Zehnte Sphäre

 

Re als schwarzer Nachtfalke in der doppelköpfigen Schlange. Die doppelköpfige Schlange sieht wie ein Boot aus (Sonnenschiff). Es könnte mit der Schlange die Schlange der Zeit gemeint sein - die ewige Reise von Re mit dem Sonnenschiff.

 

 

 

 

Im Tempel der Zeit

 

Unsere kleine Gruppe wanderte weiter. Die Tage im Wadjet-Tempel waren schön und der Tempel mit all seinen Bewohnern war für uns gleich einer Heimat. Durch eine weite Strecke blieben wir in unseren Gedanken noch dort und lebten in unserer Erinnerung so manche Szene noch einmal durch.

 

Die Landschaft änderte sich und wir gingen nun zwischen steilen, verwitterten Felsen, die im Sand ausliefen. Der Pfad verlief in einer Sandmulde zwischen den Felsen und war angenehm zu gehen. Wir konnten uns kaum die Richtung aussuchen und mussten den Windungen der Täler folgen. Dennoch war die Wanderung schön. Es war eine stille, friedliche Natur. Nach der Dunkelheit der Welt von Apophis und den angrenzenden Sphären schätzten wir das Tageslicht und in unserer gehobenen Stimmung empfanden wir jeden einzelnen der verwitterten und vom Flugsand ausgehöhlten Felsen einmalig schön. Mit ein wenig Bewunderung und Fantasie konnte man aus den furchigen Oberflächen und dem Spiel der Schatten symbolische Botschaften heraus lesen oder roh herausgearbeitete Kunstwerke sehen.

 

Nach einer Wegbiegung erklommen wir einen Hügel und sahen unerwartet unter uns eine Meeresbucht. Es war ein Ausläufer des Meeres Nun, von dem aus sich eine Bucht bis hier her zog. Unsere Augen folgten dem Glitzern der Wellen. Irgendwo weit weg in der Ferne wurde das Meer blasser und verschmolz mit einem ebenso blassen Himmel, ohne dass ein Horizont zu sehen war. Himmel und Meer wurden eins und man wusste nicht, wurde dort der Himmel zum Meer, das wir als blauen Himmel auch hoch oben über uns sehen konnten, oder floss der Himmel auf den Horizont und breitete sich von dort aus, um dann unten am Hügel zu unseren Füßen in Wellen auszugleiten. Auch die Hügel zu beiden Seiten der Bucht wurden in der Ferne blasser und lösten sich gleich Dunstschleiern auf. Wir setzten uns an den Rand eines Felsens und sahen andächtig auf das Bild der Unendlichkeit.

 

Lange saßen wir schweigend und ließen die Begegnung mit der Ewigkeit in uns wirken. Dann erhoben wir uns und stiegen den Felsen hinab. Wir erreichten jedoch nicht den Sandstrand, wie erwartet. Der Fels fiel senkrecht ab und verhinderte einen weiteren Abstieg. Ein schmaler Fußpfad entlang seiner Kante erlaubte uns parallel zur Küste weiter zu gehen. Allmählich jedoch führte der Weg zu unserer Freude tiefer hinab zum Meer und brachte uns solcherart doch zum Ziel. Mit jedem Schritt, den wir den Weg hinabstiegen wurde das Brausen lauter und dem Atem gleich hörten wir die Wellen an die Felsen schlagen. Tausende glitzernde Tropfen sprühten empor und funkelten wie weiße Sterne. Wir setzten uns an einen vorspringenden Felsen und sahen dem Schauspiel zu.

 

Irgendwann, nach langer Zeit unterbrach Atmedef die Betrachtung: "Die Wellen gleichen dem Atem von Atum. Immer schon fand ich Deinen Namen "at-nife", "der Atem von Atum" schön, aber jetzt, angesichts der Kraft der Wogen, ist es mir auch möglich Deinen Namen zu erleben, so weit ein Mensch dazu imstande ist."

 

Ich schwieg. Das innere Bild Atmdefs und seine Worte waren zu schön, als dass ich ihren Ausklang beenden wollte. Statt dessen gab ich mich vom Bild Atmedefs geleitet, dem Auf und Ab der brausenden Wogen hin. Und wirklich, je mehr ich mich darin verlor, desto mehr wurde ich eins mit dem kosmischen Atem, der alles Leben beseelt und in allem liebt und leidet. Ich wurde zum Schöpfergott Atum.

 

In diesem Zustand der Einswerdung mit Atum und der gesamten Schöpfung verschmolz ich in Liebe mit allem auf das sich meine Aufmerksamkeit richtete. Als sich mein innerer Blick meiner Mutter Sachmet-Bastet zu wendete, durchflutete mich eine unfassbare Liebe zu ihr. Die Liebe war so groß, dass sie alle Grenzen der Entfernung aufhob und mir Sachmet-Bastet ganz nahe war, ja, sie umgab mich sogar und durchdrang mein ganzes Wesen.

Lange verblieb ich in diesem Zustand. Als ich meine Augen wieder öffnete und auf das Meer sah, erschien mir aus den Wogen heraus ihr Bildnis.

 

Es dauerte lang bis ich in den Alltagszustand zurück fand. Atmedef dürfte meine innere Veränderung erfühlt haben. Auch er war in einem erhobenen Zustand, wie ich an seinem verklärten Gesicht erkannte. Waren wir gemeinsam in die All-Einheit eingetaucht? Ich dachte, dass es so gewesen sein könnte und war bei dem Gedanken unserer starken inneren Verbindung und Wechselwirkung glücklich.

 

Wir erhoben uns vom Felsen, dem wir die wunderbare Aussicht auf die Wogen und in deren Folge den Zustand der Einswerdung mit Atum verdankten. Schweigend gingen wir den Pfad weiter und bald führte der Weg sanft hinunter zur Sandbank des Meeres. Begleitet vom Schrei der Möwen und vom Duft des salzigen Wassers, gingen wir auf weichem Sand. Kleinste Glimmersteinchen glitzerten und hin und wieder ragte eine bunt gebänderte Muschel heraus. Zu gerne hätte ich die Muscheln einzeln betrachtet, gesammelt und mit mir genommen, aber dazu hatten wir weder die Zeit noch die Möglichkeit. So beglückten wir uns am Anblick dieser kleinen Herrlichkeiten und nahmen sie als Liebesfunken in unsere Herzen mit.

 

Als wir einer sehr kleinen Seitenbucht folgten, standen wir unvermutet vor der verwitterten Fassade eines Tempels. So wie es schien, war er ein vergessener Ort aus uralten Zeiten.

 

Als wir näher gekommen waren und erst recht erkannten, wie die Fassade von Wasser und Sand abgeschliffen und abgerundet war, rätselten wir: vielleicht war der Tempel bei seinem derart verwitterten Zustand aus der Zeit der Entstehung der Welt? Einer jener geheimnisvollen Orte, die einen der magischen Schreine bergen würden, in denen die Ordnungskräfte der Schöpfung aufbewahrt werden? Legenden berichteten hiervon, und es wurde ein Glaubenselement, obwohl niemand je einen solchen Schrein oder Tempel gesehen hatte. Jene in Schreinen aufbewahrten Urkräfte waren magische Baupläne der Welt, bestimmend für die Struktur und den zeitlichen Ablauf der Welt. Aus ihrem Zusammenwirken entstand Maat und ohne Maat würde das Chaos herrschen. Wer das Chaos wie wir erlebt hatte, dem erscheint Maat umso heiliger und bedeutungsvoller.

