So vernimm denn, Sokrates, eine zwar recht merkwürdige, aber durchaus wahre Geschichte, wie sie einst Solon, der Weiseste von den sieben, erzählt hat ...

 

So beginnt eine Erzählung des Altertums, eine Legende welche die Phantasie der Menschen seit ihrer Entstehung immer wieder neu entflammen läßt. In seinen Dialogen Timaios und Kritias berichtet Platon von einem Kontinent genannt Atlantis, der vor etwa 10500 Jahren innerhalb eines kurzen Tages und einer kurzen Nacht im Ozean versunken sein soll. 

 

Meinem Großvater Kritias erzählte er gelegentlich einmal - und der hat es als alter Mann mir wieder mitgeteilt -, es gebe viele in alter Zeit von unserem Staat vollbrachte bewundernswerte Taten, die durch die lange Zeit und den Tod der Menschen in Vergessenheit geraten wären; eine aber sei von allen die größte, deren Andenken will ich jetzt erneuern ... die Geschichte der größten und mit vollem Recht berühmtesten Tat unter allen, die unsere Stadt [Athen] vollbracht hat ...

 

 

Kritias soll diese Geschichte von dem ägyptischen Priester Solon erhalten haben der ihm erzählte: 

 

Einst, vor der großen Zerstörung durch Wasser, war der Staat, der jetzt der athenische heißt, der kriegstüchtigste und besaß eine in jeder Hinsicht vorzügliche Verfassung; ihm werden die herrlichsten Taten und besten Staatseinrichtungen von allen uns bekannten unter der Sonne zugeschrieben ... Von ihrer Verfassung kannst du dir eine Vorstellung nach der hiesigen machen. Denn du kannst viele Proben eurer damaligen Einrichtungen in unsern jetzigen wiederfinden: eine von allen anderen gesonderte Priesterkaste, dann die Kaste der Handwerker, deren einzelne Klassen für sich und nicht mit den anderen arbeiteten, und die Hirten, Jäger und Bauern; endlich wird dir nicht entgangen sein, daß die Kriegerkaste hierzulande von allen andern getrennt ist und daß nach dem Gesetze ihre einzige Tätigkeit in der Sorge für das Kriegswesen besteht ... Unter allen Großtaten eures Staates, die wir bewundernd in unseren Schriften lesen, ragt aber eine durch Größe und Heldenmut hervor: unsere Schriften berichten von der gewaltigen Kriegsmacht, die einst durch euren Staat ein Ende fand, als sie voll Übermut gegen ganz Europa und Asien vom Atlantischen Meere her zu Felde zog. Denn damals konnte man das Meer dort noch befahren, es lag nämlich vor der Mündung, die bei euch ‘Säulen des Herakles’ heißt, eine Insel, größer als Asien und Libyen zusammen, und von ihr konnte man damals noch nach den anderen Inseln hinüberfahren und von den Inseln auf das ganze gegenüberliegende Festland, das jenes in Wahrheit so heißende Meer umschließt ... Auf dieser Insel Atlantis bestand ein große und bewundernswerte Königsgewalt, die der ganzen Insel, aber auch vielen andern Inseln und Teilen des Festlandes gebot; außerdem reichte ihre Macht über Libyen bis nach Ägypten und in Europa bis nach Tyrrhenien. Diese Reich machte einmal den Versuch, mit geeinter Heeresmacht unser und euer Land, überhaupt das ganze Gebiet innerhalb der Mündung mit einem Schlag zu unterwerfen. Da zeigte sich nun die Macht eures Staates in ihrer ganzen Herrlichkeit und Stärke vor allen Menschen: allen anderen an Heldenmut und Kriegslist voraus, führte er zuerst die Hellenen, sah sich aber später durch den Abfall der andern genötigt, auf die eigene Kraft zu bauen, und trotz der äußeren Gefahr überwand er schließlich den herandrängenden Feind und errichtete Siegeszeichen; so verhinderte er die Unterwerfung der noch nicht Geknechteten und ward zum edlen Befreier an uns innerhalb der Tore des Herakles. Später entstanden gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen, und im Verlauf eines schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht versank euer ganzes streitbares Geschlecht scharenweise unter die Erde, und ebenso verschwand die Insel Atlantis im Meer. Darum kann man auch das Meer dort jetzt nicht mehr befahren und durchforschen, weil hochaufgehäufte Massen von Schlamm, die durch den Untergang der Insel entstanden sind, es unmöglich machen. 

 

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