Gottesferne
Jassu schrieb am 9. Januar 2003 um 23:38 Uhr (648x gelesen):
Liebe Gabi,
danke zunächst mal für Deine Antwort - und so kurz war sie doch auch gar nicht! :-)
Der ganze Begriff der Sünde (und somit auch alles, was damit zusammenhängt) basiert ja nun einmal auf der jüdisch/christlich/islamischen Vorstellung, daß Moral und Gewissen sowie alle Regeln menschlichen Zusammenlebens vom Schöpfer kommen, egal, ob wir ihn nun YHVH, Allah oder Gott nennen. Und gerade *das* ist es ja, was ich in Frage stelle. (Und das, ohne für mich selbst in Anspruch nehmen zu wollen, daß ausgerechnet *ich* die große Antwort auf alle Fragen gefunden hätte. Ganz im Gegenteil: Ich weiß, daß ich nichts weiß.)
Meiner Ansicht nach ist die Welt nicht schlecht, ebenso wenig wie der Mensch. Wir sind keine Bande unreiner, niederer Kreaturen, die Gottes erst würdig sind, wenn sie vom Blut des Lamms reingewaschen wurden. NATÜRLICH sind wir alle fehlerbehaftet, ohne Frage, und jeder von uns hat wohl auch eine dunkle Seite, aber es geht doch auch um ENTWICKLUNG, nicht um Perfektion. Ein perfektes Gebilde ist statisch, unveränderlich, tot. Der ganze Kreislauf von Geburt, Fortpflanzung und Tod ist doch nur eine wahnsinnig kreative Idee der Schöpfung, um uns Organische auch schon auf dieser Daseinsebene immer weiter zu entwickeln.
Und was Deine Theorie hinsichtlich der Verbreitung des Leidens in nicht-christlichen Ländern angeht: Ich denke nicht, daß diese These sich auch nur ansatzweise bestätigen läßt. Japan blüht vor sich hin (von der großen Rezension mal abgesehen- aber wo ist die nicht?), Saudi-Arabien ist wesentlich luxuriöser als Deutschland, und überhaupt fallen mir nur wenige Länder ein, in denen WAHRE Christen, also wenigstens Nicht-Katholiken oder gar Freikirchler, in der Überzahl vertreten wären. Das meiste Elend in der dritten Welt rührt doch viel eher daher, daß wir unsere weißen, ach-so-christlichen Wohlstandshintern auf dem Leid dieser armen Länder ausruhen. Darauf BASIERT sogar ein großer Teil des Wohlstands der westlichen (christlichen?) Welt.
Und was die Sexualmoral der Bibel angeht: Wenn es einfach nur darum ginge, daß Treue eine Grundvoraussetzung ist, so wäre dem nichs hinzuzufügen. Aber das muß ich auch nicht erst in der Bibel nachlesen - auf die Idee kommt man wohl auch von allein, spätestens dann, wenn man einmal selbst erlebt hat, wie schmerzhaft Untreue sein kann. Für alle Beteiligten.
Aber dabei beläßt es die Bibel ja noch lange nicht: Allein schon die Verdammung gleichgeschlechtlicher Paare ist ja wohl der Oberhammer! Nenn mir nur EINEN triftigen Grund dafür, warum zwei Menschen die sich lieben dadurch Gott freveln sollten! Okay, ich persönlich ekele mich bei dem Gedanken, einen anderen Mann zu küssen, aber das ist nunmal Veranlagung! Es ist ja nicht so, als ob man sich das aussuchen könnte.
Und was ist mit Sex vor der Ehe? Klingt ja alles ganz romantisch, auf die Eine Große Liebe warten usw., aber das ist doch ziemlich am Leben vorbei. Das Körperliche gehört ebenso zu einer Beziehung wie das Seelische, beides ergänzt sich, und keins von beidem ist besser oder schlechter als das andere. Ich habe schon ein paarmal aufrichtige Liebe empfunden, und trotzdem war meine erste Beziehung nicht gleich die letzte. Das ändert nichts daran, daß sie RICHTIG war. Ich verehrte jede meiner bisherigen Freundinnen, und halte sie auch jetzt noch hoch in Ehren, wo wir schon lange getrennte Wege gehen. Sie alle haben auf ihre Weise Anteil daran, daß ich heute der Mensch bin, der ich bin.
Auch Beziehungen sind nicht für die Ewigkeit gemacht, ebenso wenig wie sonst etwas in dieser endlichen Existenz inmitten einer endlichen Welt. Und die Ehe - nun, so sehr ich die romantischen Konnotationen derartiger Treueschwüre liebe, so bin ich mir doch bewußt, daß auch diese Institution auf gesellschaftliche Notwendigkeiten zurückzuführen ist, und bis in die jüngste Vergangenheit hinein eher etwas mit Erbrecht und Politik denn mit Liebe zu tun hatte. Auch dies ist nicht gottgegeben, sondern von Menschen ersonnen.
Ich möchte Dir damit keinesfalls das Gefühl geben, daß ich sowieso von vornherein alles ablehne, was Du ins Feld führst. Ich bewundere den historischen Jesus, und sicherlich wäre die Welt ein besserer Ort, wenn wir alle leben würden wie er. Gleichzeitig meine ich allerdings, daß wir uns immer wieder über unsere Werte klarwerden sollten, anstatt uns an jahrtausendealte Verhaltensvorschriften zu klammern, die jedweder rationalen Grundlage entbehren.

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