 

Wir wagten kaum zu atmen. Waren wir durch Zufall an einen solchen geheimnisvollen Ort gelangt, der ansonsten nur den höchsten Göttern vorbehalten und im Laufe der Äonen womöglich selbst von diesen vergessen worden war?

 

Zögernd und voll Ehrfurcht traten wir ein und gelangten in eine große Halle, die natürlichen Ursprunges zu sein schien und durch Steinmetz-Arbeiten erweitert und verziert wurde. Der Boden war mit Flugsand bedeckt und ließ unsere Schritte weich und lautlos werden. Am Rand der Halle standen überlebensgroße Statuen verschiedener unbekannter Gottheiten. Es waren auch einige türlose Eingänge zu Nebenräumen zu sehen. Vielleicht hatten sie einmal Vorhänge oder Holztüren, doch diese hatten sich, wenn es so war, im Laufe der vielen Jahrtausende aufgelöst.

Wir durchschritten die Halle zu einer Altar ähnlichen Anordnung. Es war dort eine mächtig große, aus Stein gemeißelte Gottheit auf einem Thron sitzend zu sehen, umgeben von anderen, ebenfalls unbekannten Gottheiten. Sie alle trugen Kronen, aber nicht solche, wie man sie in Ägypten kannte. Nach unserem ersten Staunen gewahrten wir hinter den Gottheiten einen niederen Durchgang, hinter dem ein dunkler Gang oder Tunnel zu sein schien. Allein schon die Tatsache, dass der Zugang derart versteckt und hinter dem Altar war, machte uns neugierig.

Wir schlüpften durch die Türhöhlung und gelangten in einen Gang. Nach wenigen Schritten machte dieser eine Biegung und schien gleich darauf in einen Raum zu führen, der von einem roten Schein erhellt war. Das Licht schien nicht von Fackeln zu stammen, denn es war kein Flackern zu sehen. Es war gleichmäßig und sehr ungewöhnlich. Vorsichtig näherten wir uns dem Raum und traten ein. Am Ende des Raumes sahen wir etwas, das mit nichts, was wir je in unserem Leben gesehen hatten, vergleichbar war. Es glich einem Tor, das erfüllt war von rotem und gelben Licht, einem Licht, das einem unendlichen und leeren Raum zu entströmen schien.

 

Als wir vor dem Lichttor standen und rätselten, bildete sich in dem roten Lichtschimmer vor uns ein Schleier. Wolkenartige Konturen begannen sich zu verdichten und wieder aufzulösen. Einer meiner Geparden trat näher und mit einem Mal zeigte sich eine Steppe mit einem kleinen Rudel von Geparden. Mir schoss es durch den Kopf: "Was wir vor uns haben ist eine Orakel". Ich konzentrierte mich auf meine Geparden, wie sie in Ägypten und den angrenzenden Ländern leben und gleich darauf sah ich sie auch. Ich wollte ihre Zukunft wissen und tatsächlich wechselten die Bilder und ich hatte das Gefühl immer weiter in die Zukunft zu sehen. Die Geparden wurden immer weniger und bald waren keine mehr zu sehen und statt dessen war alles fruchtbare Land von Menschen bebaut. Statt der Sträucher, Bäume und Grasflächen mit ihren bunten Blumen gab es nur noch gleichmäßige, eintönige Getreidefelder. Es war traurig, was ich sah und ich wechselte meine Gedanken zu Atmedef. Auch seine Zukunft wollte ich sehen. Was ich jedoch sah, war für mich sehr bizarr. Ich konnte es damals kaum ausdeuten. Jetzt sind mir die Bilder sonnenklar. Ich sah die gegenwärtige Zeit. Ich will die Bilder beschreiben, so wie ich sie damals sah und deutete:

 

Ich sah vor mir ein Bild, in welchem das gesamte Land von weißem Flaum bedeckt war. Die Menschen waren in viele Tücher eingehüllt. Auch Atmedef sah ich. Er trug eine Axt und ging in einem Wald aus seltsamen Bäumen, deren Stämme sich nicht zu einer Baumkrone aufteilten. Es war bis zur Spitze nur ein einziger Stamm, von dem die Zweige schräg herab hingen, mit Blättern gleich Nadeln.

Noch blickte ich verwirrt auf das Bild, als sich eine neue Szene bildete: Ich sah eine Stadt, die aus seltsamen, glitzernden Türmen bestand. Manche Türme ragten bis in den Himmel. Sie waren nicht aus Stein, sondern aus merkwürdigem Material aus dem Lichter leuchteten. Die Straßen waren breit und es herrschte auf ihnen ein dichtes Gedränge von großen eiförmigen Gebilden, die gleich übergroßen Perlen aus Email aussahen. Lärmend suchten diese Gebilde im dichten Gedränge ihren Weg. Dann sah ich am Straßenrand eines stehen. Da öffnete sich ein Teil seiner Seite und ein Mann, den ich mit Atmedef in Beziehung brachte, der aber völlig anders aussah und fremdartig gekleidet war, stieg aus. Er betrat einen dieser Türme und stieg innen in eine große Kiste, die nach oben schwebte.

 

Ich war von diesen rätselhaften Bildern derart irritiert, dass ich mich umdrehte und den Raum verließ. Atmedef und die zwei Geparden folgten mir. Auch Atmedef schien völlig verstört zu sein.

 

Wir verließen wieder den Tempel. Es schien keinen Sinn zu haben zukünftige Zeiten sehen zu wollen. Die Bilder mit den Geparden waren für mich noch verständlich, jedoch sehr deprimierend. Ich muss sagen, es wäre besser gewesen ich hätte sie nicht gesehen. Was die Bilder mit Atmedef anbelangte, so waren sie mir unverständlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es derart bizarre Welten geben könne. Ich nahm an, dass die Bilder den Fantasien einer geistig verwirrten Gottheit entstammten, einer Gottheit, die hier vielleicht lebte und durch die äonenlange Einsamkeit verrückt geworden war.

 

Schweigend gingen wir die sandige Küste der Meeresbucht weiter. Die seltsamen Bilder beschäftigten uns noch durch geraume Zeit.

Irgendwann wurde die Sandbank schmäler und endete vor einer Felsenwand, die weit bis in das Meer hinein reichte. Als wir uns umsahen, gewahrten wir einen schmalen Pfad, der von Dornengestrüpp mit lieblichen rosaroten Blüten halb versteckt, den Felsen hinauf führte. Wir kletterten den Pfad hinauf. Oben waren wir auf einem kleinen Gipfel mit einer klaren Aussicht nach allen Seiten. Auf einer Seite war die Meeresbucht mit den silbrig glänzenden Streifen ihrer Wogen. Auf der anderen Seite eine spärlich bewachsene Wüste und in weiter Ferne der breite grüne Saum eines Flusses. Der Pfad führte in Richtung des Flusses und zu unserer Überraschung sahen wir in einiger Entfernung unten in der Ebene das Tor zur elften Sphäre.

Als wir dort waren, fanden wir es ohne Wächter vor, verlassen und vergessen wie der Tempel der Zeit von dem wir kamen.

 

Die elfte Sphäre

 

Die 11. Stunde trägt den Namen "die Sternige, Herrin der Barke".

Aufstieg zur Morgenröte



 

Wir folgten dem Pfad in Richtung des Flusses, den wir vom Hügel aus gesehen hatten. Der Weg war weiter als wir dachten, aber er war ausgetreten und leicht begehbar.

