Ein Propagandatext, der keinen Zweifel daran läßt, warum er geschrieben wurde: um die jungen Hellenen an ihre glorreiche Vergangenheit zu erinnern und sie zu ermuntern diese fortzuführen. Auch Aristoteles, ein Schüler Platons sprach immer nur von der Fiktion Atlantis - ein Traumbild, eine Wunschvorstellung, eine Warnung vor dem Untergang der hellenischen Zivilisation aufgemacht an der Geschichte eines erfundenen Untergangs eines ganzen Kontinents. 

 

Und doch gibt es so viele Menschen die dieses einfache Tatsache nicht akzeptieren können - für sie hat Atlantis nur dann einen Wert, wenn es geschichtlich existiert hat, wenn es tatsächlich in einer riesigen Katastrophe vernichtet wurde. Warum? Das scheint mir die spannendste Frage am ganzen Atlantis-Mythos zu sein: Warum übt er eine solche Faszination auf die Menschheit aus, warum scheint das Glück, die Hoffnung und der Glaube an den Sinn des Daseins vieler Menschen davon abhängig zu sein, daß vor tausenden Jahren ein hochzivilisiertes und kultiviertes Volk vernichtet wurde?

 

Warum sehnen sich die Menschen nach der Vernichtung von Kultur, Luxus und materiellem Wohlergehen? Kann es denn sein, daß der Glaube an den tatsächlichen Untergang von Atlantis der schadenfrohen Lust von Menschen entspringt, die sich in irgendeiner Form als Verlierer eines Systems fühlen, das auf Wissenschaft, Kunst und Kultur, das auf Reichtum aufgebaut ist? Sollte die Antwort auf diese Frage JA lauten, ist es ein hochaktueller Mythos, der wohl nicht ganz zufällig heute wieder, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert so populär geworden ist. Wieder sehen wir uns einer großen Anzahl von Leuten gegenüber, die fast mit einer teuflischen Freude auf den angeblich kommenden Weltuntergang warten. Alle Bösen sollen vernichtet werden, wobei diese Menschen sich selbst natürlich zu den Guten, zu den Überlebenden der Vernichtung zählen. Mit leichtem Entsetzen denke ich dabei an einen Artikel, den ich kurz vor dem 11. August dieses Jahres - man erinnere sich: der Tag der Sonnenfinsternis - gelesen habe. Der Autor behauptete, daß uns an diesem Tag entsetzliche Dinge bevorstehen würden, die das ‘Große Gericht’ einleiten sollen und verstieg sich sogar zu der Aussage: Endlich wird dieser geschundene Planet von der verderbten Menschheit gereinigt. Es ist ein Grund zum Jubel und zur Heiterkeit und jeder der sich nicht auf diesen Augenblick der totalen Vernichtung freut, zeigt damit schon, daß er ein schlechter, ja sogar ein geistig kranker Mensch ist. 

 

Was soll man dazu sagen? Wer ist hier krank - ist man versucht zu fragen. Traurig nur, daß sehr viele Menschen so denken, daß zur Zeit in vielen Städten dieser Welt Menschen sitzen und sich voll Freude auf das in ein paar Wochen stattfinden sollende Weltgericht vorbereiten. Sie wünschen die Vernichtung der Bösen, der aggressiven und gewalttätigen Menschen herbei. Sehen sie wirklich nicht, wie aggressiv und gewalttätig sie selbst sind? Was haben sie schon anderes getan als mit einem bemerkenswerten psychologischen Trick alle Schuld von sich auf das Göttliche zu übertragen: denn nicht sie sind es ja, die am Tage X Milliarden Menschen auf das Grausamste ermorden werden - nein, das sind nicht sie, sie wären dazu gar nicht fähig, da sie nur mehr für das Gute und Pazifistische leben - nein, Gott selbst wird diese blutig Arbeit für sie erledigen. Und sie können weiter Hosiannah singen und sich der Illusion hingeben zu den Auserwählten, zu den der Errettung würdigen zu gehören.

 

Ich bin sehr froh, daß dieser Weltuntergang nicht kommen wird - nicht nur für mich und die Meinen; auch für diese Menschen selbst, die ihn so sehr herbeisehnen. Es könnte sonst sein, daß sie in den letzten Sekunden ihres Lebens voll Schrecken feststellen müßten, daß sie zu den ersten Opfern des göttlichen Vergeltungsschlages gezählt hätten. 

 

Was das alles mit dem Mythos um Atlantis zu tun hat? Die Freude am Untergang - hier wie dort. Die Freude an der Zerstörung von Wissen, von Kunst und Kultur, die Freude am Untergang der Zivilisation und die seltsame Hoffnung auf ein ‘freies’ Leben in unberührter Natur. In mir keimt der stille aber immer lauter werdende Verdacht, daß solche Menschen noch nie sehr lange in wirklich unberührter Natur leben mußten. Wenn sie es einmal tun würden, bemerkten sie vielleicht, daß nicht nur der Mensch aggressiv ist, sondern daß diese so verurteilte Aggressivität ein Grundstoff der Natur ist, das wichtigste Mittel um auf diesem Planeten zu überleben. Die Natur ist nicht nur freundlich, idyllisch und nett - sie kann denen gegenüber, die ihre grausame Seite nicht zu würdigen wissen sehr schnell sehr brutal werden; und wenn man das einmal erlebt hat, weiß man wieder, warum der Mensch sich um Wissenschaft und Kultur bemüht - es lebt sich einfach besser damit.

 

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