Leben, bis wir Abschied nehmen
myrrhe schrieb am 4. Februar 2005 um 16:38 Uhr (616x gelesen):
Liebe Albine,
wer bestimmt, was Leid ist, wie Leid erfahren wird?
Meine Schwiegermutter lag zweieinhalb Jahre im Wachkoma, nach einem Herzinfarkt und Reanimation. Nach erster Behandlung im Spital, angeschlossen an die Beatmungsmaschine, beschlossen die Ärzte, die Maschine abzuschalten, weil es ja nichts mehr werden würde mit ihr. Die Familie wurde ins Spital gerufen, und wir erlebten meine Schwiegermutter, nach Luft ringend. "Es dauert nicht mehr lange", so der diensthabende Arzt. Mein Schwiegervater fuhr heim, rief den Primarius an ... und kurz darauf wurde sie wieder angehängt. Nach kurzer Zeit und langsamer Entwöhnung konnte sie wieder selbständig atmen ... Es wäre Mord gewesen!
Sie lebte insgesamt 2 1/2 Jahre, ohne Beatmungsmaschine ... es war eine schwierige Zeit. Aber sie wurde daheim gepflegt, und auch wenn sie nur mit den Augen reagieren konnte, weiß ich, daß es eine gute und wichtige Episode für sie war.
Sie ging in Frieden.
Wer will bestimmen, was "lebenswert" heißt? welcher Außenstehende (Arzt, Familie) will das bestimmen? wenn der Körper noch lebensfähig ist? die Ärzte: klar, die sagen "es ist das Beste für sie/ihn" - und sie sagen es aus purem Egoismus, aus ihrer eigenen Angst heraus. Sie wissen nichts ... für sie ist ein Appalliker ein "Scheintoter", ein nicht lebenswertes Leben. Welche Farce!!! Angehörige wollen Qualen nicht sehen, auch Egoismus. Statt gute Palliativmedizin und viel Liebe zu geben ...
Eine Seele sucht sich auch ihr Leiden aus ... welcher Außenstehende hat das Recht, Leben zu beenden? kann er es erschaffen? warum nimmt er es dann?
Klar, im Fall eines Todes bin ich auch nicht dafür, mit Herz-Lungenmaschine Leben mit Gewalt aufrecht zu halten. Wenn jemand gar nicht mehr selbständig atmen kann und keine Hirnfunktionen mehr hat, ist er ja tot. Aber wenn der Körper noch reagiert, wie bei meiner Schwiegermutter (die noch dazu binnen kurzem wieder selbst atmen konnte), ist die Situation eine andere.
> Können wir den anderen einfach loslassen, sollten wir nicht sein Leben so lange es geht erhalten?
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nicht mit künstlicher Gewalt. Aber wenn der Körper noch selbst lebt oder diese Anzeichen hat: dann ja.
> Und aus anderer Sicht erscheint das Nachdenken über diese "Entscheidungen" so qualvoll...
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weil es die Gedanken um das eigene mögliche Leiden und der eigene Tod sind! DORT sollte der Selbstarbeitsprozeß beginnen ...
> Als damals mein Uropa einfach einschlief, ohne Scmerzen, freute ich mich für ihn - denn er musste nicht leiden.
> Das hat keiner verdient.
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Wie ich schrieb: wirklich körperlich LEIDEN müßte heute niemand mehr, würde gut palliativ gearbeitet. Und psychisches Leiden kann durch Liebe, Wärme, Annehmen der Person auch am Ende des Lebens sooo viel Positives getan werden! Menschen, die sterben wollten und ins Hospiz kamen, wollten dort wieder leben! weil sie Liebe und Anerkennung bekamen! weil sich andere um sie kümmerten!
"Leben, bis wir Abschied nehmen": dieses Credo von Elisabeth Kübler-Ross sollten wir beherzigen: Sterbenskranke in unserer Mitte aufnehmen, sie als vollwertige Menschen betrachten, ihnen die Angst nehmen, sie ermutigen, ihr Leben in Frieden abzuschließen ... und auch: die eigene Angst bearbeiten.
Alles Liebe,
myrrhe

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