 

Sobald wir in Flussnähe waren änderte die Landschaft ihren Charakter. Die Vegetation wurde üppig. Näher an den Fluss gekommen sahen wir keine Äcker, statt dessen einen schmalen Saum von Bäumen und davor ein goldenes Blütenmeer. Schweigend und freudvoll gingen wir nebeneinander. Wir fühlten uns in Liebe vereint und genossen das innere Glück.

 

Wir dachten, dass uns der Pfad zu einem Dorf oder einer kleinen Stadt führen würde, doch unvermutet endete er an den Ruinen eines Tempels. Es schien einmal ein einfacher Tempel mit Wänden aus Lehmziegel gewesen zu sein. Sie waren eingestürzt und zerfallen und ließen nur noch die Umrisse des ehemaligen Gebäudes erkennen. Dennoch schien die Ruine noch besucht zu sein. Der bisherige Pfad mochte vielleicht zu einer Anlagestelle am Fluss führen. Es gab jedoch eine sehr schmale, fast nicht erkennbaren Spur, die direkt zur Ruine führte. Wir folgten ihr und gelangten zu einer Opferstelle. Vor dem Kopf einer ehemaligen Statue, der auf einem kleinen Steinhügel gebettet war, befand sich ein Tonteller mit vertrockneten Speiseresten und einer leeren Schale, die wohl vor geraumer Zeit mit Milch oder Wasser als Trankopfer gefüllt war. Der Kopf am Altar und letzter verbliebener Rest des Heiligtums war bereits so verwittert, dass man nicht mehr erkennen konnte, welcher Gottheit er zugedacht war.

 

Um den Tempel herrschte rings um eine üppige Vegetation, die ein Weiterkommen sicherlich beschwerlich oder unmöglich machen würde. An der flussnahen Seite des Tempels war eine kiesbedeckte Fläche mit einigen Halmen und Kräutern, die sich aus dem ausgetrockneten Boden hervor wagten. Danach war eine Sandbank und dahinter der breite Strom. Wir gingen zum Ufer und blickten auf das Wasser. Es war kaum eine Strömung zu sehen.

 

Wir setzten uns und ruhten für eine Weile aus. Die freie kiesbedeckte Fläche, vielleicht früher einmal ein kleiner Park, war von Maulbeerfeigen umsäumt. Maulbeerfeigen oder Sykomoren waren der Göttin Hathor geweiht. Vielleicht befanden wir uns in einem ehemaligen Tempel der Hathor?

 

Atmedef erhob sich und kehrte nach einer kurzen Weile mit einem Tuch voll reifer Feigen zurück und breitete das Tuch vor mir aus. Er nahm drei Früchte hiervon und ging damit zum Tempel und legte sie als Opfergabe vor dem Steinkopf nieder. Dann kam er wieder zu mir zurück. Ich hatte mit dem Essen gewartet und wollte nicht dem Opfer zuvor kommen.

Zufrieden aßen wir gemeinsam die Früchte. Sie schmeckten köstlich. Danach fragten wir uns, wie wir unsere Reise fortsetzen sollten, nachdem kein weiterer Weg erkennbar war. Atmedef beschloss einen Rundgang zu machen, um besser Klarheit über einen möglichen weiteren Wege zu finden.

 

Nach einer Weile kehrte Atmedef zurück und berichtete, dass vom Fluss weg bis weit in das Land Gestrüpp und vereinzelte Bäume wären und weiter dahinter in ein unwegsames, von stacheligen Pflanzen bewachsenes Geröll übergehen würde. Es gäbe jedoch hier beim Fluss reichlich Schilf und er schlug vor ein Boot zu bauen. Ich sah ihn offensichtlich leicht zweifelnd an, denn er lächelte und versicherte mir, dass er sehr wohl ein Schilfboot bauen könne.

 

Atmedef brachte aus allen Richtungen Arme voll Schilf und Binsen herbei. Zufrieden wies er auf seinen schönen Dolch und meinte, jetzt wäre der Dolch nicht nur schön, sondern auch nützlich. Während er neues Material suchte, band ich das Schilf nach seinen Anweisungen mit Binsen zu schmalen Bündeln. Als genug von den Schilfbündeln vorhanden waren, begann Atmedef sie miteinander zu einem Boot zu binden. Ich half ihm, indem ich die Bündel hielt während er sie aneinander verknotete. Allmählich formte sich ein Bootskörper.

Das Boot war groß genug, um uns beide und die Geparden aufnehmen zu können. Atmedef fand auch zwei Äste, die in einer Vergabelung ausliefen. Indem er um die Vergabelung nach Art des Korbflechtens dünne Äste mit eingearbeiteten Schilfblättern geflochten hatte, hatten wir so etwas wie zwei unansehnliche Ruder.

 

Wir hielten noch etwas Rast und dann wässerten wir das Boot. Ich war weniger zuversichtlich als Atmedef und konnte meine Aufregung nicht vor ihm verbergen. Atmedef ließ sich jedoch nicht irritieren und tatsächlich als wir eingestiegen waren, konnte das Boot uns alle tragen und lag stabil auf dem Wasser. Es war wohl nicht so schön als jenes Boot, das uns meine Mutter Sachmet-Bastet zu Anfang der Reise geschenkt hatte, aber es tat seine Dienste.

Bald glitten wir lautlos mit unserem Boot dem Ufer entlang.

 

 

Mit dem Schilfboot unterwegs

 

Die Bootfahrt war eine erholsame Abwechslung. Wir kamen gut voran. Die Landschaft glitt an uns vorbei und wir genossen das Panorama.

 

Allmählich jedoch begann uns das Abenteuer des Landweges zu fehlen, all die Überraschungen schöner oder gefährlicher Art. Auf dem Landweg mussten wir bei jedem Schritt aufmerksam sein und mit vollen Sinnen jede Kleinigkeit des Weges beachten und einordnen. Damit verglichen ließ uns der Wasserweg abstumpfen. Gefahrlos und in Träumereien dahindösend vollzogen wir unsere gleichmäßigen Ruderschläge. Spannung und Dynamik verloren sich. Was meine Geparden anbelangte, so litten sie unter der Bewegungslosigkeit und taten mir leid.

 

Als wir eine Kleinstadt am Ufer sahen, ruderten wir hin, froh wieder Menschen zu sehen mit all dem Unvorhersehbaren, das eine menschliche Gesellschaft mit sich bringt. Es war die erste, wenn auch nur kleine Stadt, die wir auf unserer Reise angetroffen hatten.

Unbeschwert schlenderten wir die Hauptstraße entlang. Zu meiner Überraschung warfen uns die Menschen scheue, abweisende Blicke zu und die Mütter schubsten ihre Kinder in die Häuser. Es dauerte einige Zeit bis ich begriff, dass sie in den Geparden wilde Tiere sahen und Angst hatten. Noch dazu wo die Geparden ohne Schnur frei neben uns liefen. Wir sahen kein einziges freundliche Gesicht und kehrten der Kleinstadt so schnell wie möglich den Rücken. Auf freiem Land fühlten wir uns wieder wesentlich wohler.

 

Die Gegend, die wir nun durchwanderten schien dicht besiedelt. Es dauerte nicht lange, da sahen wir vor uns ein Dorf. Als wir nahe genug heran waren, erspähte uns ein etwa sechsjähriges Kind und rief laut: "Gaukler kommen, Gaukler kommen". Mit lautem "Hurrah, Gaukler" vervielfachte sich der Ruf durch die Spielkameraden. Als wir die ersten Häuser erreicht hatten, waren wir sofort von einer Schar Kinder umringt. Die Mütter schauten aus ihren Hütten heraus und lächelten uns zu. Die zwei Geparden, die in der Stadt als gefährliche Jagdgeparden eingestuft worden waren, als Raubtiere, die in verantwortungsloser Weise ungesichert und frei herum liefen, die waren nunmehr für die Kinder eine Art Streichelzoo. Sie stupsten die Tiere zu erst zögerlich mit einem Finger an, dann wurden sie aufdringlicher. Als einer von den Buben, um seinen Mut zu beweisen, auf einem Geparden reiten wollte, musste ich dem Treiben Einhalt bieten. Ich erklärte ihnen dass sie die Geparden nur unter meiner Aufsicht streicheln durften und mehr nicht.

 

Ich dachte an die Verrücktheit der Menschen. Wie waren doch die meisten Menschen davon überzeugt, dass sie Realitätssinn hätten, und doch war es oft ihre Fantasie, die zur Realität wurde. In der Stadt waren wir Jäger und hier waren wir Gaukler. Sowohl dort als auch hier war es den Menschen Realität und sie hätten ihre Realität sogar auf die eine oder andere Weise beweisen können.

 

Bald sammelten sich um uns eine Schar Erwachsener und Kinder jeden Alters, alle erfreut über die Abwechslung, welche die Gaukler ins Dorf bringen würden. Niemand fragte sich, ob sich die Kinder vielleicht geirrt hätten. Sie nahmen die Kinderrufe als pure Wahrheit. Ich wisperte zu Atmedef: "hätte ein einzelner Mensch behauptet, dass wir Gaukler sind, hätte man ihm mit allerlei Argumenten erklärt, dass er sich irre. Sobald es aber viele behaupten und seien es Kinder, wird es zur Wahrheit."

Atmedef nickte mir zu.

Die Kinder zu enttäuschen hätte mir leid getan und so war ich bereit das Spiel mit zu machen. Vor nicht langer Zeit wäre ich fassungslos und empört gewesen mit einer Gauklerin verwechselt zu werden. Ich hätte nie begriffen, dass man mich als eine Göttin von so hoher Herkunft, die mächtige Göttin der Geparden, Tochter der gefürchteten Sachmet, vor welcher die Welt erzittert und Tochter des Himmels- und Weltherrschers Re, mit dem Sachmet ein himmlisches Paar bildet, dass man mich von solch hoher Herkunft einem Straßenvolk zuordnen hätte können. Jetzt machte ich das Spiel mit. Unerklärlicher Weise fühlte ich mich nicht mehr so erhaben wie früher. Ich war mir selbst nicht mehr so wichtig. Ich sah mich jetzt auch anders. Mein jetziger Realitätssinn sagte mir, dass die Tochter einer Gottheit ein kleiner Teil, eine Abspaltung der Herkunftsgottheit ist. Man darf die Geburt einer Gottheit nicht mit der Geburt eines Menschen vergleichen. Es ist ein völlig anderer Vorgang. Genau genommen ist jeder Käfer und jeder Wurm, ein jedes Lebewesen ebenfalls eine Abspaltung von Atum dem Schöpfergott und könnte sich Tochter oder Sohn von Atum nennen. Verwundert stellte ich fest, dass nicht einmal ich als Göttin Realitätssinn hatte. Realität, dachte ich, hat mit Wahrheit zu tun und Wahrheit ändert sich ununterbrochen, erkannte ich, von einer kleinen Wahrheit zu einer größeren Wahrheit. Beide Einstellungen, sowohl die frühere von mir als große Göttin als auch die gegenwärtige, bescheidenere Einschätzung waren richtig. Obwohl beide fast gegenteilige Aussage besitzen, haben sind Sie dennoch ihren Wahrheitsgehalt.

 

Auf dem Hauptplatz, eine Stelle an der die Straße etwas breiter war und die Erde stärker festgetreten war, so dass nicht einmal ein Grashalm seinen Kopf hervor zu stecken wagte, machten wir Halt. Man brachte mir und Atmedef Hocker, was wir dankend annahmen. Ich setzte mich auf einen und begann auf der Flöte zu spielen, die mir der kleine Junge aus dem Dorf beim Wadjettempel geschenkt hatte. Als ich einige Zeit gespielt hatte und die Leute, die um uns im Kreis saßen zur Ruhe gekommen waren, setzte ich ab und alle blickten gespannt zu Atmedef, voll Erwartung was er zu bieten hätte. Mit Humor und auch schelmisch war ich neugierig, wie er sich aus der Schlinge ziehen würde. Ich wusste, er konnte es. Er war ein Meister in Ausreden und Lösungen. Ich glaube, dass meine neugierige Erwartung berechtigter Weise größer war als jene der Dorfbewohner. In diesen Augenblicken genoss ich das Spiel. Atmedef als Gaukler, welch ein Scherz, wie würden wir später noch darüber lachen. Und Atmedef würde mit dem Finger auf mich zeigen und mich als Gauklergöttin ansprechen.

 

Atmedef räusperte sich, dann blickte er der Reihe nach jeden einzeln an. Mit ernster und bedeutungsvoller Miene eröffnete er der Menge, dass er von weit her käme und über seine eigene Reise erzählen würde. Und dann begann er in bilderreichen Worten den Dorfbewohnern unsere Reise durch den Duat zu erzählen. Es war ein Duat, den es weder in den Legenden noch nach unseren Erfahrungen gab. Es war  eine frei erfundene Welt. Geheimnisvoll flüsternd, dann wieder aufschreiend und wild gestikulierend beschrieb er bunt gekleidete exotische Völker und Tiere und geheimnisvolle Städte, die es nur in seiner Fantasie gab. Und immer wieder kam es zu Duellen mit Untieren, Dämonen und Geistern, die sich auf uns stürzten und die jedes mal überlistet werden mussten, da man ihrer Macht nichts entgegen setzen konnte. Natürlich fiel jedes mal ihm die List und Täuschung ein und war er der große Held. Ich räusperte mich einigemale, worauf er mir dann einige Brosamen des Heldentums gönnte. Er fand Zaubertalismane, die er mächtigen Dämonen entgegen hielt. Er erzählte, dass noch einen Diener und eine hübsche Frau in unserer Begleitung waren, was letzteres mich empörte, denn hatte er nicht mit mir genug? Fast weinend berichtete er, wie sie von einem böswilligen Zauberer in zwei Geparden verwandelt wurden, in eben die zwei Geparden, die jetzt vor ihnen den Dorfleuten sitzen würden. Weil sie verwandelte Menschen wären, deshalb wären sie auch so friedfertig. Er erzählte, wie er Schätze von Gold und Juwelen entdeckte, die er zweiköpfigen Riesen und seltsam aussehenden Dämonen, die er genau beschrieb, als Wegzoll wieder geben musste, um unser aller Leben zu retten. So geschah es eben, dass wir trotz der vielen Wunderdinge und Schätze, die wir gefunden hatten, letztlich wieder bettelarm wären wie zu Beginn der Reise. Obwohl wir Reichtümer gleich eines Pharaos hatten, wären von all den Schätzen nur Erinnerungen geblieben. Bettelarm wie zuvor seien wir nun auf die Spenden der Dorfbewohner angewiesen.

 

Nicht nur die Kinder hörten fasziniert und mit offenem Mund zu. Auch die Erwachsenen waren von seinen Worten gebannt und vergaßen ihre eigene Welt. Desgleichen ging es mir. Ich sah alles in inneren Bildern bis ins kleinste Detail vor mir. Nicht nur durch meine telepathische Veranlagung, seine Worte allein waren bereits imstande solch innere Welten wach zu rufen.

Am Ende der Erzählung, nachdem ich nach durchaus langer Pause wieder zu mir gefunden hatte und in der Gegenwart erwacht war, dankte ich innig Re, dass Atmedef diese Geschichten nicht den Osirispriestern erzählt hatte, sondern sich damals wenigstens ein klein wenig an die Realität gehalten hatte.

 

Abschließend unterhielten wir noch durch geraume Zeit das Publikum mit Musikeinschüben von mir und akrobatischen Einsätzen der Geparden, welche ich über meine ausgestreckten Arme springen ließ. Auch waren zwischendurch noch etliche kleine, für sich stehende Geschichten, die Atmedef brachte, meistens Schwänke, über die alle lachen konnten. Nachdem wir uns einige male zu Draufgaben erweichen hatten lassen, mussten wir energisch unsere Vorführungen beenden. Wo ich hin blickte sah ich begeisterte Gesichter. Alle dankten, und wie es sich für Gaukler gehört, wurden wir mit Fladenbrot und Milch und Früchten für unsere Darbietungen belohnt.

 

Wir aßen reichlich und winkten auch die Kinder an unsere Schüsseln heran, die sich gezielt die Leckerbissen heraus holten. Wir plauderten noch mit den Leuten und verließen unter schreiender Kinderbegleitung das Dorf.

 

Der weitere Weg war ein breiter Karrenweg, umsäumt von Weizenfeldern und Bewässerungsgräben. Es gab senkrechte Abzweigungen vom Weg, von denen wir wussten, dass sie nur bis zum letzten Feld führen würden und nicht weiter. So gelangten wir schnurstracks zum nächsten Dorf.

Schon kamen uns Kinder entgegen gelaufen. Da sich Atmedef als Gaukler nicht wiederholen mochte, beeilte er sich schnell und erklärte den Kindern mit würdiger Mine, dass wir Priester der Sachmet wären. Stolz und erhobenen Hauptes schritt er in das Dorf. Da ich im Täuschen nicht derart eingeübt war als er, musste ich neben ihm wohl wie eine Magd erscheinen.

 

Die Ankunft von Priestern wurde von den Kindern mit ehrfürchtigem Staunen akzeptiert. Sie liefen in ihre Häuser und erzählten die Neuigkeit ihren Eltern. Die Dorfleuten ordneten uns auf Grund unserer schönen, von den Wadjef-Priestern geschenkten Kleidung und wegen der Geparden als Sachmet-Priester höheren Ranges ein. Atmedef nickte mir zu, stolz auf die Idee uns hierdurch eine ungeschorene Passage durch das Dorf ermöglicht zu haben. Weder würden wir durch die Geparden beanstandet werden, noch mussten wir als Gaukler unsere Darbietungen machen.

 

Leider hatte sich Atmedef getäuscht. Als wir die Mitte des Dorfes erreicht hatten, kam uns der Dorfälteste mit einigen weiteren Männern der Dorfprominenz mit noch würdevolleren Miene als Atmedef entgegen und lud uns zum Versammlungsplatz ein. Nach einem höflichen, nichts sagendem Einleitungsgespräch eröffnete er uns dort, dass seine Frau krank sei und Fieber hätte. Ein Wink von ihm, und bevor wir noch antworten konnten, eilten zwei junge Männer fort, um die Frau herbei zu bringen. Sachmet war im Glauben der Ägypter nicht nur die große Kriegerin, sondern auch die große Heilerin. Als Vernichterin konnte sie dem Glauben nach Seuchen verbreiten aber ebenso auch heilen. In der Volkstradition hatten Sachmetpriester ein höchstes Ansehen als Heiler. Um dieser in der Praxis der Priester wichtigsten Funktion gerecht zu werden, waren Sachmet-Priester als Heiler sehr gut ausgebildet und mit Recht beim Volk sehr begehrt.

Mit ungutem Gefühl stellte ich fest, dass wir nunmehr keine Gaukler sondern Ärzte sein sollten. Der Dorfälteste wendete sich zuerst an Atmedef. Natürlich, Männer zählten bei denen mehr und wurden auch als erstes angesprochen. Ja, es hätte als Beleidigung gegolten, wenn bei einem Paar zuerst die Frau angesprochen worden wäre. Vergleichend zur Gegenwart muss ich sagen: Die ganze Welt hatte sich in der Zwischenzeit durch die Jahrtausende so stark verändert, dass nichts mehr mit der alten Welt vergleichbar blieb. Alles hatte sich verändert, aber die Dummheiten und Vorurteile der Menschen sind gleich geblieben. Wie Felsen widerstehen sie dem Sturm der Zeit.

 

Atmedef erklärte dem Ältesten, dass er aus einem großen Tempel stamme, in dem die Priester für verschiedene Aufgabengebiete spezialisiert wären. Er wäre ein Priester, der in der Magie ausgebildet worden wäre, für Schutz, Beschwörungen, Segen und dergleichen, jedoch nicht für Krankheiten. Die Enttäuschung war dem Dorfältesten anzusehen, jedoch hatte er großen Respekt vor der Magie und akzeptierte deshalb zur Sicherheit die Aussage Atmedefs. Doch er gab jedoch nicht so schnell auf. Entweder liebte er seine Frau oder er war so zäh in seinem Beharren. Er wies zu mir und fragte, ob das auch für mich gelte. Atmedef blickte zu mir und überließ mir das Wort. Ich wollte mich nicht ebenfalls als Magierin ausgeben und erst recht nicht als seine ungebildete Frau. So akzeptierte ich zwar eine Heilerin zu sein, versuchte jedoch mich durch eine Ausrede der Verpflichtung zu entwinden. Ich erklärte dem Dorfältesten, dass ich wohl in der Kräuterkunde bewandert wäre, jedoch wäre es auf unserer Reise nicht möglich gewesen, die für die Heilung verschiedener Krankheiten nötigen seltenen Heilkräuter mitzunehmen. Wir hatten uns auf spärliches Handgepäck beschränken müssen.

 Ich hatte leider folgendes nicht bedacht: mag ein Argument noch so einleuchtend und vernünftig sein, einem Dummkopf gegenüber ist es wirkungslos. Das traf leider auf den Dorfältesten zu. Er war nicht nur stur, sondern auch dümmer als der dümmste Esel. Er begriff mein Argument nicht, oder dachte es diente nur, um eine höhere Belohnung heraus zu schinden. Jedenfalls dachte er, ich könne als Sachmetpriesterin die Heilung nur so aus dem Ärmel schütteln.

Weitere Erklärungen hätten nichts geholfen, denn mit einem Dummkopf kann man nicht argumentieren. Um Ärger zu vermeiden untersuchte ich die Frau und verordnete ihr eine Teemischung von allgemein bekannten Kräutern.

Schon kamen andere und baten um Heilung. Sie waren verschüchtert und brachten Geschenke mit, was sich der Dorfälteste dank seiner örtlichen Würde und Stellung erspart hatte. Unser Dienst war für ihn eine Art Wegzoll.

 

Es drängten eine Menge Leute herbei und ich hatte eine Menge zu tun. Bei allem musste ich ein sicheres Auftreten haben und sehr wissend tun. Es war eine Gratwanderung zwischen einer geschätzten Heilerin, die man beschenkt und eines Scharlatans, der sich durch Lug Gaben erschleicht und damit rechnen muss gelyncht zu werden.

Atmedef hatte es etwas leichter, aber auch er entkam nicht seinen sogenannten Verpflichtungen. Das gab mir einige Genugtuung, denn als der Dienst als Heilerin an mir hängen blieb, dachte ich schon er hätte sich durch seine lügenhaften Ausreden eine gemütliche Zeit gemacht, während ich voll beschäftigt sein würde. Doch das Schicksal war gerecht. Auch an ihn kamen die Leute herangetreten. Er musste Kinder segnen, Ziegen, Schafe und Häuser und sogar einen Dolch, nämlich den vom Dorfältesten. Zuvor wollte der Dorfälteste seinen billigen Dolch gegen den von Atmedef eintauschen. Doch als dieser ihn mit großen Augen fixierend ansah, fürchtete er sich vor einem Verwünschungsfluch und nahm von dem Tausch Abstand. Als zwei Jahrtausende später im Abendland Raubritter ihr Unwesen trieben, dachte ich an jenen Dorfältesten zurück. Er war ihr Ahne.

 

Atmedef vollzog seine Aufgaben mit Elan. Meist murmelte er einige unverständliche Worte. Bei besserer Zahlung sprach er laut einige Zauberverse, die manchmal tatsächlich existierten und die er seinem Priester, dem er zu irdischen Lebzeiten unterstellt war, abgeschaut hatte. Bei besserer Zahlung intonierte er laut beschwörend. In einigen wenigen Fällen schrieb er mit einem verkohlten Aststück einen Segensspruch auf einen Lehmziegel oder Stein. Das war für die Leute ein geheimnisvoller Talisman mit Dauerwirkung. Lesen und schreiben konnte von denen keiner und deshalb sahen sie in Buchstaben Zauberzeichen mit besonderer Macht.

 

Während einer kleinen Pause, in der gerade keine Bittsteller anwesend waren, machten wir uns eilig auf den Weg, bevor noch mehr Kranke herbeigebracht wurden oder gar Leute aus den Nachbardörfern kommen würden. Großzügig überließen wir die Gaben dem Dorfältesten zum Verteilen an die Armen, um nur ja nicht durch Essen oder Verstauen der Dinge Zeit zu verlieren. Mit einer Handgeste entließ uns der Dorfälteste und versuchte nicht unseren schnellen Aufbruch zu verzögern, denn sonst wären vielleicht die Gaben wirklich den Armen und nicht ihm zugekommen.

 

Als auf unserem weiteren Weg das nächste Dorf in der Ferne auftauchte, sahen wir uns gegenseitig an. Ohne auch nur ein weiteres Wort darüber zu verlieren, begaben wir uns auf einen Seitenweg, der zu unserem Glück am Rande der fruchtbaren Zone zu einem Hirtenweg über ging.

Durch Geröll und Strauchwerk suchten wir uns den weiteren Weg und als wir endlich an einem Tor zur nächsten Sphäre angelangt waren, hatte unsere vormals schöne Kleidung Risse und Flecken von Erde, Staub und dem Saft abgestreifter Beeren. Unserem Aussehen nach gehörten wir keinem gehobenen Stand, ja nicht einmal mehr den Gauklern an, sondern glichen Vagabunden. Fast schon begann die Geschichte Atmedefs von den gefundenen und wieder verlorenen Reichtümern Wahrheit zu werden.

 

Die zwölfte Sphäre

 

Die Ägypter beeindruckte die Häutung der Schlange – nach der Häutung erscheint die Schlange wie verjüngt. Solcherart wurde sie zu einem Symbol der Erneuerung.

 

Im Bild: In der zwölften Nachtstunde des Duat tritt Re als Greis in den After der Chepri-Schlange ein und verlässt sie durch das Maul als neugeborener Chepri (Chepre, Khepri). In der Darstellung wird die Sonnenbarke von den 12 gealterten Stundengöttern durch den Leib der Schlange gezogen. Im Leib dieser riesigen Chepri-Schlange findet die Verjüngung von Re statt. Als Re-Chepri verlässt er die Schlange, dargestellt als Skarabäus.

 

Die alten Ägypter waren sehr naturverbunden und wussten ihre Beobachtungen auf sehr poetische Art in ihre Religion einzubauen.

Der Skarabäus heißt bei uns Pillendreher. Diesen Namen bekam er, weil er vor sich eine Mistkugel (Pille) rollt, in welche er seine Eier legt. Das ließ ihn zum Bildsymbol für Chepri, der bewegenden Kraft (Gottheit) der Sonne werden.

 

Die letzte Stunde vollendet den Zyklus der Neugeburt und der allgemeinen Verjüngung. Der Himmel ist Gold, das Wasser Lapislazuli, die Erde ist mit Türkis bestreut. Die Ba-Seele hat ihre vollständige Kraft wiedererlangt. Die Sonnenscheibe auf ihrem Kopf ist erneut mit der Uräusschlange vereint und der Sonnenkäfer Chepri erscheint am Bug der Barke.

 

Der Sieg des Re über Apophis, dem Chaos, ist zugleich ein Sieg von Maat, dem Prinzip der kosmischen Ordnung. Meist findet man Maat in Zusammenhang mit dem Totengericht, wo ihr Wirken durch die "Feder der Wahrheit" dargestellt wird.

 

Maat als das Prinzip der Ordnung garantiert, dass sich die Sonne täglich am Horizont erhebt, und dass der Nil mit seinen jahreszeitlichen Überschwemmungen das Land fruchtbar macht. Auch das ägyptische Staatswesen, die soziale Ordnung, unterliegt Maat. Ein Verstoß gegen die soziale Ordnung ist auch ein Verstoß gegen die kosmische Ordnung.

 

 

 

Die Priesterin der Maat

 

 

Wir waren am Rand der fruchtbaren Äcker und außerhalb der Dörfer weiter gewandert. Gelegentlich sahen wir Hirten, denen wir uns nicht nahten, um Konflikte zwischen den Hunden und unseren Geparden zu vermeiden. Solcherart war unser Weg ruhig, durchaus schön und ereignislos. Unter dem Rufen eines großen Raubvogels, der über uns kreiste, gelangten wir zum Tor der zwölften Sphäre. Von dort aus führte ein schmaler Fußpfad weiter.

 

Der Pfad verlief am unteren Rand einer Hügelkette, Vorläufer von sich dahinter auftürmenden Bergen. Seitlich vom Pfad gab es immer wieder Täler, die in die Hügel tief einschnitten und sich irgendwo in den Bergen verliefen. Solcherart war die Landschaft schön und abwechslungsreich. Als wir nahe dem Ausgang eines der Seitentäler eine Baumgruppe sahen, steuerten wir darauf zu, um in deren Schatten Rast zu halten. Dort angelangt sahen wir ein Haus aus mit Lehm verfugten rohen Steinen, eng an einen großen Felsen des Hanges geschmiegt. Davor auf einer Bank saß eine alte Frau. Sie sah unserem Kommen interessiert zu, zeigte jedoch keine weiteren Reaktionen.

Wir grüßten und baten im Schatten ihrer Bäume Rast halten zu dürfen. Sie nickte uns freundlich zu. Wir setzten uns zu ihr, um ein paar freundliche Worte auszutauschen.

Ich erkundigte mich, ob sie die Mutter eines Hirten wäre, weil sie so weit außerhalb des bewohnten Gebietes lebe. Sie verneinte und stellte sich als eine Priesterin der Maat vor. Ich war sehr erstaunt.

"Ich empfinde mich als Priesterin der Maat", sprach sie, "aber offiziell bin ich es nicht. Da ist kein Tempel, dem ich angehöre und keine Organisation. Ich habe auch nie die üblichen Tätigkeiten von Priestern ausgeübt wie Schutz und Segen zu vermitteln. Ich habe mich als Beraterin gesehen. Allerdings war mein Rat nie sehr gefragt."

Das machte mich neugierig und ich bat sie mir dies genauer zu erklären.

"Hier in der letzten Sphäre haben die Menschen die Wahl in gewohnter Weise weiter zu leben, etwa als Bauern oder Handwerker oder das Risiko einer neuen Geburt auf sich zu nehmen. Bei einer neuen Geburt hätten sie die Chance sich weiter zu entwickeln und die Kraft ihres Ach-Lichtes zu verstärken. Die meisten sehen jedoch nicht ein, welchen Sinn das haben sollte und führen lieber ein sorgenfreies Leben in gewohnter Weise."

Dann war eine Pause. Sowohl ich als auch Atmedef schwiegen.

Die Frau setzte ihr Gespräch fort: "Ich frage mich, ob ihr eine Ausnahme seid. Zumindest, wie ich sehe, scheint ihr nicht sesshaft zu sein."

Atmedef und ich erzählten ihr nun abwechselnd verkürzt über unsere Reise und dass wir am Urmeer Nun angelangt, die Sonnenbarke des Re besteigen wollten, um in seiner Nähe zu bleiben.

"Aha", sagte sie, als wir mit unserem Bericht fertig waren, "ihr unterscheidet Euch auch nicht von den anderen. Ihr wollt ein schönes Leben haben, nicht mit Acker und Haus wie die meisten hier, sondern etwas unbescheidener. An Lernen und inneres Wachstum denkt ihr genau so wenig wie die anderen."

Wir schauten sie verblüfft an, ich glaube ich war sogar entrüstet.

"Ich verstehe nicht, was damit gemeint sein soll", sprach sie Atmedef an.

Sie sah ihn scharf an. Schon legte sich ihre Stirn in Falten und sie schien eine strenge Antwort geben zu wollen. Doch als ihre Augen tiefer in ihn eindrangen, wurde sie mild. Ihr Gesicht hellte sich auf und sie lächelte: "Inneres Wachstum heißt über sich selbst hinaus zu wachsen und die Grenzen aufzulösen. Wir überschreiten dann jene Grenzen, die uns daran hindern die uns umgebende Welt aus den Augen all der Lebewesens zu erleben. Es bedeutet, dass Du und Deine von Dir geliebte Begleiterin innerlich nicht mehr voneinander getrennt seid, ihr ein Wesen sowohl in Erinnerung und als auch in der Wahrnehmung seid und es bedeutet mehr als das."

Ihre Worte erschienen uns sehr rätselhaft und wir starrten sie verständnislos an.

"Ah, ich sehe Ihr versteht mich nicht", sagte sie. Sie ging in das Haus und kehrte mit zwei Bechern zurück.

"Trink", sagte sie zu Atmedef. Sie sagte es mit derartiger Autorität, dass Atmedef ohne zu zögern den Bechern austrank. Ich war sehr beunruhigt, leerte aber auch meinen Becher, mit dem Gedanken, dass ich alles mit Atmedef teilen wolle und sei es Gift.

 

Kurze Zeit nachdem ich den Becher leer getrunken hatte, ging eine seltsame Veränderung in mir vor. Ich verlor allen Sinn für Zeit und es schien mir, als würde ich in der Ewigkeit leben. Ich konnte wohl meine Umgebung und vor allem Atmedef wahrnehmen. Als ich zu Atmedef blickte erschien er mir als mein ewiger, vertrauter Begleiter. Wir hatten keine Geheimnisse vor einander und waren so miteinander vertraut, dass wir im Grunde genommen eine Person waren, die mit zwei Körpern in Erscheinung trat.

 

Irgendwann kehrte ich in das Hier und Jetzt zurück. Mein Blick war noch zu Atmedef gerichtet und ich sah, dass auch er aus einer inneren Schau zurückkehrte. Auch er hatte die ganze Zeit seine Augen auf mich gerichtet. Ich erkannte an seinem Ausdruck, dass er Gleiches wie ich erlebt hatte. Nein, ich hatte es nicht an seinem Ausdruck erkannt, ich wusste es. Wir sprachen kein einziges Wort, über das Vorgefallene, es war nicht nötig.

 

Als ich zu meinen zwei Geparden blickte sah ich in ihnen ebenfalls meine zwei ewigen Begleiter. Hierbei waren sie für mich nicht Tiere und Atmedef im Gegensatz dazu ein Mensch. Der Körper zählte nicht mehr. Es war ihre Seele, die ich wahrnahm und die war an keine körperliche Erscheinung gebunden. Liebe gewahrte ich, die bereit war jegliche körperliche Gestalt anzunehmen, um mich zu erfreuen und mir vertraut zu sein. Auch mit ihnen wurde ich eins. In ihnen liebte ich mich selbst.

 

Schweigend und nachdenklich blieben wir sitzen. Die alte Frau saß neben uns und ging ihrer alten Beschäftigung nach Schafwolle mit einer Spindel zu einem Faden zu drehen.

Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen war, in welcher der Zustand ausklang. Irgendwann erhoben wir uns, traten vor die Priesterin, knieten vor ihr nieder und verneigten uns. Ich tat es aus einem inneren Bedürfnis, ohne Rücksicht auf den Stand. Es gab kein Wort des Abschiedes, weder von uns noch von der Priesterin. Wortlos und dankbar entfernten wir uns, um das letzte Stück unserer langen Reise zu gehen.

 

Die Ankunft der Sonnenbarke

 

Am Ufer des Urozeans:

Die Schlange der Zeit zwischen Diesseits und Jenseits, dem Horizont, Ort der aufgehenden Sonne.

Die Sonnenbarke verlässt den Duat, vor sich den Urozean, der sich außerhalb des Duat, oberhalb der Erde, zwischen dem Westtor und dem Osttor über den Himmel wölbt, gehalten von Shu. Hier segelt die Sonnenbarke während der Tagesstunden hoch über uns. Sie schenkt uns Leben und vertreibt die Finsternis.

 

 

Als wir das Ende der zwölften Sphäre erreicht hatten stand vor dem Ausgangstor ein Wächter, so wie bei vielen anderen Grenztoren auch. Als er uns sah, trat er zur Seite und verneigte sich. Er sah den goldenen Schein unserer Herzen.

Wir grüßten ihn und schenkten ihm einen Blick, durch den wir lichtvolles Ach zu ihm fließen ließen. Dann gingen wir durch das Tor, nicht als Sieger mit stolz erhobenem Haupt, sondern als Wesen ohne Stand und Rang - zwischen Grashalm und Gottheit gab es für uns keinen Unterschied. Alles war ein Teil von Atum. Wir fühlten uns nicht besser als irgend ein anderes Wesen. Nein, es gab uns nicht, sondern statt dessen ein beschauendes Bewusstsein, das vielleicht ein Ich haben mochte, aber auf dieses nicht ausgerichtet war und statt dessen das Leben des Gegenübers teilte. Was immer es war, wir erlebten es. Es war für uns ein natürlicher Zustand. Leider war der Zustand nicht bleibend, sondern es war noch der Zaubertrank der Maat-Priesterin, der nach wirkte. Noch wussten wir nicht, dass einem hohe Zustände geliehen werden können, dass jedoch um sie bleibend zu haben ein weiter Weg zu bewältigen ist.

 

Bis zum Urmeer Nun war nach dem Tor noch ein kleiner Landstreifen. Bald waren wir am Meeresufer. Dort gingen wir die Küste entlang bis zur Flussmündung, an welcher wir auf das Sonnenschiff von Re warten wollten. Wir freuten uns darauf. Für immer würden wir beieinander bleiben.

 

Wir setzten uns in den goldenen Sand, blickten auf das blauschimmernde Wasser des Urozeans und erwarteten die Sonnenbarke. Auf ihr würden wir zusammen mit den anderen Göttern über das Firmament gleiten.

 

Die Sonnenbarke kam und wir eilten zu ihr und gingen an Bord. Sachmet, meine Mutter begrüßte mich herzlich und war glücklich mich wieder in ihren Armen zu haben. Ich stellte ihr Atmedef vor. Auch ihm schenkte sie ein herzliches Lächeln, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. Ich war glücklich. Dass sie Atmedef in ihr Herz aufnahm war für mich ein großes Geschenk.

Re-Atum kam mit Göttergefolge und beglückwünschte uns ebenfalls. Dann jedoch wurde er ernst und sprach mit einem Hauch von Traurigkeit: "Atmedef kann uns nicht begleiten. Er hat eine reine Seele, ist aber noch nicht vollkommen. Kleine Schatten verdunkeln noch sein Ach. Er muss in weiteren Leben diese Schatten reinigen, um einst für immer im Glanz der Sonne sein zu können."

Ich erblasste vor Schreck. Es war mir als würde ich sterben. "Ohne ihn", so sagte ich, "verzichte ich auf den Himmel der Götter. Ich werde bei ihm bleiben." Traurig sah mich Re-Atum an. "Atnife, geliebtes Kind, weißt Du nicht wie schmerzvoll es ist in seiner Nähe zu sein und von ihm nicht wahrgenommen und erkannt zu werden. Du wirst ihm nahe genug sein, um Deinen Arm auf seine Schulter zu legen, und verbunden mit ihm wirst Du den Schmerz fühlen, den er in seiner Einsamkeit in die Welt schreit. Ein Schmerz, der größer ist als alle fleischlichen Wunden. Blind wird er sein und Dich nicht sehen und vor Gram zerbrochen. Du wirst das alles fühlen und Dein eigener Schmerz wird noch größer sein als seiner. Tu das nicht, bleib bei uns, er wird auch allein den Weg zu uns zurück finden."

"Nein", rief ich verzweifelt, "er war bei mir als ich in den Schlaf des Vergessens fiel und ohne ihm wäre ich noch immer in Apophis Welt. Wie könnte ich jemals Achtung vor mir selbst haben, wenn ich nicht die gleiche Treue wie jener geliebte Mensch aufzubringen imstande wäre. Ich würde mich verachten und wäre für ewig nicht mehr fähig mein Spiegelbild zu sehen. Selbst wenn Atmedef wieder zu uns zurück finden würde, wäre ich nicht mehr glücklich, aus Scham vor mir selbst. Ich könnte ihm nicht mehr in die Augen blicken. Dieses Scheinglück auf der Sonnenbarke und tatenlose Zuwarten würde uns nicht vereinen, sondern uns voneinander trennen, denn er wäre dann hier gleich einer Gottheit, ich aber ein von Scham gebeugter Schatten!

 

Re-Atum verstand mich. Seine Augen wurden feucht und Tränen rollten über seine Wangen. Er umarmte mich und meine Wange wurde nass von seinen Tränen. Schnell wendete er sich ab, um seinen Schmerz zu besiegen..

 

Wir blieben zurück und die Barke segelte weiter. Atmedef wurde schwach und legte sich auf den Boden. Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und wollte ihn nicht mehr loslassen.

 

 

Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und wollte ihn nicht mehr loslassen.

 

Atmedef krümmte sich gleich einem Embryo und wurde kleiner, während ich ihn noch hielt. Mir zerbrach das Herz. Er wurde zum Kind, zum Säugling und löste sich dann auf. Er war in einem Mutterleib, um in einiger Zeit mit Staunen eine ihm neue, unbekannte Welt zu erschauen. Durch die Macht des Apophis der Erinnerung beraubt, würde er von neuem beginnen zu lernen wie man kriecht und bald darauf die ersten schwankenden Schritte tun. Er, Atmedef der große Krieger, würde lallend Lalala, Mamama sagen und in ein hölzernes Spielzeug beißen. Mögen das die Menschen niedlich finden, ich aber werde fassungslos vor meinem Geliebten stehen und hilflos immer wieder versuchen in Träumen und Fantasien in ihm einen Hauch der Erinnerung zu erwecken.

 

Allein saß ich auf dem Sand am Rande des Urozeans Nun und weinte. Alle bisherigen Entbehrungen erschienen mir gering zu dem momentanen Schmerz. Ich weinte und weinte. Welch schreckliche Magie ist eine menschliche Geburt. Sie entzweit Liebende, beraubt den Neugeborenen der Erinnerung und mitleidlos ist sie blind für die Tränen der Jenseitigen, denen sie den geliebten Menschen entrissen hat.

 

Ich blickte zu meinen beiden Geparden. Sie waren noch bei mir. Verzweifelt und verlassen irrte ich am Strand des Urozeans umher. Dann setzte ich mich auf einen Felsen und sah hinüber zum Rand der anderen Welt, die an dieser schmalen Stelle des Urozeans deutlich zu sehen war. Ich sah hinüber zum Ufer der irdischen Welt der Sterblichen, dort wo jetzt Atmedef auf seine Geburt wartete.

 

Lange saß ich da und lauschte nach Atmedef. Ich suchte ihn mit meinen inneren Sinnen, bis ich eine Spur gleich einem dünnsten Faden wahrnahm. Ich folgte dieser Spur. Meine Liebe trug mich auf ihren Flügeln zu Atmedef und ich gelangte zu seiner Mutter. Dort blieb ich. Dann eines Tages war ich bei seiner Geburt. Lange musste ich warten, bis er endlich erwachsen wurde und allmählich reifte. Für mich war es eine Ewigkeit des Wartens. Die Zeit verging ebenso langsam wie in der tiefsten Sphäre der Unterwelt, in der Welt des Apophis. Ein wenig wurde der Schleier zwischen Atmedef und mir dünner, aber er blieb. Freude ergriff mich, wenn er meine Nähe erspürte, und Trauer wenn er mich wieder verlor.

 

Wann endlich werden wir für immer vereint sein und die Vergangenheit nur noch als Traum empfinden, als einen Traum, der schmerzvoll war, aber uns zueinander finden ließ?

 

 

 

 

Rechtshinweise

 

Zeichnungen, Fotos und Texte stammen von Alfred Ballabene, Wien. Erstausgabe von "Tochter der Sachmet", Teil 1, 2011. Überarbeitet und ergänzt 2016.

Urheber- und Publikationsrechte aller Grafiken und Texte im Besitz von Alfred Ballabene und Alfreda Wegerer.

 

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